Paradoxe Intervention

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Paradoxe Intervention

 Römer 11, 25-32 | verfasst von Christine Hubka |

Vorbemerkung: Corona bedingt sollen in der evang. Kirche in Österreich die Gottesdienste eher kurzgehalten und möglichst auch nur wenig gesungen werden. Daher ist auch die Predigt entsprechend dem Gesamtrahmen kurz.

25 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. 26 Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Rö 11, 25-32

Ich weiß Bescheid. Du weißt Bescheid. Wir wissen Bescheid.

Nämlich wer gut ist und wer böse ist.

Wer tüchtig. Wer fleißig. Wer ehrlich ist.

Wessen Unglück unverschuldet ist. Und wer selbst schuld ist an seinem Elend.

Wir wissen Bescheid über Männer – die weinen nicht.

Und über Frauen – die können halt nicht einparken.

Wir wissen Bescheid über Polizist*nnen. Die sind brutal. Über Strafgefangene. Das sind böse Menschen. Über Lehrer*innen. Die wollen nur lange Ferien haben. Und natürlich wissen wir Bescheid über die Alten und die Jungen.

Das besonders in diesen Tagen.

Und weil die Menschen schon immer und überall Bescheid wussten, ruft der Apostel Paulus denen, die anderen die Welt erklären zu: Haltet euch nicht selbst für klug.

Wie gut tut es mir, das einmal zu hören.

Auch wenn’s mich natürlich genauso trifft, wie die anderen. Ich hab ja auch meine fixen Vorstellungen und gepflegten Vorurteile im Gepäck.

Allerdings, was Paulus dann schreibt, fordert wohl auch die tatsächlich Klugen, nicht nur die, die sich für klug halten.

Das ist verwickelt und verschwurbelt.

Am ehesten kann ich das mit dem Begriff der paradoxen Intervention beschreiben. Für alle, die jetzt überlegen, was das genau ist:

Als Lehrerin hatte ich manchmal mit einer sehr unruhigen Gruppe zu tun. Sie waren wie aufgezogen. Konnten nicht stillsitzen, schon gar nicht zuhören. Also: Es war einfach laut in der Klasse. Zu laut.

Und statt ihnen zum x-ten Mal zu sagen: Ruhe jetzt, hab ich sie aufgefordert, so laut sie können zu schreien. Auf einmal war es mucksmäuschenstill.

Das ist eine paradoxe Intervention.

Und in diese Stille hinein hab ich gefragt, was denn los ist. Was sie so aufregt.

Und dann gab’s ein feines Gespräch in Zimmerlautstärke.

Ein wenig erinnert mich die Argumentation des Paulus an so eine paradoxe Intervention. Er behauptet ja, dass Gott es selbst drauf angelegt hat und gefördert hat, dass sein erwähltes Volk sich dem Evangelium von Jesus Christus verschließt. Gott selbst hätte das provoziert, was Paulus Ungehorsam nennt. Damit Gottes Barmherzigkeit und Erbarmen umso deutlicher wird.

Also das Ziel der ganzen Geschichte ist es, ein Exempel zu statuieren.

Mit diesem Begriff aus der Zeit der pädagogischen Steinzeit verbinde ich eher drakonische Strafen.

Hier geht es um ein Exempel in die Gegenrichtung. Je größer und meinetwegen skandalöser der Ungehorsam, desto erstaunlicher, desto unerwarteter, desto verblüffender die Gnade.

Stellt euch eine Gerichtsverhandlung vor, wo dem Angeklagten eine hohe Haftstrafe droht. Die ganze Verhandlung hindurch wird ans Licht gezerrt, was er alles verbrochen hat. Und dann kommt der Moment der Urteilsverkündigung: Der Richter erhebt sich. Alle stehen. Zitternd erwartet der Angeklagte das Urteil. Die Presseleute haben ihr Tablett bereit, um das Urteil ganz schnell an die Redaktion zu schreiben. Der Richter spricht: Der Angeklagte kann nach Hause gehen. Und er begründet das so: Weil seine Schuld so groß ist, musste das größte Maß an Gnade angewendet werden.

Darauf läuft die Argumentation des Paulus hinaus.

Und bevor sich jemand moralisch entrüsten kann, knallt er den Welterklärern und Bescheid-Wissern hin: Das alles geschieht, damit ihr endlich auch merkt, wieviel Gnade Gott für euch aufbieten musste, bis ihr dorthin kamt, wo ihr heute seid. Am Beispiel der anderen kann man es halt besser sehen als im eigenen Leben.

Das ist eine Aufgabe nicht nur für einen Gottesdienst. Das ist eine Lebensaufgabe, wie mir scheint: immer wieder nachzusehen, nachzuforschen, wo hat mich Gottes Gnade herausgeholt, freigesprochen, wieder neu ins Leben zurückgebracht.

Wohl denen, die sich nicht darüber ärgern, dass Gott den anderen gnädig ist. Denn ich sehe leider, dass Gnade und Erbarmen derzeit nicht sehr hoch in Kurs stehen hierzulande.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Pfrn.i.R. Dr. Christine Hubka; Wien; christine.hubka@gmx.at;

Aktuell in der Gefängnisseelsorge tätig. Autorin.

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