„O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85)

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„O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85)

Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
„O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85),
Predigt für Karfreitag, 6. April 2007, verfasst von Christoph Dinkel


Lied: EG 85,1-4, O Haupt voll Blut und Wunden

Liebe Gemeinde!

Die Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“ stammt ursprünglich von einem Liebeslied. Es trug den Titel „Mein Gmüt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart“. Komponiert wurde die Melodie von Leo Haßler im Jahr 1601. Schon bald wurde die Melodie für ein geistliches Lied verwendet, das sich mit der Todesthematik beschäftigt. Sein Titel: „Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End“. Johann Crüger, Kantor der Berliner Nicolaikirche und Weggefährte Paul Gerhardts, hat die Melodie schließlich dessen Passionsgedicht unterlegt und Melodie und Text im Jahr 1656 in seinem Gesangbuch „Praxis pietatis melica“ in Berlin veröffentlicht.

Unserem Passionslied liegt also die Melodie eines Liebesliedes zu Grunde. Das erscheint uns Heutigen ein wenig kurios, fast ein wenig pietätlos sogar. Wie würden wir wohl reagieren, wenn jemand heute hier in der Kirche ein populäres Liebeslied von Madonna zum Karfreitag zum Besten gäbe? – Eben. Wir denken, das passt doch nicht. Aber andere Zeiten waren da liberaler als wir. Martin Luther hat hemmungslos populäre Tanzmelodien für seine reformatorischen Lieder verwendet. Die Musikmilieus damals waren noch nicht so strikt voneinander geschieden wie sie es heute sind.

Liebeslied und Passionslied, Liebe und Leiden, Liebe und religiöse Ergriffenheit – was uns heute so getrennt und verschieden erscheint, war es für die Menschen des Mittelalters und der Barockzeit keineswegs. Ihr Verhältnis zu Jesus war von inniger Hingabe und sinnlicher Leidenschaft geprägt. Bis heute werden in vielen Teilen der Welt Kruzifixe, Ikonen und Madonnenstatuen geküsst und liebkost. Dem aufgeklärt mitteleuropäischen Protestantismus erscheint das zwar eher merkwürdig, wenn nicht sogar abstoßend. Im globalen Vergleich repräsentieren wir damit aber nur eine Minderheit. Die große Mehrheit der Christenheit wird es für ganz normal und natürlich halten, dass ihr Verhältnis zu Jesus oder zu den Heiligen sinnlich-erotische Qualitäten hat.

Liebe und Passion – die enge Verbindung von beidem geht auf den mittelalterlichen Mystiker und Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux zurück, der von etwa 1090 bis 1153 lebte. Bernhard verbindet die Passionsbetrachtung mit der Brautmystik, er verknüpft die erotische Liebeslyrik des Hohenlieds Salomos mit der Meditation des Leidens Christi. Christus ist für Bernhard der Seelenbräutigam, der Geliebte der menschlichen Seele, die sich nach ihm verzehrt wie sich das liebende Mädchen in Salomos Hohelied nach ihrem Freund verzehrt. In der Tradition Bernhards stehend dichtete dann Arnulf von Löwen – er starb im Jahr 1250 – einen siebenteiligen Gedichtzyklus, der die unmittelbare Vorlage für Gerhardts Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ bildete. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hat man Arnulfs Gedichtzyklus übrigens für ein Werk Bernhards von Clairvaux‘ gehalten. Arnulfs lateinischer Zyklus trägt übersetzt den Titel „Rhythmisches Gebet an jedes einzelne Glied des leidenden und am Kreuze hängenden Christus“. Je ein Gedicht widmet sich den Füßen, den Knien, den Händen, der Seite, der Brust, dem Herzen und dem Angesicht des leidenden Gekreuzigten. Und jedes dieser Gedichte beginnt mit dem Wort „Salve!“ – „Sei gegrüßt!“

Gerhardt hält sich mit seinem Lied nach Thema, Aufbau und auch nach einzelnen Motiven sehr eng an seine Vorlage. Aber er wäre kein Großer, wenn er dies nicht mit seinem eigenen Stil und seiner besonderen Kunstfertigkeit täte. Das knappe „Salve caput“ der Vorlage dehnt er aufs Äußerste. Er kehrt nicht nur die Reihenfolge der beiden lateinischen Worte um, sondern spannt eine ganze Liedstrophe dazwischen: „Caput“ – „O Haupt“ steht am Anfang der Strophe und erst am Schluss der Strophe folgt der Gruß, das „Salve“ – „gegrüßet seist du mir“. Dazwischen steht eine Aufzählung des Entsetzens und des Staunens: Das Haupt des geliebten Bräutigams der menschlichen Seele, das sonst schön, ehrenvoll und geziert ist, ist nun voller Blut, Wunden, Schmerz und Hohn. Ein gewaltiger Kontrast wird aufgespannt, umklammert und in Parenthese gesetzt vom Gruß an das Haupt des Gekreuzigten: Salve caput.

Zwei Fragen drängen sich auf: Warum gerade eine Nachdichtung zu einer aus römisch-katholischer Tradition stammenden Vorlage durch den Erzprotestanten Paul Gerhardt? Und warum gerade eine Nachdichtung zum Haupt oder Angesicht des leidenden Christus? – Das zweite lässt sich leicht beantworten. Als Gerhardt sein Gedicht schrieb, war er Pfarrer in Mittenwalde. Am Altar der dortigen Kirche ist in der Mitte unten eine Darstellung des Schweißtuchs der Veronika zu finden, einer Reliquie, die bis heute von vielen Katholiken verehrt wird. Auf der Darstellung des Schweißtuches in Mittenwalde ist das Gesicht des gekreuzigten Christus abgebildet, das Haupt voll Blut und Wunden. Gerhardts Lied greift also ganz unmittelbar die lokalen Verhältnisse der Kirche auf, in der er predigte.

Dass Gerhardt dabei ohne Scheu an die mittelalterliche Reliquientradition anschließen konnte, verwundert dennoch. Das wird nur dann verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass sich die evangelische Kirche jener Zeit als die legitime Fortführung der mittelalterlichen Kirche verstand. Bernhard von Clairvaux, dem die Vorlage damals noch zugeschrieben wurde, galt nicht als römisch-katholischer Autor, er galt als der eigenen Tradition zugehörig, von der die römische Kirche sich dann später abgewendet hatte, was dann wiederum die Reformation der Kirche durch Luther nötig gemacht hatte. Gerhardt sah sich von Bernhardt von Clairvaux konfessionell also in keiner Weise geschieden. Deshalb konnte er ganz unmittelbar an seine Christusmystik anschließen. Und in der Folge davon wiederum steht „O Haupt voll Blut und Wunden“ seit langem und bis heute in katholischen Gesangbüchern. Denn das Lied ist aus katholischer Sicht ja nur eine gelungene deutsche Nachdichtung des Hymnus eines der Großen der katholischen Kirche. Nachdichtungen, das sei dazu noch bemerkt, waren ein gängiges Stilmittel der Zeit Gerhardts. In der Fürstenschule in Grimma, die Gerhardt besucht hatte, gehörte es zum Standardprogramm des Unterrichts, bedeutende klassische Vorlagen, oft auch lateinische, in eigenen Worten nachzuformen oder nachzudichten. Der Inhalt war damals wichtiger als die Originalität der Dichtung.

Wenden also auch wir uns dem Inhalt zu und verlassen damit zugleich die distanzierte Haltung, die wir bislang zu Gerhardts Lied eingenommen haben. Das Lied selbst und auch Bachs Matthäuspassion, die uns heute als musikalischer Kontext des Liedes dient, verlangen nach Aneignung, nach innerlicher Anteilnahme. Sie erklingen hier ja nicht im Konzertsaal, sondern in einer Kirche. Was also können wir uns von Gerhardts Lied, was können wir uns heute von der mittelalterlichen Christusmystik, die darin zum Ausdruck kommt, für uns aneignen?

Da ist zum einen das Erschrecken angesichts des Leidens des Gekreuzigten. In allen Details führt uns Gerhardt dieses Leiden vor Augen. Wir müssen uns ihm stellen, wir müssen genau hinsehen, die Todesblässe wahrnehmen, das Blut und die Wunden, die Spuren der Folter und der Demütigung, das schändlich zugerichtete Augenlicht. Das ganze Leiden der Welt wird darin erkennbar. Im Tod Christi spiegelt sich das Leiden der ganzen Kreatur, die Millionen Aidswaisen in Afrika, die ungezählten Bombenopfer im Irak, die verstümmelten Hände und Füße der Kinder, die in ein Minenfeld geraten sind, die erschlagenen und noch halb lebend gehäuteten Robbenbabies in Kanada. Die Reihe der Schreckensbilder unserer Tage ließe sich endlos fortsetzen. Unsere Welt ist eine Welt voller Schmerz und niemand kann diesen Schmerz stillen.

Aber das ist noch nicht das Ende des Schreckens. Gerhardts Lied führt uns noch tiefer. Es geht nicht nur um Mitleid oder um wohlfeilen Weltschmerz. Gerhardts Lied mutet uns zu, unsere eigene Schuld, unsere eigene Verstrickung in das Leiden der Welt in den Blick zu nehmen. Die vierte Strophe packt den Sänger des Liedes bei der eigenen Verantwortung: „Nun, was du, Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast.“ – Zeilen wie diese haben das Christentum für viele psychoanalytisch informierte Intellektuelle unannehmbar gemacht. Hier wird ein zerstörerischer Schuldkomplex gezüchtet, hier werden Menschen klein gemacht und von der Entfaltung ihrer eigentlichen Größe abgehalten. – So könnte man in der Tradition Nitzsches oder Sloterdjiks einwenden. – Sicher, ich und Sie persönlich haben am Tod des historischen Jesus Tod keine Schuld, das ist unbestritten. Aber das ist auch nicht das, worauf es unserem Lied ankommt. Die Schuld, an der wir Heutigen genauso beteiligt sind wie die Menschen zurzeit Jesu, ist die Verstrickung in die Zusammenhänge von Zerstörung und Missbrauch, Ausbeutung und Gewalt, die unser Leben und die Zivilisation erst möglich machen.

Wir persönlich sind wohl keine Mörder und keine Übeltäter, aber wir leben heute von Rohstoffen, von Kohle, Öl, Gas, Gold, Kupfer und Uran, deren Gewinnung Landschaften, Menschen und Kulturen zerstört hat und weiter zerstört. Unser ressourcenfressender Lebensstil bedroht das ökologische Gleichgewicht auf diesem Planeten. Das wissen wir alle und es fällt uns doch so unendlich schwer, daraus Konsequenzen zu ziehen. Unsere Welt strotzt vor Waffen, gegenüber denen die Waffen der römischen Soldaten der Zeit Jesu wie Spielzeuge erscheinen. Auch wer selbst kein Täter ist, lebt – ob er will oder nicht – davon, dass an vielen Orten der Welt zerstört, getötet und vernichtet wird, damit wir so leben können wie wir leben. Unser Lied zwingt uns dazu, uns dieser Schuld zu stellen und sie im Gesicht des gekreuzigten Christus zu erkennen. Schön ist das nicht. Es gibt leichtere und angenehmere Themen. Gerhardts Lied nötigt uns, den Schrecken des Kreuzes auch in dieser Tiefe zu erfassen. Es lässt keine Distanz zu: Ich selbst bin Teil des Schuld- und Zerstörungszusammenhanges, der bis heute die Welt prägt und der im Gekreuzigten auf Golgatha aller Welt vor Augen gehalten wird.

Wo bleibt dann aber der Trost, wo bleibt die Hoffnung, wenn der Schrecken so tief und so allumfassend ist? Der Trost des Karfreitags, der Trost unseres Liedes ist ein verhaltener Trost. Angesichts solchen Leides sind nur stille und vorsichtige Gesten angemessen. Der Sänger des Liedes, so stelle ich mir die Szene vor, die in der fünften Strophe unseres Liedes beschrieben wird, der Sänger des Liedes kniet vor dem Gekreuzigten so wie man es in vielen alten Kirchen auf Tafeln und Bildern sehen kann. Der Sänger blickt auf zum Gesicht des Gekreuzigten. An ihn richtet er die Bitte, mit der die fünfte Strophe beginnt: „Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an.“ – Die Strophe folgt in Bachs Matthäuspassion übrigens auf die Einsetzung des Abendmahls durch Jesus. Das Abendmahl ist für Bach die Milch und die süße Kost, die Himmelslust, mit der der Hirte und Hüter uns labt.

„Erkenne mich, mein Hüter“ – der Beter ist in seinen Ansprüchen auffallend bescheiden. Er fordert nicht das Ende allen Leides, wie wir es uns vielleicht bei der Begegnung mit Gott in den Sinn käme. Nein, der Gott, an den sich Gerhardts Lied wendet, ist ein Gott, der selbst leidet. Auch wenn Gerhardt Gott sonst auch anders beschreiben kann, an Karfreitag steht für ihn der leidende Gott im Mittelpunkt. Nur der leidende Gott kann trösten, das ist für Gerhardt und für die mystische Tradition des Christentums klar. Nur der ohnmächtige Gott kann helfen – so formuliert es knapp drei Jahrhunderte später Dietrich Bonhoeffer in einem Brief aus der Haft (vgl. Brief vom 16.7.44, Widerstand und Ergebung 192f). Nur der leidende, der ohnmächtige Gott kann den leidenden und ohnmächtigen Menschen nahe sein und sie erkennen, annehmen und stärken. Nur der leidende Gott weiß, wie es ihnen geht, nur er kann die tiefe ihrer Verzweiflung, ihrer Schuld, ihres Verhängnisses ermessen.

Und hier nun, in der tiefsten Tiefe des Leids und der Verzweiflung fängt ein Spiel gegenseitiger Zärtlichkeit an. Die Szene wandelt sich. Aus dem Bild des vor dem Kreuz knienden Sängers wird in Strophe sechs das Bild einer Pieta-Skulptur. Wie Maria nach der Kreuzabnahme den Leichnam ihres Sohnes auf dem Schoß hält, so zärtlich und voller Liebe wendet sich nun der Sänger Jesus zu: „alsdann will ich dich fassen / in meinen Arm und Schoß.“ Der Sänger des Liedes nimmt den gemarterten und getöteten Gott in seinen Schoß. – „Menschen gehen zu Gott in seiner Not“ – so dichtet Dietrich Bonhoeffer über den ohnmächtigen Gott (Widerstand und Ergebung, 189). Gottes Not erbarmt den Menschen, der sonst oft so erbarmungslos ist. Gottes Leid weckt die Zärtlichkeit im Menschen. Und dieses zärtliche Spiel zwischen Mensch und Gott beschreibt Gerhardts Lied weiter bis zum Ende der zehnten Strophe, wenn der Sänger in seinem eigenen Sterben Jesus ganz fest an sich drücken will: Erscheine mir zum Schilde, / zum Trost in meinem Tod, / und lass mich sehn dein Bilde / in deiner Kreuzesnot. / Da will ich nach dir blicken, / da will ich glaubensvoll / dich fest an mein Herz drücken. / Wer so stirbt, der stirbt wohl.

Gerhardt beschreibt eine zärtliche Vereinigung des Sängers des Liedes mit dem gekreuzigten Christus im Tod. Die Liebe hört niemals auf – so heißt es in 1. Korinther 13. Die Liebe ist das, was alles Vergängliche überdauert. Die Liebe Gottes hält und trägt uns auch dann, wenn wir sterben. In Gottes Liebe sind wir selbst noch im Tod geborgen. Leiden, Schuld und Tod können uns nicht von Gott trennen. Diese große und starke Gewissheit ist der Trost, den Gerhardts Lied uns vermitteln und nahe bringen will. Nichts kann uns von Gottes Liebe scheiden. Und so ist es vielleicht auch für uns Heutige ganz passend und stimmig, dass Gerhardts Lied eine Liebesmelodie zu Grunde liegt. Die Sehnsucht nach Gottes Liebe, die Sehnsucht bei Gott geborgen zu sein, die Sehnsucht nicht verloren zu gehen bei allem, was wir an Schrecken, Schuld und Verhängnis erleben, diese Sehnsucht kennen wohl auch wir. Vielleicht trauen wir uns nicht immer, uns diese Sehnsucht einzugestehen, vielleicht ist sie tief verborgen in unserem Herzen. Aber vielleicht gelingt es ja unserem Lied, diese Sehnsucht ans Licht zu holen, diese große Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, diese Sehnsucht nach Heil und der Liebe Gottes. Vielleicht gelingt es unserem Lied und seiner Liebesmelodie schließlich auch, uns in der Gewissheit zu stärken, dass wir in allem, was geschieht, bei Gott geborgen und von seiner Liebe gehalten sind. – Amen.


Lied: EG 85,5+6+9+10, Erkenne mich, mein Hüter (O Haupt voll Blut und Wunden)


Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de


Bemerkung:
verwendete Literatur: Ansgar Franz, O Haupt voll Blut und Wunden, in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, herausgegeben und erläutert von Hansjakob Becker, Ansgar Franz, Jürgen Henkys, Hermann Kurzke, Christa Reich und Alex Stock, München 2001, 275-290
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