Matthäus 9, 9-13

Matthäus 9, 9-13

Septuagesimä, 4. Februar 2007
Predigt zu Matthäus 9, 9-13, verfaßt von Stefan Knobloch


„Was auch uns schwer fällt“

Eine der bekannten Szenen. Bekannt, weil sie auffällig genug war. Da beruft Jesus gewissermaßen den Chef des Zollamtes von Kafarnaum mir nichts dir nichts in seine Nachfolge. Was war daran so auffällig? Auffällig war, wie sich Jesus über geltende Verhaltenscodices hinwegsetzte. Er, der – das spürten die Menschen – mit dem Anspruch auftrat, ihnen mitten in ihrem Leben auf ganz neue und ungewohnte Weise den Weg zu Gott zu eröffnen. Zöllner hatten in der damaligen Gesellschaft einen denkbar schlechten Ruf. Selbst das Neue Testament nennt sie immer wieder in einem Atemzug mit Sündern, als bestätige es damit die abfällige Einschätzung dieser Personengruppe, obwohl Jesus alles daran lag, diese Einschätzung zu durchbrechen.

Der schlechte Ruf
Zöllner galten damals – wir haben es sicher schon öfter gehört – als notorische Sünder, die aufgrund ihres Berufes als kultisch unrein galten. „Kultische Unreinheit“: Für uns ist das sicherlich ein schwer zugänglicher Begriff. Wir dürften bei Unreinheit in aller Regel an moralische Defizite und Mängel eines Menschen denken und dann aus ihnen so etwas folgern wie kultische Unreinheit. Der Sachverhalt aber ist ein anderer. Die kultische Unreinheit hat wenig mit moralischen Mängeln zu tun. Sie resultiert aus äußeren Sachverhalten, nicht aus dem Versagen des Herzens. Sie ist die – sozial gesehen – weit belastendere Form der Unreinheit, weil sie den zumindest zeitweisen Ausschluss von gemeinsamen religiösen Akten nach sich zog. Im Falle der Zöllner ging das so weit, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Angehörigen, Haus, Frau und Kinder als unrein galten. Damit hatten sie nach allgemeiner Meinung vor Gott ausgesprochen schlechte Karten. Sie galten wie Heiden – und das war im damaligen Israel ein vernichtendes Urteil über einen Menschen. Sie waren der Abschaum der Gesellschaft.

Zu dieser Sorte Mensch zählte Matthäus. Von den anderen in Kafarnaum also chancenlos schlecht beleumundet. Das wurde nicht nur von außen an ihn herangetragen, diese Einschätzung hatte er und seine Familie längst auch innerlich übernommen und für sich verinnerlicht. Kein guter Zustand. Ja, ein kranker Zustand.

Vor Gott zählt jeder Mensch
Und diesen Menschen beruft Jesus. Seine Berufung war dabei wohl nicht einem spontanen Einfall Jesu zu verdanken, gewissermaßen so aus der Hüfte heraus. Jesus kannte die Gesellschafts- und Lebensverhältnisse in „seiner Stadt“ (Mt 9,1) Kafarnaum, ihre sozialen Denkmuster. Umgekehrt war wohl auch sein Name und sein Auftreten, die befreiende Art, in der er vom Menschen und von Gott sprach, bei den Menschen dort angekommen. Sie müssen von ihm wie elektrisiert gewesen sein. Was besonders auf jene – wie Matthäus – zutraf, die im Namen Gottes als gesellschaftlich abgeschrieben galten. In der Situation wird Matthäus von Jesus angeschaut, er als Person, und nicht in seiner gesellschaftlichen Rolle als Zöllner. Jesus mutet ihm eine Aufforderung zu, die ihm wie eine Befreiung, wie eine Erfüllung seines Lebens vorgekommen sein muss.

Er folgte Jesus. Und er lädt ihn zu sich in sein Haus ein. Vermögend und wohlsituiert, wie er wohl war, war er unter seinesgleichen – unter Zöllnern und Sündern – anerkannt und geschätzt. So muss es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen haben, was ihm widerfahren war. Sie wollten an seinem Glück teil haben, weil sie darin auch eine Anerkennung ihres eigenen sozial geächteten Lebens erblickten. So ist Jesus im Haus des Matthäus alsbald von einer Schar von Zöllnern und Sündern, von gesellschaftlichen Outcasts – wie wir heute sagen würden – umgeben. Als hätte er es darauf angelegt! Den Leuten sollte aufgehen, dass es vor Gott keine abgeschriebenen Lebensläufe und Biographien gab. Und mochten sie noch so verquert und auch schuldhaft belastet verlaufen. Keiner ist chancenlos, keiner ungeliebt, keiner abgeschrieben.

Die Probleme, die wir damit haben
Die Pharisäer, die Jesus offensichtlich interessant fanden als jemanden, den man im Auge behalten müsse und über den sie noch kein abschließendes – und vor allem noch kein abschließend negatives – Urteil gefällt hatten, stolperten heftig über ihn. Das mit Matthäus ging in ihren Augen zu weit. Sie stellen ihn über seine Jünger zur Rede. Wir kennen Jesu Antwort, die gewissermaßen in unseren Sprachschatz eingegangen ist: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Wenn wir heute diesen Satz hören, hören wir ihn wahrscheinlich vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Gesundheitsreform. Wir hören ihn in unserer Sorge, dass sich das Gesundheitswesen für den „Mann auf der Straße“ verschlechtere und verteuere. Dass alles auf eine Zwei-Klassen-Medizin hinauslaufe, die zu Lasten der kleinen Leute gehe. Offensichtlich ist hier nicht mehr alles im Lot. Und das liegt wohl nicht nur daran, dass das komplexe Thema der Gesundheitsreform von der Regierung dem Wahlvolk unzureichend erklärt wird. So sehr also Jesu Satz von den Gesunden und Kranken von uns vor dem Hintergrund der heutigen Diskussion gehört werden dürfte, geht seine Bedeutung doch weit darüber hinaus. Und dieses Darüber-Hinaus darf uns nicht entgehen. Jesus spricht nämlich einen Zusammenhang an, der auf Defizite und Mängel auch unserer heutigen Gesellschaft verweist, vor denen wir nicht die Augen verschließen dürfen.

Dabei ist es freilich so, dass wir hier nicht sofort moralische Appelle an uns vernehmen sollten, was alles schlecht laufe und was – wenn die Gesellschaft sich nur mehr anstrengte – besser laufen könnte. Es wäre generell eine kurzschlüssige Reaktion auf Jesus und seine Botschaft, würden wir sie gewissermaßen auf moralische Appelle reduzieren. Im Erheben moralischer Appelle sind wir ja Meister. In ihrem Verdrängen offenbar auch. Jesus trat nicht als Lehrmeister mit erhobenem Zeigefinger auf. Er setzte andere Zeichen. Zum Beispiel in der Berufung des Matthäus. Sie besagt – salopp formuliert: „Mir ist jeder recht. Vor Gott, meinem Vater, ist jeder gerecht.“ So sieht er unsere menschliche Situation. So definiert er sie. Und so ist sie in der Tat.

Eine verändernde Wirklichkeitsdeutung
Diese Wirklichkeitsdeutung Jesu, die nicht nur eine behauptende, sondern eine Wirklichkeit setzende Deutung ist, ist in der Tat voller Dynamik. Diese Dynamik will uns in Gang bringen. Nicht allerdings in der Art der Pharisäer, so dass wir unsere alten Vorurteile und Abgrenzungen gegenüber anderen weiter kultivierten, und alles bleibe beim alten. Wir wären dann im Unterschied zu Matthäus am Zoll gewissermaßen sitzen geblieben, hätten uns auf die Seite der Pharisäer geschlagen, wo nichts vorwärts geht. Die Dynamik, von der sich Matthäus erfasst sah und die auch uns in unserer Schwerfälligkeit erfassen will, weist in eine andere Richtung: In die Richtung Jesu, und das heißt, in die Richtung der Wertschätzung und Annahme der „Kranken“ – in einem weiten und offenen Sinn -, also derer auf der Schattenseite des Lebens, der Zu-kurz-gekommenen, der gesellschaftlich Benachteiligten, auch der in unseren Kirchengemeinden Ausgegrenzten.

Wir müssen hier konkret werden, wobei wir auf der Hut sein müssen, nur Worthülsen zu produzieren. Wir, die wir hier zu diesem Gottesdienst versammelt sind, sind nicht einfach die Besseren, die Gesunden, die sozusagen von oben herab auf die anderen blicken dürfen. Für uns diesen Schluss aus dem Wort Jesu zu ziehen, dass die Gesunden nicht des Arztes bedürfen, wäre ein gefährlicher Trugschluss. Denn auch wir sind beides, gesund und krank, bzw. – wie Martin Luther sagt – „simul justus et peccator“, zugleich gerecht und Sünder. Wir selbst stehen, Gott sei Dank, unter der Zusage Jesu, von Gott angenommen zu sein, ohne jede Vorleistung durch uns. In dieser Glaubensgewissheit sollten wir unser eigenes fragmentarisches Leben, die Unfälle und Untiefen unseres Lebens, die jeder von uns kennt, auf uns nehmen können. So im Glauben mit uns selbst, mit den Wegen unsers Lebens, versöhnt, sollen wir in derselben Haltung anderen Wert- und Hochschätzung entgegenbringen. Und zwar gerade den Menschen – gewissermaßen den „Zöllnern“ von heute -, denen gegenüber sofort unsere Vorurteile und Verurteilungen anspringen: Menschen, die zum Beispiel nach außen nichts mit Gott am Hut haben. Wer aber blickt schon in deren Inneres? In deren Leben, das in Schatten und Bildern schon längst mit Gott zu tun haben kann? Wert- und Hochschätzung auch gegenüber denen, die zum Beispiel ihre Sexualität als Homosexuelle oder Lesbierinnen leben. Wert- und Hochschätzung gegenüber denen – ein heikles Thema -, die als Langzeitarbeitslose mit ihren Familien mehr schlecht als recht von den Sozialleistungen des Staates leben. Warum kommt hier immer so schnell der Verdacht von „schwarze Schafen“ auf? Die gibt es freilich überall, auch ihnen gegenüber dürfen wir die Wert- und Hochschätzung nicht aufkündigen. Denn nur so können wir sie – um es so auszudrücken – wieder ins Boot holen.

Wir müssen hier abbrechen. „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“, nimmt Jesus ein Wort aus dem Propheten Hosea auf. Barmherzigkeit hat in unseren Ohren keinen guten Klang. Es ist irgendwie negativ besetzt. Säuerliche Barmherzigkeit mit Schmelz in der Stimme und ein frommer Augenaufschlag sind damit nicht gemeint. Sondern zupackende ermutigende Solidarität, die das Leben verändert. Und noch einmal: Nicht weil wir das könnten, wenn wir nur wollten! Sondern weil wir in Jesus unser Leben angenommen wissen, sollen wir diese Annahme auch an andere weitergeben. Daran zu glauben, das zu unserer Lebensdevise zu machen, fällt uns schwer. Schwerer, als an unsere eigene Gerechtigkeit zu glauben. Matthäus, der vom Zoll Weggerufene, hat uns viel zu sagen.


Prof. Dr. Stefan Knobloch, Mainz
dr.stefan.knobloch@t-online.de

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