Nun laßt uns gehn und treten mit Singen und mit Beten

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Nun laßt uns gehn und treten mit Singen und mit Beten

Sylvester, 31. Dezember 2002
Predigt über „Nun laßt uns gehn und treten mit Singen und mit Beten“ (EG 58), verfaßt von Reinhard Schmidt-Rost


Lied 64 Der du die Zeit in Händen hast
Lied: 7, 1 – 6 O Heiland, reiß die Himmel auf
Lied: 58, 1 – 7 Nun laßt uns gehn und treten (während der Predigt)
58, 8 – 15 (nach der Predigt)
Lied 65 Von guten Mächten

Liebe Gemeinde,

Dreißig Jahre hat der große Krieg im 17. Jahrhundert in Deutschland
gedauert, Die Verse von Friedrich Spee aus Köln, 1623 geschrieben,
kommentieren die Schrecken der ersten Jahre; Paul Gerhardt hat sie alle
miterlebt, alle dreißig Jahre, als der Krieg begann, war er 11 Jahre
alt, nun ist er 46, Paul Gerhardt im Jahre 1653, er wird sich sicher manchmal
gewundert haben, dass er das alles überlebt hat, was so vielen Menschen
das Leben kostete, Schlachten, Pest, Überfälle, Plünderung

Man ahnt allenfalls, was an schlimmen Erfahrungen hinter der schlichten
Aufforderung stecken mag, die sein Lied eröffnet:

Nun laßt uns gehn und treten,
mit Singen und mit Beten,
zum Herrn, der unserm Leben,
bis hierher Kraft gegeben.

Der Dichter ruft zur Sammlung, aber es sind leise Töne, kein Appell,
kein Aufruf, kein Marschbefehl: eine schlichte Bitte: Kommt mit, wir wollen
uns einen Moment besinnen, – und mehr ist es auch heute abend nicht: Kein
Feuerwerk, keine Festrede zur Jahreswende, einfach eine kleine Zeitreise
und ein paar Augenblicke der Besinnung auf Gottes Güte, die uns bisher
getragen hat, auch wo wir dachten, es ginge nicht mehr weiter:

Wir gehn dahin und wandern,
von einem Jahr zum andern
wir leben und gedeihen,
vom alten bis zum neuen

durch soviel Angst und Plagen,
durch Zittern und durch Zagen,
durch Krieg und große Schrecken,
die alle Welt bedecken.

Alles Klagen und Zagen über Wirtschaft und Gesellschaft heute müßte
verstummen, wenn die unter uns, die die sechs Jahre des großen Krieges
im 20. Jh. noch erlebt haben, berichten würden, – wie haben Sie sich
fünf Jahre nach dem Krieg 1950 gefühlt, was haben Sie in den
Jahren der Gewaltherrschaft erlebt damals, haben Sie es fassen können,
davon gekommen zu sein, – oder waren Sie noch zu jung, um das ganze Ausmaß
der Katastrophe und das Wunder Ihrer Errettung zu begreifen?

Würden Sie dem Dichter folgen können, wenn er schreibt:

„Denn wie von treuen Müttern
in schweren Ungewittern
die Kindlein hier auf Erden
mit Fleiß bewahret werden

also auch und nicht minder
lässt Gott ihm seine Kinder
wenn Not und Trübsal blitzen
in seinem Schoße sitzen. ??

Der Theologe Paul Gerhardt will hier keine Diskussion darüber anfangen,
was mit denen ist, die nicht davon gekommen sind, die in jenem schrecklichen
Krieg gestorben sind, die Gott schon mit starker Hand zum Vaterland geführt
hat, wie Friedrich Spee 30 Jahre zuvor gedichtet hatte, ob das auch Gottes
Kinder waren – oder eher nicht? Paul Gerhardt behandelt nicht die abstrakte
Frage, warum Gott nicht alle Menschen vor gegenseitigen Schrecklichkeiten
bewahrt hat, er hat keine Fragen mehr, – er kann nach diesen dreißig
Jahren nur feststellen: Ich habe mir mein Leben nicht selbst erhalten
können; es hätte schon längst vorbei sein können.

Ach Hüter unsres Lebens
fürwahr, es ist vergebens
mit unserm Tun und Machen,
wo nicht dein Augen wachen.

Wenn man sich einen Ausschnitt aus der Geschichte des evangelischen Pfarrerstandes
aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges vor Augen hält,
dann kann man diesen Seufzer der Erleichterung und der Bescheidung sehr
gut verstehen:
Paul Drews, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit,
S. 76f

„Die Pfarre war wohl auf jedem Dorf das erste Haus, das der Plünderung
anheim fiel, und was die Soldaten zurückließen, das nahmen
die eigenen Pfarrkinder. … Aus der Predigt eines deprimierten Pfarrers
zitiert der Autor: >Nicht weniger geschiehts, wenn die Kriegs-Bestie
mit ihrem räuberischen Plünderungsrachen hin- und wiedergrassiert:
da ists nicht genug, dass die Soldaten den Pfarrern Kisten und Kästen,
Thür und Thor einschlagen und alles, was in ihren Sack taugt, rauben,
sondern wo die hinweg, so schlagen sich erst die Pfarrkinder dem armen
Vater ins Haus, meinen, Pfaffengut sei raffen gut, und im trüben
sei gut fischen. Da wird alles fein rein und sauber, was der Soldat nicht
angesehen, aufgeräumt, damit nur bei Zeiten das Haus zum Wiedereinzug
gereinigt werde.< … was sich etwa ein Pfarrer erspart hatte, davon
blieb ihm da, wo der Krieg und das Kriegsvolk sich länger breit machten,
auch nicht ein roter Heller.“ Und Übergriffe gegen Personen
blieben nicht aus.

Kein Wunder, dass nach solchen Erlebnissen und der Einsicht in die Grenzen
menschlichen Tuns und Machens nun das Lob dessen folgt, dem man alles
Gute zuschreiben muß, wenn man solche Greueltaten von Menschen an
Menschen wider Erwarten doch überlebt hat.

Gelobt sei deine Treue,
die alle Morgen neue
Lob sei den starken Händen,
die alles Herzleid wenden.

Es ist eine ganz subjektive, ganz persönliche Aussage: Mein Leid
haben die starken Hände gewendet, nicht aller Menschen Leid, auch
nicht das Leid der Familien, die sich am Sonntag zur Trauerfeier im Münster
versammelten, nicht das Leid der vielen Pflegebedürftigen, die auch
in dieser Stunde auf ein gnädiges Ende hoffen, oder noch an den letzten
Stunden und Tagen ihres Lebens hängen – und auch Paul Gerhardt formuliert
vorsichtig: Die Hände Gottes haben mein Leid nicht völlig verhindert,
sondern gewendet, verändert …

Lassen Sie uns dieser persönlichen Erfahrung nachsinnen und die
ersten Verse des Liedes singen: 58, 1 – 7

Erst auf diesem Untergrund und Hintergrund individueller Erfahrung folgen
nun die Bitten; sie umspannen das ganze Leben; wir wollen sie zum Abschluß
der Predigt als Fürbitten-Gebet singen, und jetzt nur die zusammenfassende
und wichtigste lesen:

Und endlich, was das Meiste,
füll uns mit Deinem Geiste,
der uns hier herrlich ziere
und dort zum Himmel führe.

Das Wichtigste und Kunstvollste an dieser Aussage ist für mich immer
wieder, wie Gerhardt hier zusammenhält, was uns sonst oft auseinanderfällt:
Das gute Tun der Menschen und die Wirksamkeit Gottes: Sie sind kein Gegensatz,
schließen sich nicht gegenseitig aus; die Aktivität der Menschen
wird nicht von Gottes Allmacht gegängelt oder gar erstickt, sondern
Gottes Geist führt die Menschen zu einem sinnvollen, menschwürdigen
und Menschen dienenden Handeln. Wie Kraftnahrung oder ein Vitamintrunk
die Grundlage von großen Leistungen sein kann, so kann Gottes Geist
in den Menschen zu besonderen Leistungen und Diensten ermutigen, – muß
es aber nicht.

Was bewirkt Gottes Geist in uns und unter uns?

In jedem Fall: Nicht-Selbstverständliches – und gelegentlich Überraschendes,
Unerwartetes.
Dazu gehört schon die Gemeinschaft in dieser Kirche, dass Menschen,
die sich im Alltag im allgemeinen wenig begegnen, vielleicht mal zufällig
auf der Straße oder in den Gängen der Universität, dass
sie sich zusammenfinden und von dieser fremden Gemeinschaft für eine
Stunde eine Anregung oder eine Beruhigung, jedenfalls eine Stärkung
für ihren weiteren Lebensweg erhoffen, das bewirkt Gottes Geist durch
sein vertrauenerweckendes Wort. Auch und gerade wenn man nicht in allen
Einzelheiten des Alltags einer Meinung ist, so ist diese Gemeinschaft
im Geiste um so wichtiger.
Es ist eine Gemeinschaft von Suchenden, die nicht schon gefunden haben
müssen, sondern nach der Grundlage für ihr Leben suchen.

Aber auch außerhalb einer solche Gemeinde im Gottesdienst ist Gottes
Geist ein Geist der Gemeinschaft, der Menschen zusammenführt, der
Güte und Barmherzigkeit hervorlockt, wo Mißtrauen und Distanz
üblicherweise zu finden sind. Es ist Gottes Geist, wenn neuer Lebensmut
sichtbar wird, wenn Menschen sich neu ins Leben wagen, Vertrauen in das
Leben, wo Mutlosigkeit war …

Und es ist auch Gottes Geist, der die Hoffnung auf ein Miteinander aller
Menschen überhaupt hervorgebracht hat und wachhält, – dass wir
die Unterschiede aushalten, auf Einheit hoffen, obwohl wir wissen, dass
sie praktisch unmöglich ist, das ist nur im Geist Gottes möglich,
dafür gibt es keine soziale Gestalt und Einrichtung.

Liebe Gemeinde,
Jahresenden und Lebenswenden drängen zur Verdichtung, mancher will
sich einen Reim auf das bewegende Geschehen machen, will sich einprägen,
was geschehen ist, will unvergeßlich machen, was nicht mehr ungeschehen
zu machen ist, will nicht verdrängen, sondern erinnern.

Neujahrslieder aus schwerer Zeit halten sich im Gedächtnis der Menschen,
der Gemeinden und Kirchen und deshalb auch im Gesangbuch, auch die Lieder
von Jochen Klepper und Dietrich Bonhoeffer, die wir heute abend gleichfalls
und wie zum Vergleich singen, gehören dazu.

Ob unsere Zeit so schwer ist, dass man sie derart poetisch verdichten
könnte? Aus der Sicht unserer Gemeinde schiene mir das etwas hoch
gegriffen, aber im Blick auf die weite Welt, in der Christen von den Tagen
der Urkirche an sich immer weiter ausbreiten und im Geist Christi verbunden
sind, im Blick auf diese weltweite Gemeinschaft, an die wir durch die
technischen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts gebunden sind,
im Blick auf diese weite Welt kann es einem schon schwer ums Herz werden:

Die Hoffnung auf Frieden in Bagdad wie in Washington, in Jerusalem wie
in Angola, Zaire, Tibet, und an all den anderen Orten, wo Krieg droht
oder geführt wird … lässt die Bitte um Frieden in der Welt
dringender werden, um der vielen gequälten Menschen willen. Aber
was ich mir zusammengereimt habe, ist dann doch eher ein Kommentar als
ein Text für ein Lied:

Es ist der Streit um diese arme Erde
In frühen Tagen heftig schon entbrannt,
Zuerst die kainlich-kleinliche Beschwerde:
War es ein Streit um Anerkennung? um die Herde ?
ein Grund zum Meuchelmord von Bruderhand?

Und die in Babel damals in die Höhe strebten
Die sehnten sichtlich sich nach Sicherheit,
den Königsmantel ihrer Macht sie webten
die dort auf vieler Menschen Kosten lebten,
ihr Horizont trotz Turm war nicht sehr weit.

Zu schweigen ganz auch von des Königs Hause,
die Davidsstadt war nie ein Friedenshort
sie trafen sich zu manchem harten Strauße,
auch damals galt: dem Frieden keine Pause
so jagten Prinzen sich, und Kön’ge fort.

Auch heute geht es wie in alten Sagen,
das sich der Friedensfreunde Stirnen falten,
es sind die alten Stätten und die alten Klagen,
die Menschen keine neuen Herzen tragen,
die alten aber jeden Tag erkalten,
und wieder kommt’s „vom Haar- zum Schädelspalten“ (Eugen
Roth).

Drum bitten wir erneut – um Gottes Willen,
an Leid und Unglück niemand sich gewöhne!
laßt euch des alten Jahres Kummer stillen,
Herz und Gemüt mit neuer Hoffnung füllen,
dass Gottes guter Geist euch mit der Welt versöhne.

Solche Verse reichen allenfalls für eine kritische Ballade, ein
Volkslied wird nicht daraus … für ein Friedenslied reicht das noch
nicht, so wollen wir zu den Bitten Paul Gerhardts zurückkehren und
ihnen nachsinnen, wenn wir sie nun singen, …
und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, er bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN.

P. S. für die Leser der Göttinger Predigten im Internet: Auch der Austausch über die Aufgabe der Predigt über das Internet ist ein Vorgang, den ich mit der Wirkung des Geistes Gottes in Verbindung zu bringen geneigt.

Ich wünsche allen Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern, Leserinnen und Lesern ein gutes Neues Jahr 2003!

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn
R.Schmidt-Rost@web.de

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