Predigt zu Genesis 50,15-21

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Predigt zu Genesis 50,15-21

Familie – zwischen Vertrauen und Eifersucht | 4.Sonntag nach Trinitatias | 27. Juni 2021  |  Predigt zu Genesis 50,15-21 | verfasst von Andreas Schwarz |

Da kam es Josefs Brüdern zu Bewusstsein: Ihr Vater war tot. Da sagten sie: »Wenn Josef uns nun anfeindet und all das Böse, das wir ihm angetan haben, voll auf uns zurückkommen lässt … ?!« So richteten sie dem Josef dies aus: »Dein Vater hat uns angesichts seines Todes dies ausgerichtet: ›So sollt ihr dem Josef sagen: Ach, trage doch das Verbrechen deiner Brüder und ihre Verfehlungen – Böses haben sie dir ja angetan.“‹ Doch jetzt trage du doch am Verbrechen derer, die Knechte von deines Vaters Gott sind!« Und Josef weinte über ihre an ihn gerichteten Worte. Da gingen die Brüder selbst hin, fielen vor ihm nieder und sagten: »Da hast du uns zu deinen Knechten!« Da sagte Josef zu ihnen: »Habt keine Angst! Ja, bin denn ich an Gottes Stelle? Ihr nämlich habt euch Böses ausgerechnet gegen mich. Gott hat es zum Guten summiert, um das zu tun, was heute zutage liegt: ein großes Volk zum Leben zu bringen. Und jetzt habt keine Angst! Ich selbst will euch und eure Kinderschar versorgen.« So brachte er sie zum Aufatmen und redete ihnen zu Herzen.

(Genesis 50,15-21, Bibel in gerechter Sprache)

In einer Familie zu leben, ist etwas ganz Wundervolles. Da geht es ziemlich spannend zu. Man ist nicht allein. Andere Menschen sind da. Man lebt zusammen, isst gemeinsam, ist füreinander da. In Familien herrscht eine natürliche und selbstverständliche Nähe, man hält zusammen, weil man zusammengehört. In allen fließt das gleiche Blut.

Familie – das ist die Gemeinschaft, die du dir nicht ausgesucht hast. Die ist dir gegeben, in die wirst du hineingeboren.

Glieder einer Familie gehören zusammen. Sie helfen einander, unterstützen sich gegenseitig. Wenn es nötig ist, treten sie auch füreinander ein.

Natürlich sind sie mehr oder weniger auch genötigt, miteinander auszukommen, solange sie unter einem Dach leben.

Das macht das Leben in einer Familie manchmal auch unangenehm spannend. Der Zusammenhalt ist oft genug gefährdet. Das Miteinander kann sogar gefährlich werden. Da, wo man eng miteinander lebt, entsteht auch leicht Reibung. Es kommt zu Streit.

Glieder einer Familie können eifersüchtig aufeinander werden. Wenn das Gefühl entsteht, die Eltern bevorzugen den einen oder die andere. Du bist ja ein richtiges Papa-Söhnchen oder ein Mama-Kind.

Am deutlichsten zutage tritt der mögliche Streit wohl dann, wenn es ums Erbe der Eltern geht. Da können Glieder einer Familie zu Hyänen werden. Der Kampf ums Erbe, um den größten Anteil, kann dazu führen, dass Menschen einer Familie den Kontakt zueinander abbrechen, nicht mehr miteinander reden bis zum Tod.

Die Zusammengehörigkeit in einer Familie ist auf eine schöne Art selbstverständlich. Sie hat etwas Verlässliches. Aber es gilt eben auch das andere: Verletzungen, die Menschen in einer Familie erleben und erleiden, sind besonders tief.

Die Enttäuschungen, die Menschen in einer Familie aneinander und miteinander erleben, sind besonders groß. Die Entzweiung, die aus solchen Erfahrungen erwächst, ist besonders schmerzhaft. Die Versöhnung, die daraus folgen könnte, ist besonders kompliziert.

Gerade, weil Menschen von Natur und Geburt an zusammengehören, sind die Folgen von erlebten Enttäuschung grausam, die inneren Fronten besonders verhärtet.

Es überrascht nicht, dass die Bibel von Anfang an genau diesen Aspekt sehr deutlich erzählt. Schon die ersten Geschwister sind nicht miteinander ausgekommen.

Der eine wird auf den anderen eifersüchtig, weil er sich benachteiligt fühlt. Das Problem wird mit Gewalt gelöst: Kain ermordet Abel.

Rebecca, die Mutter der Zwillinge Jakob und Esau hat eine besondere Nähe zum später geborenen Jakob. Mit einer List sorgt sie dafür, dass der jüngere Jakob den Segen des Vaters erhält. Fortan sind die beiden Brüder zerstritten und gehen sich aus dem Wege, damit ihr Zusammentreffen nicht mit dem Tod einer der Brüder endet.

Versöhnung scheint lange Zeit aussichtslos. Es ist ein schwieriger und langsamer Weg dahin. Er kostet viel Überwindung, bis es dann doch zu einer Aussöhnung der beiden Brüder kommt.

Mit viel Furcht behaftet: Ist er mir noch immer böse? Wird er mir etwas antun?

Die Erzählung der 12 Söhne von Jakob zeigt dieses Dilemma in außergewöhnlicher Nähe und Schärfe.

Wie können Menschen einer Familie miteinander umgehen, wenn so viel Unrecht und Leid geschehen ist?

Was ist Vergebung?

Wie kann Schuld, die einer dem anderen angetan hat, vergeben werden?

Wo soll sie hin, die Schuld?

Und wo ist sie dann, wenn einer dem anderen Schuld vergibt?

Die Geschichte von der Begegnung zwischen Josef und seinen Brüdern schenkt erhellende Wege.

Vielleicht sind wir Menschen gar nicht in der Lage, Schuld zu vergeben, weil wir gar nicht wissen, wohin mit ihr und wo sie dann ist.

Vielleicht also sollten wir uns eher auf den Weg machen, Schuld tragen zu lernen.

Der Täter hat natürlich immer ein großes Interesse daran, dass ihm vergeben wird. Er will ja die Schuld loswerden.   Er möchte die Last nicht mehr spüren und empfinden.       Er möchte sein schlechtes Gewissen loswerden.

Aber wie soll das Opfer damit leben? Zu sagen: ‚Ich verzeihe dir, ich vergebe dir?‘

Und dann? Wo ist die Schuld?

Die Brüder ahnen die Probleme. Sie verstecken sich hinter ihrem verstorbenen Vaters Jakob. Als habe er die Bitte an Josef gerichtet. Als könne seine Autorität ihnen helfen.

An Vergebung, an Beseitigung ihrer Schuld denken sie wohl selbst nicht.

Ihre Bitte geht eher in die Richtung: Trage doch mit an der Schuld, die wir dir angetan haben.

Wie sollte auch Josef diese Schuld vergeben? Wer erahnt und ermisst die Last, die die Brüder auf ihn gelegt haben?

Sie waren damals ja übereingekommen, ihn zu töten, weil er ihnen ständig auf die Nerven gegangen ist. Er war der Lieblings-Sohn des Vaters, der nicht mit auf dem Feld arbeiten musste, der immer wunderschön und außergewöhnlich gekleidet war. Der von seinen abstrusen Träumen erzählt hat, wie alle vor ihm niederfallen und ihn anbeten.

Wer will denn das immer hören?

Der geht uns auf die Nerven.

Wenn ich zu Beginn einer neuen Konfirmandengruppe mit den jungen Menschen ins Gespräch komme, dann taucht auch immer die Frage auf: ‚Hast du Geschwister? Versteht ihr euch gut?‘ Und oft genug kommt die Antwort: ‚Nein, der nervt‘. Das ist so eine typische Erfahrung für Menschen in diesem Alter.

Ich stelle mir genau das so vor bei den 10 älteren Brüdern von Josef, wie sie auf dem Feld sind und arbeiten und dann sehen sie schon von weitem, wie er kommt und wie sie untereinander und miteinander stöhnen: ‚Oh nein, der schon wieder, der nervt‘. Und irgendwann ist ihre Geduld bis ans Ende strapaziert und es wächst die Idee: Wie können wir das beenden, dass der immer hier auftaucht als Bote des Vaters und uns immer seine komischen Träume erzählt? Wie werden wir ihn los?‘ Und dann planen sie tatsächlich, ihn zu töten und dem Vater mitzuteilen, ein wildes Tier habe ihn zerrissen. Nur der Einwand des ältesten Sohnes Ruben sorgt dafür, dass sie ihn nicht töten, sondern ihn ins Ausland verkaufen. Aber dem Vater teilen sie nun doch mit, er sei verstorben.

Was macht das mit einem jungen Menschen, wenn er spürt, wie die Geschwister ihn loswerden wollen? Wie geht er damit um, in ein fremdes Land verkauft zu werden, alleine sein zu müssen, getrennt von seinen Eltern von seinen Geschwistern, unter fremder Religion an fremdem Ort, weit weg, ohne Kontakt zu geliebten Menschen?

Ihr gedacht es böse zu machen, sagt Josef zu ihnen und genau das war ihr Plan: ihm Böses antun. Ihn aus dem Weg räumen, ihn loswerden, ihn nicht mehr sehen müssen. Nie mehr.

Natürlich hat Josef seinen Anteil an diesem ganzen Geschehen. Er hat seine Brüder ständig provoziert und genervt.

Dennoch stellt sich die Frage, wie er nun nach vielen Jahren mit der Schuld der Brüder umgehen soll.

Nein, Vergebung ist nicht der richtige Ansatz.

Die Bitte der Brüder muss tatsächlich lauten: Trage doch an dieser Schuld, die wir dir angetan haben. Sie ist ja nicht weg. Sie wird bleiben. Sie wird immer Teil unserer Beziehung sein. Sie wird nie verschwinden.

Aber sie kann so Teil unserer Beziehung sein, dass wir wieder miteinander leben können. Wir waren ja für viele Jahre getrennt, sind uns nicht begegnet.

Kein Kontakt mit dem andern musste die Schuld immer wieder neu ins Bewusstsein rufen. Wir haben dein Gesicht nicht gesehen, deine Augen, deinen vielleicht ohne Worte ausgedrückten Vorwurf. Wir sind uns einfach nicht begegnet. Aber jetzt begegnen wir uns wieder.

Wie können wir miteinander leben, wo doch diese Schuld da ist, immer zwischen uns steht?

Doch nur so, dass Josef an dieser Schuld mitträgt.

Kann er das? Das ist die entscheidende Frage für die Beziehung zwischen den Brüdern.

Können wir miteinander leben, wenn wir aneinander schuldig geworden sind?

Müssen wir Schuld leugnen?

Müssen wir sie verdrängen, verschweigen?

Haben wir nur eine Chance, wenn wir uns gegenseitig aus dem Wege gehen? Oder wenn wir darauf hoffen, dass der andere alles vergisst?

Oder leben wir unser ganzes Leben mit der Sorge, wir müssen seine Rache fürchten?

Kann das Grundlage für eine Beziehung sein?

Oder ist nicht die Bitte des Vaters an seine Söhne der Weg? Trag doch mit an dieser Schuld, die nie verschwindet.

Aber Gott gedachte es gut zu machen, sagt Josef.

Die Brüder hatten Gott schon ins Gespräch gebracht. Sie seien doch Diener Gottes, der auch der Gott deines Vaters ist.

Da steht eine familiäre Verbindung zwischen dir und uns. Im gemeinsamen Glauben an Gott den Schöpfer.

Gott ist in dieser Geschichte ja schon sehr lange mit drin.

Er ist beteiligt an diesem ganzen Geschehen und er hat sich positioniert. Er hat die Geschichte dahin geführt, wo sie nun gelandet ist. Er hat Josef in der schwierigen Zeit begleitet. Er ist an seiner Seite gewesen und hat ihm geholfen. Er hat dafür gesorgt, dass Josef nicht untergegangen ist, dass er nicht gestorben ist.

Im Gegenteil: Es ist ihm gut ergangen, er hat Karriere gemacht am neuen Ort. Er hat ein neues Leben führen dürfen, das ihn zu Ansehen und sogar zu Macht geführt hat.

Die Wege, die Gott Josef geführt hat, führt jetzt auch die Brüder zusammen. Jetzt fallen sie tatschlich vor ihm nieder. Jetzt hat er die Chance, seiner Familie, seinen Brüdern zu helfen, weil er die Macht hat, weil er es kann. Gott hat es ihm geschenkt. Nicht zur Rache. Sondern zu einem neuen, anderen Leben. Miteinander.

Gott hat sein Urteil längst gesprochen.

Nicht mit Worten, sondern mit den Wegen, die er Josef geführt hat. Und in den Wegen die er die Brüder geführt hat. Bis zu diesem Punkt, an dem sie sich begegnen.

Gott hat sie alle dahin geführt.

Josef beansprucht nicht die Stelle Gottes.

Er fügt sich ein in dessen Plan.

Er hat ihm alles zu verdanken, was trotz oder wegen der Schuld seiner Brüder aus ihm geworden ist.

Jetzt schauen sie mit dieser wundervollen Erfahrung nach vorn.

Josef sorgt für seine Familie.

Er redet freundlich zu ihren Herzen.

Gott hat Großes mit ihnen vor.

Er hat Großes mit uns vor.

Er redet freundlich mit uns.

So, wie wir es an Jesus Christus erleben.

Das schenkt uns die Kraft, gemeinsam an der Schuld zu tragen. Die wir tun und die wir erleiden.

Im Vertrauen auf Jesus Christus, der uns vergibt. Amen.

Pfarrer Andreas Schwarz

Pforzheim

E-Mail: p.andreas.schwarz@gmail.com

Andreas Schwarz, geboren 1958

Seit 2001 Pfarrer in der Gemeinde Pforzheim der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Baden,

seit 1999 Herausgeber der Lesepredigten für die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche

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