Matthäus 28:16-20

Matthäus 28:16-20

„Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa
auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte.
Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten.
Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im
Himmel und auf Erden.
Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie
auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes
und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich
bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Liebe Gemeinde,

ich versuche mir vorzustellen, was in den Jüngern vorging, als
sie unterwegs waren. Richtung Norden zogen sie, nach Galiläa. Dort
hatte alles angefangen, und dort sollten sie Jesus wiedersehen, war ihnen
gesagt worden. Auf einem Berg.

Natürlich auf einem Berg. Berge waren seit jeher die Stätten
besonderer Begegnung mit Gott. Auf dem Sinai hatte Moses die 10 Gebote
empfangen. Auf einem Berg am See Genezareth hatte Jesus seine bedeutendste
Predigt gehalten. Und es war auch auf einem Berg gewesen, wo Petrus,
Jakobus und Johannes in einer Vision die Herrlichkeit Jesu erlebten.

Jetzt sind die Jünger auf dem Weg. Jerusalem liegt hinter ihnen
und damit auch die Zeit, während der sie abgetaucht waren, voller
Angst und Trauer. So vieles liegt hinter ihnen: fast jeder Ortsname ruft
Erinnerungen wach, Erinnerungen an Erlebnisse und Begegnungen aus der
Zeit, in der sie ihren Freund und Lehrer begleiteten, als er heilend,
tröstend, helfend von Dorf zu Dorf zog.

Aber nun ist er nicht mehr bei ihnen, und die Erinnerungen schmerzen.
Und dazu kommt die immer wiederkehrende, quälende Frage: Haben wir
ihn im Stich gelassen? Hätte ich denn irgendetwas tun können,
ihn zu retten?

Sie sprechen kaum ein Wort miteinander. Schuldgefühle sind etwas,
worüber niemand gern redet. Glauben sie wirklich, Jesus wiederzusehen?
Sie hoffen es, es ist wie ein Strohhalm, an den sie sich klammern: haben
sie nicht miterlebt, wie er auch andere ganz unglaubliche Dinge vollbracht
hat?

Doch sie fürchten sich auch davor. Hatte er ihnen nicht gesagt: “Wer
nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht
wert”? Sind sie es noch wert, nach allem, was geschehen ist, Jesus
unter die Augen zu treten? Oder suchen sie im Stillen vielleicht nach
Entschuldigungen, nach Rechtfertigungen dafür, dass sie geflohen
sind, um ihre Haut zu retten?

Der Berg, den sie ersteigen sollen, liegt jetzt vor ihnen, und das gibt
uns, liebe Gemeinde, etwas Zeit, um in die Gegenwart zurückzukehren.
Denn das Gefühl, einem anderen Menschen etwas schuldig geblieben
zu sein, kennen auch wir nur zu gut. Wo ich spüre, jemand hätte
sich über meinen Besuch gefreut, aber ich habe ihn immer wieder
aufgeschoben und hinausgezögert. Wo ich ein Gespräch beendet
habe und gegangen bin, obwohl ich ahnte, dass der andere noch etwas auf
dem Herzen hat.

Und wenn es sich dann ergibt, dass eine neue Begegnung unvermeidlich
wird, dann sehe ich diesem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegen:
wird der Andere mich spüren lassen, wie enttäuscht er von mir
ist? Werde ich Vorwürfe zu hören bekommen? Wird das, was ich
in der Vergangenheit zu tun oder zu sagen versäumte, unsere Gegenwart überschatten?

Wir können ja unsere Vergangenheit nicht einfach abstreifen. Sie
prägt unsere Gegenwart und damit auch die Zukunft. Was in den hinter
uns liegenden Jahren, Wochen, Stunden mit mir und durch mich geschah,
das sind die Fäden, aus denen der Stoff meines Lebens gewebt ist.
Was ich heute bin, das bin ich auf Grund dessen, was ich gestern und
vorgestern und in allen Jahren davor getan habe.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Vergangenheit der Vergangenheit ähnlich
ist, die die elf Jünger mit sich zu schleppen haben. Schuldgefühle
und Selbstzweifel, die in mir nagen, und die Stimme des Gewissens, die
mich erinnert, wo ich mich schuldig gemacht habe, wo ich gescheitert
bin.

Es ist mir doch nicht möglich, heute ein anderer Mensch zu sein
als der, der ich gestern war! Ich kann mich ein wenig ändern, der
gute Wille ist ja auch vorhanden. Aber ich kann mein bisheriges Leben
nicht außer Kraft setzen und morgen auf einem unbeschriebenen Blatt
völlig neu anfangen.

Das sind wohl auch die Gedanken, mit denen die Jünger jetzt auf
der Spitze des Berges ankommen. Sie sehen Jesus, erkennen, dass er es
ist, und die meisten können gar nicht anders, als vor ihm niederzufallen. “Einige
aber zweifelten”, steht im Bibeltext, das will heißen: sie
waren unsicher, wie sie sich in dieser Situation verhalten sollten.

Und dann geschieht das ganz Unerwartete: kein Wort des Vorwurfs kommt
von Jesus, kein Ausdruck der Enttäuschung, sondern ein Auftrag: “Geht
hin und macht zu Jüngern alle Völker: Tauft sie auf den Namen
des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes
und lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe.”

Es ist beinahe unglaublich. Denselben Jüngern, die ihn vor kurzem
noch im Stich gelassen haben, traut er zu, sein Werk fortzusetzen. Sie,
die gestern aus Angst geleugnet haben, ihn zu kennen, sollen heute und
in Zukunft seine Wahrheit in alle Welt tragen.

Woher kommt dieses Vertrauen? Warum macht Jesus diese alles andere als
ruhmreiche Schar zu seinen Botschaftern? – Die Antwort gibt er
gleich im ersten Satz: “Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und
auf Erden.” Das bedeutet: Ich habe die Vollmacht, euch als meine
Zeugen, meine Botschafter zu wählen. Ich kenne eure Schwächen
und Fehler wie kein anderer, doch wie kein anderer kenne ich auch die
Möglichkeiten, die in euch stecken. Darum: Geht hin und macht zu
Jüngern alle Völker!

Und damit sind nicht nur die Jünger damals auf dem Berg angesprochen,
sondern die gesamte Gemeinde, die Menschen überhaupt. Dies Wort
gilt auch mir. Und es sagt mir dasselbe wie den Jüngern: Ich, Gott,
habe etwas mit dir vor. Ich weiß, dass du kein mustergültiger
Mensch bist. Aber für mich bist du ein nicht ersetzbarer, ein einmaliger
Mensch, den ich zum Partner möchte.

Fürchte dich nicht! Ich kenne jeden Winkel deines Herzens, und
ich sehe, wie du ab und zu dir selbst und anderen das Leben schwer machst.
Aber mein Ja zu dir, meine Liebeserklärung an dich hat größere
Kraft als deine Schattenseiten.

Wir haben einen schönen, alten Ausdruck für diese Liebeserklärung
Gottes: das Wort Gnade. Gnade, das heißt mehr als bloß “ein
Auge zudrücken”: meine unschönen Züge kehrt Gott
nicht einfach unter den Teppich. Aber er sammelt sie auch nicht in einem “Sündenregister”,
das immer länger, immer schwerer auf mein Gewissen drückt.
Gnade heißt: ich sehe, wo du Fehler gemacht hast, wo du anderen
und dir selbst etwas schuldig geblieben bist – aber das soll dich
nicht er belasten und hindern, es neu und besser zu versuchen.

“Geht hin und führt mein Werk weiter” – der Auftrag
Jesu eröffnet seinen Jüngern eine neue Sicht auf ihre Gegenwart
und Zukunft. Die lähmende Last der Schuldgefühle und Selbstvorwürfe
ist von ihnen genommen. Die Hypothek, versagt zu haben, ist getilgt.
Ein neuer Horizont ist eröffnet. So muss der Psalmdichter des Alten
Testaments gefühlt haben, als er sang: “Du stellst meine Füße
auf weiten Raum.”

Jesus sagt es mit anderen Worten. Sein Auftrag schließt mit der
Verheißung: “Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der
Welt Ende.” Er sieht voraus, er weiß, dass wieder Momente
kommen werden, in denen seine Nachfolger sich mutlos fühlen werden,
resigniert, enttäuscht über sich selbst und die Welt. Auch
dann, sagt er, seid ihr nicht allein und auf euch selbst gestellt; ich
bleibe an eurer Seite, jeden Tag eures Lebens.

“Geht hin und führt mein Werk weiter.” Der Satz gilt
noch immer. Heute stehen wir an der Stelle der Jünger Jesu. – Aber
sieht mein Alltag danach aus? Ich fühle doch auch die anderen Kräfte,
denen mein Dasein ausgesetzt ist. Auf so vieles habe ich gar keinen Einfluss,
und manchmal habe ich gar den Eindruck, Spielball eines unberechenbaren
Schicksals zu sein.

Und ich merke doch auch immer wieder, wie schwer es mir fällt,
mit meinen Mitmenschen so liebevoll umzugehen, wie es Gott von mir erwartet.
Wo mir der gute Wille fehlt, oder wo ich trotz aller Mühe, die ich
mir gebe, auf Unverständnis oder Ablehnung stoße. Wo ich ganz
und gar nicht den Eindruck habe, “auf weitem Raum” zu stehen,
sondern mich im Gegenteil eingeengt und in meinen Mitteln beschränkt
fühle.

Dann ist es um so wichtiger, mir die beiden Sätze Jesu ins Gedächtnis
zu rufen, mit denen er seinen Auftrag einrahmt: “Mir ist gegeben
alle Gewalt im Himmel und auf Erden.” Und: “Siehe, ich bin
bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”

Es liegt nicht alles Wohl und Wehe der Welt allein auf meinen Schultern.
Auch in meiner Gegenwart und Zukunft wird es so sein, dass ich Leid erlebe
und anderen Menschen Leid zufüge. Aber es wird auch so sein, dass
von mir Funken von Liebe, Verständnis und Entgegenkommen ausgehen
können. Die Welt um uns wird weiter eine Welt sein, in der Recht
und Freiheit seltene Güter sind, und wir können uns glücklich
schätzen, wenn es uns da und dort gelingt, sie durchzusetzen.

Wir und die Menschen, mit denen wir zu tun haben, bleiben ziemlich unvollkommene
Geschöpfe, die zwar im Grunde ihres Herzens wissen, was recht und
gut ist, aber immer wieder ihre Schwierigkeiten haben, dieses Wissen
durch Taten auszudrücken. Aber die Gnade Gottes weicht nicht von
uns.

Und deshalb bleiben uns alle Möglichkeiten, Gottes Auftrag zu erfüllen.
Der kretische Dichter Nikos Kazantzakis hat dafür die folgenden
Verse gefunden:

Kann denn der Mensch
über sich hinauswachsen?
Er kann.
Freilich nur für eine Stunde,
vielleicht auch für einen ganzen Tag.
Aber das genügt bereits.
Denn das bedeutet Ewigkeit.
Das ist ein Brandopfer
für Gott.

Amen.

Peter Kusenberg, Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-mail: pekusenb@aol.com

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