Predigt zu Luthers 2. Invokavit-Predigt

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Predigt zu Luthers 2. Invokavit-Predigt

Vom Irrtum der Zwangsmaßnahmen für die
Freiheit

Meine lieben Freunde!

Mit der Freiheit ist es eine eigene und komplizierte Sache. Was nicht
neu und womit es seit den Tagen der Reformation auch nicht eben leichter
geworden ist. Man kann die Freiheit nicht einfach her zeigen oder sie
im strengen Sinne beweisen. Man kann, wenn man einmal von ihr geschmeckt
hat, auch nicht mehr von ihr schweigen und muss zugleich damit leben,
dass sie sich nicht mit Zwangsmaßnahmen herstellen lässt.

Wir diskutieren heute darüber, ob und wann und wo muslimische Frauen
Kopftücher sollen tragen dürfen oder ob und wann und wo gerade
nicht. In dieser Debatte sind sie wieder alle versammelt, die großen
Fragen; was die Freiheit sei, was man um ihretwillen zulassen und was
zu ihrem Schutz unterbinden soll.

Zu der aktuellen Streitfrage eine Meinung zu haben, ist nicht schwer.
Bei den Begründungen der beherzt bezogenen Positionen lauern jedoch
die Probleme. Natürlich soll in Schulen keine religiöse Beeinflussung
stattfinden – schon gar nicht durch Leute, die Frauen vorschreiben wollen,
wie sie sich zu kleiden und bis zu welchem Grade sie sich zu verhüllen
haben. Was aber, wenn eine Frau nun aus welchen Gründen auch immer – so
weit man sehen kann aber aus einigermaßen freien Stücken – ein
Kopftuch tragen möchte? Was, wenn sie es – und halten wir es noch
so sehr für einen Irrtum – für ein Gebot Gottes hält,
sich mittels Kopftuch, Schleier oder Burka symbolisch oder tatsächlich,
ganz oder teilweise zu verhüllen?

Wie weit darf eine Gesellschaft, welche die Freiheit zu ihren Grundwerten
zählt, in die individuelle Entscheidung und die religiöse Symbolsprache
von Menschen eingreifen? Und wie hilfreich wird es sein, dem Zwang zur
Verhüllung, der gestrengen Muslimen geboten erscheint, mit Regeln
zu begegnen, die nun – ihrerseits verbindlich – solche Verhüllung
verbieten? Die Freiheit ist schon ein eigenartiger Vogel. Sie kann ohne
Schutz nicht sein. Und irgendwelchen Fundamentalisten wollen wir sie
nicht ausliefern. Wo aber aus dem schützenden Zaun ein hemmendes
Gatter wird, wird am Ende auch die Freiheit selber Schaden nehmen.

Wie sich die Bilder gleichen

In Wittenberg war einigen Vertretern der Reformation der Geduldsfaden
gerissen. Mit guten Gründen. Seit nunmehr bald fünf Jahren
war es öffentlich: der christliche Glaube sollte wahrhaft geistige
und geistliche Religion sein. Die Gatter religiöser Regulierung
ihren Schrecken verloren. Gepredigt wurde in der Sprache der Leute. Die
deutsche Bibelübersetzung Martin Luthers war beinahe fertig. Der
Gottesdienst sollte der persönlichen Erbauung und der Schärfung
der Gewissen dienen, anstatt Sündenangst zu verbreiten und kleinkrämerisches
Abstottern vermeintlicher Fegfeuerjahre zu behaupten. Jeder sollte beim
Abendmahl jeder Brot und Wein empfangen. Mit dem Gott, von dem da die
Rede war, konnte man über Mauern und geradewegs in die Freiheit
springen.

Das alles hätte so schön sein können, wenn, ja wenn nicht
allenthalben das Alte noch sichtbar und lebendig gewesen wäre. Noch
immer gab es so genannte Winkelmessen, die als frommes Werk verstanden
wurden und in denen der Priester gewissermaßen den Bestand der
Welt dadurch garantierte, dass er mit dem Vollzug des Sühnopfers
den Zorn Gottes zu besänftigen suchte. All das hatte sich tief in
den Volksglauben eingewurzelt. Und der wurde durch die ungezählten
Bilder von Höllenqual und Himmelreich genährt, die weiter in
den Kirchen hingen. In den Tausenden von mehr oder weniger geschmackvollen
Reliquien hatte der Aberglauben den Wurzelgrund, in den er sich krallte
und aus dem er – verschämter zwar aber immer noch kräftig genug – neue
Blüten trieb.

Es war an der Zeit, dem Übel an genau diese Wurzel zu gehen, Schluss
zu machen mit Winkelmessen und Bildermagie. Das geistliche Christentum
brauchte Luft zum Atmen. Nichts anderes hatte die Leute bewegt, die Messen
gestört und Bilder zerschlagen und verbrannt hatten. Und genau diese
Ausschreitungen nun hatten Martin Luther vorzeitig von der Wartburg zurück
nach Wittenberg eilen lassen.

Uns, die wir den Bildersturm vorwiegend von seiner kunstgeschichtlichen
Bilanz her lesen – neben unglaublichen Kitsch und Schund wurden eben
auch unglaubliche Werte vernichtet –, will das Eingreifen Luthers sozusagen
als das Mindeste erscheinen, was er zu tun hatte. Schließlich hatte
er doch mehr als nur ein Scherflein dazu beigesteuert, die Gemüter
derart zu erhitzen. Nun, da die Rollkommandos der Reformation losgelassen
waren, da war es gewissermaßen seine Pflicht, ihnen Einhalt zu
gebieten.

Aber nur, weil Luther dem verderblichen Treiben mit seinen Invokavit-Predigten
Einhalt einen Schluss setzen wollte, müssen wir den Bilderstürmern
nicht jegliches Verständnis versagen. Für einen, der unter
der Macht der Bilder gelitten hat stellt sich die Sache freilich anders
dar als unter dem Blickwinkel der Kunstgeschichte. Ist die gerade abgestreifte
Gewaltherrschaft nur noch nahe genug, vergegenwärtigt sie sich noch
immer in den Bildern und Gebräuchen. So wird mindestens verständlich,
warum sich am Bild entlädt, was sich an der Sache aufgestaut hatte.
Man denke nur an das Standbild Saddam Husseins vor einem Jahr in Bagdad.
Es wäre doch ein putziger Gedanke, vor seiner Demontage erst einmal
kunstgeschichtliche, handwerkliche und materialtechnische Expertisen
eingeholt zu haben, um den Koloss dann in geregeltem Abtransport zu entfernen.
Nein, der musste gleich weg, mittels Panzer und Abschleppseil. Und er
musste nicht nur weg, sondern es musste sichtbar fallen und kaputt gemacht
werden, so wie mit Symbolen der Macht nun einmal im Umsturz verfahren
wird. Nach keinem anderen Motto verfuhren die Rollkommandos der Reformation:
Macht kaputt, was euch kaputt macht.

Und Luther? Der hatte die Schwierigkeit, diejenigen nur zu gut zu kennen,
die in den Rollkommandos wirkten. Es waren seine Leute, und ihre Gründe
waren seine Gründe. Nur eben, dass Luther den Kindergehalt des von
ihnen ausgeschütteten Badewassers nicht tolerieren wollte. Worin
genau ihr Fehler bestand, dem gilt es noch einmal mit Bedacht und mit
Verständnis nachzuspüren. Und Luthers Predigten lohnen schon
deshalb die Lektüre, weil sie nicht einfach Gardinenpredigten an
ungezogene Kinder sind, die, kaum dass man ihnen einmal den Rücken
zuwendet, lauter Dummheiten machen.

Martin Luther nennt seine Hörer „meine lieben Freunde“. Er kanzelt
nicht ab, nimmt aber auch nichts zurück, zetert nicht darüber,
dass er das alles doch so nicht gemeint habe. In seiner zweiten Predigt
am Montag nach Invokavit spricht er über den Glauben an Gott und über
die Liebe zum Nächsten. Er spricht über das, was mit Notwendigkeit
zum Glauben gehört, und dasjenige, was die Freiheit des Christenmenschen
sein soll, darüber, was dieser Freiheit dient und was ihr schadet.
Und notwendig zum Glauben und zur Freiheit gehört nun einmal die
Liebe.

Martin Luther zeigt sich in seinen Predigten als Pädagoge. Es geht
ihm nicht in erster Linie darum, Recht zu haben, sondern seine Hörerinnen
und Hörer verstehen zu lassen, worauf es ankommt; nämlich darauf,
das Erlebnis der von Gott geschenkten Freiheit nicht in Verruf zu bringen,
sondern sie in Nachsicht und Liebe zum Nächsten sich bewähren
zu lassen. Wer selbst das Gatter religiöser Regulierung übersprungen
hat, soll acht geben, die neue Freiheit nicht zu missbrauchen. Wer sie
gebraucht, um denjenigen, die noch nicht mit gesprungen sind, die Nächstenliebe
aufzukündigen, der ist auf dem besten Wege, aus den gerade zerfallenen
Gattern einen neuen Pferch zu zimmern.

Es mögen die Winkelmessen noch so falsch sein. Mindestens genau
so falsch ist es, Priester und Gläubige an den Haaren daraus weg
zu schleppen, ihnen die Bilder zu verbieten und zu zertrümmern,
die sie – und sei es aus Kleinmut, Irrtum und Unglauben – doch für
heilig halten.

Was daran falsch ist, beginnt Luther schon mit seiner Anrede zu zeigen: „Meine
lieben Freunde!“ Freunde sind wir geworden, bedeutet Luther mit dem Ton
seiner Rede, weil wir es so gerade nicht angefangen haben. Beinahe jeder
von uns hat bis vor nicht allzu langer Zeit selber Messen gefeiert. Haben
wir einander denn unter Androhung von Gewalt da heraus geschleppt? Doch
wohl nicht. Sondern allein der Kraft des Wortes haben wir vertraut. Und
sie hat uns weit gebracht. Sie hat Papst und Kaiser wanken lassen. Sie
hat uns zu Kindern des Lichts und zu Freunden gemacht.

Natürlich hatte es in den Debatten auch manch lautes Wort gegeben.
Gerade der gute Doctor Martinus war nicht eben für seine Leisetreterei
berühmt. Aber das Wort hatte doch Manches geleistet. Es hatte offen
und im Stillen bei jedem einzelnen gewirkt. Es hatte einem jeden seinen
eigenen Rhythmus und hatte ihm auch im Streit seine Würde gelassen.
Und es hatte sie doch wohl tiefer berührt als jede äußere
Gewalt es je vermag: tief im Grund des eigenen Herzens.

Es gibt also keinen Grund, dieser Macht des Wortes das Vertrauen zu
entziehen. Auch nicht in Bezug auf diejenigen, die sich noch immer an
die Bilder, Messen und Opfer halten. Es gibt, Freunde, gute Gründe
dafür, dass einem der Faden der Geduld einmal reißt. Aber
es gibt noch bessere Gründe, die Grenze zur äußeren Gewalt
deswegen nicht zu überschreiten, um nicht einzureißen, worauf
es doch im Kern ankommt: auf die Liebe, an der wir einander erkennen
und mit der wir anderen begegnen. Sie ebenso Teil der Freiheit wie das
offene Wort, wie der Streit um den richtigen Weg und wie der Glaube an
den gnädigen Gott. Und sie allein vermag, was Zwang und äußere
Gewalt nie und nimmer erreichen: Menschenherzen zu gewinnen.

Im Geist der Liebe lassen sich ein paar gute Gründe gegen Zwangsmittel
und für den Geist der Freiheit aufzählen: Erstens taktische:
die Reformation ist aufs Ganze gesehen noch ein ziemlich zartes Pflänzchen.
Manche zögern noch, sich ihr anzuschließen, andere sind mächtige
Widersachern. Erstere sollten nicht abgeschreckt werden, Letztere sollten
nicht Gelegenheit erhalten, der Reformation Schlechtes nachzusagen.

Zweitens gibt es inhaltliche Gründe: Wer die Sache der Freiheit
betreibt, wird eine natürlich Vorsicht in Bezug auf zwangsmittel
walten lassen. Sie einzusetzen würde die Sache der Freiheit selbst
ganz verdunkeln. Der Teufel würde sich fein die Hände reiben,
könnte er sehen, wie schlecht da eine gute Sache vertreten wird.
Er, der selbst der Fürst der Unfreiheit ist, könnte sich bequem
zurück lehnen und zusehen wie die Kinder des Lichts mit den Mitteln
der Finsternis kämpften. Damit würden sie am Ende doch nur
sein Geschäft betreiben und ihm in die Hände spielen.

Und darüber, dass sie ihm in die Hände spielten, könne
nun einmal kein Zweifel sein. Wer die Ohnmacht der Winkelmessen, des
Reliquienwesens, der Heiligenbilder und der religiösen Verordnungen
erkannt habe, der sei doch gerade frei von ihren Zwängen. Wer aber
auf sie einschlägt, befindet sich ganz offenkundig in einem erbitterten
Machtkampf mit ihnen. Wer aber den Machtkampf eingeht, der erkennt – und
wenn er es tausendmal vermeiden möchte – doch eine Macht der Bilder
an. Wer sich aber vor der Macht der Bilder fürchtet, der ist noch
nicht recht frei geworden.

Freiheit und Liebe

Martin Luther bestreitet nicht, dass das Vorgehen der Rollkommandos
organisationsstrategische Erfolge zeitigen kann. Tatsächlich werden
damit die Zeichen einer neuen Zeit aufgerichtet. Es fragt sich nur, was
die unter diesen Bedingungen wert sind.

So klingt bei Luther die Probe aufs Exempel: „Wenn ich nun dreinfahre
und wollte es auf Gewalt anlegen, so gibt es viele, die darauf eingehen
müssen und nicht wissen, wie sie damit dran sind, ob es Recht oder
Unrecht sei. Sie sprechen: Ich weiß nicht, ob es Recht oder Unrecht
ist, weiß nicht, wie ich dran sei; ich habe der Allgemeinheit und
der Gewalt folgen müssen.“ Mit anderen Worten: Menschen werden aus
Angst und Bequemlichkeit, im äußersten Fall aus schierem Selbsterhaltungstrieb,
tun, wozu sie gezwungen werden. Wer sie aber zwingt, hat der Freiheit
einen Bärendienst erwiesen. Mit wieder andern Worten: Mit unsrer
macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.

Der Bildersturm und die Störung der Messen werden denen, die die
Bilder verehren, keinen Geschmack auf die Freiheit des Glaubens machen.
Ihnen aber mit Liebe und nachsucht zu begegnen, gibt der eigentümlichen
macht des Wortes Raum. Die Zögernden, die Sicherheit in Bildern
und Messopfern suchen, können so selbst einen Geschmack der Freiheit
bekommen. Was nicht heißt, ihnen nicht deutlich zu sagen, was man
von Bildmagie und Messopfer hält.

Luther musste das Kunststück vollbringen, Stellung gegen den Bildersturm
zu beziehen ohne zurück zu rudern, ohne den Seinen die Freundschaft
aufzukündigen und ohne mit eigenen neuen Vorschriften seinerseits
Schatten auf die Sache der Freiheit zu werfen. Gemeinsam müssen
die Freunde nun das Kunststück vollbringen, keinen Zweifel daran
aufkommen zu lassen, was sie von Bildermagie und Messopfer halten, zugleich
aber denen, die davon bislang nicht lassen mit Geduld und Liebe zu begegnen.
Aber es hatte ja auch niemand behauptet, dass die Freiheit eine leichte
Sache sein würde.

In der Predigt am Montag nach dem Invokavit-Sonntag versucht Martin
Luther das Kunststück, nicht selbst in die Falle der Satzungen,
Regeln und Besserwisserei zu tappen. Liebe und Geduld lassen sich ebenso
wenig verordnen wie die Freiheit. Es ist vielmehr der innere Zusammenhang
der Liebe und der Freiheit: Weil wir die Machtlosigkeit der Satzungen,
Bilder und Messopfer erkannt haben, gerade deshalb können wir in
aller Geduld und Vergnügtheit warten, bis sie in sich selbst zusammenfallen.
Mit den Mitteln unserer macht, mit Dreinschlagen ist da nichts getan.

Hilflose Freiheit?

Mit der Freiheit ist es eine eigene und komplizierte Sache. Und es wollte
es so scheinen, als könnte man für sie so gar nichts tun, wäre
das nun auch wieder nicht ganz richtig ist. Der Verzicht auf Zwang ist
zwar zunächst nur ein Unterlassen. Aber eben eines, das sich mit
Notwendigkeit aus der Freiheit selbst ergibt. Aus der Einsicht nämlich,
dass in der Freiheit eben – man möchte es bedauern oder nicht – eben
auch Raum für den Irrtum sein muss. Wer aber aufhört, die letzten
Dinge durch religiöse und andere Regeln absichern zu wollen, hat
mehr für die Freiheit getan, als Rollkommandos je ausrichten können.

Allein das Unterlassen kann, wenn man den Furor der Bilderstürmer
bedenkt, schon eine höchst anstrengende Tätigkeit sein. Zumal
ein weiteres, höchst anspruchsvolles Element hinzu treten muss.
In der Freiheit auch dem Irrtum Raum zu gewähren heißt eben
nicht, den Irrtum gewähren zu lassen. Es bleibt ja doch Irrtum,
Gott durch Opfer zu besänftigen und das Leben durch fromme Übungen
sichern zu wollen.

Es bleibt falsch, wenn Männer und Frauen durch Bekleidungs- und
Verhüllungsregeln unterschieden werden. Es darf keineswegs dazu
geschwiegen werden, wenn durch vermeintliche Gottesregeln ihr öffentliches
Auftreten reglementiert wird, wenn Mädchen in ihrem Selbstbestimmungsrecht
behindert werden.

Neben den Irrtümern, die im weitesten Sinne auch noch der Folklore,
jedenfalls den sozialen Regeln einer Kultur, zugerechnet werden können,
gibt es auch solche, die nun überhaupt nicht zu ertragen sind: wenn
etwa jemand gar der Wert eines Menschenlebens nach seiner Volks- oder
Religionszugehörigkeit bemisst. Hier darf nicht geschwiegen und
hier muss in der Tat gehandelt werden. Wie hilfreich dabei Panzer und
Raketen sind – und kämen sie auch unter dem Titel „enduring freedom“ – mag
jeder selbst ermessen.

Schluss

Was also tun? Nachdenken, predigen, in die Debatte eingreifen und mit
aller Leidenschaft für seine Sache eintreten. An die Güte Gottes
glauben und daran, dass Menschenherzen gewonnen werden können. Und
das wahrscheinlich umso mehr, je weniger die Zugänge dazu durch
neue Regeln verrammelt werden, die den alten doch wieder zum Verwechseln ähnlich
sind.

Wir diskutieren heute darüber, ob und wann und wo muslimische Frauen
Kopftücher sollen tragen dürfen oder ob und wann und wo gerade
nicht. In dieser Debatte sind sie wieder alle versammelt, die großen
Fragen; was die Freiheit sei, was man um ihretwillen zulassen und was
zu ihrem Schutz unterbinden soll.

Diese Fragen zu lösen, das wird das Kunststück sein, das wir
vollbringen müssen. Wir werden Position beziehen müssen, und
es wird vermutlich nicht abgehen, ohne sich auf einen gewissen Regelrahmen
zu einigen. Entscheidend wird am Ende sein, ob unsere Regeln das leisten,
was zu einem guten Zusammenleben nötig ist, ob sie die individuellen
Entscheidungen von Menschen achten und die Freiheit der Vielen schützen.
Geduld und Liebe wird nötig sein und Unterscheidungsfähigkeit.

Es tut niemandem etwas Böses, wenn eine Muslimin ein Kopftuch tragen
möchte, man mag ihren Glauben teilen oder nicht. Schwierig wird
es, wo ein äußeres Zeichen wie das Kopftuch für verbindlich
gehalten und erklärt werden soll. Noch schwieriger, wo der Wert
eines Menschen nach seinem Geschlecht, seiner Volks- oder Religionszugehörigkeit
bemessen wird. Es wird viel Geduld und Liebe nötig sein, die Kunststücke
zu vollbringen, die von uns gefordert werden.

Es wird am Ende nicht unser Ziel sein, uns mit der Reglementierung von
Zeichen zu begnügen. Diejenigen, die die Kopftücher und Schleier
tragen, und diejenigen, die sie verordnen, sollen doch nicht andere zwingen
dürfen. Das ist klar. Die Freiheit derer, die sonst unter einen
Zwang geraten, müssen wir schützen. Ganz ohne Regeln wird das
nicht gehen. Aber zugleich sollen diejenigen, die den Schleier tragen
oder verordnen wollen, doch Schwestern und Brüder sein und am Ende
Freunde werden können, die selbst die Freiheit schmecken. Übrigens:
wer einmal die Freiheit von den Bildern und Opfern und Menschensatzungen
geschmeckt hat, wird daraus auch zur Unterscheidung der Zeichen befähigt:
Es gibt religiöse Zeichen der Freiheit und solche der Unfreiheit.

Zeichen der Freiheit sind die Liebe und die Geduld. Zeichen der Freiheit
ist die Einsicht, dass Mächte und Gewalten nicht vermögen,
was doch das Wort der Freiheit kann: Menschenherzen wenden.

Meine lieben Freunde! Wenig spricht dafür, dass wir den Streit
um Bilder, Kopftücher und die Freiheit schon recht bald werden beilegen
können. Wir werden uns gleichermaßen vor Blauäugigkeit,
Eiferertum, Kleinmut und Lieblosigkeit hüten müssen; denn die
Freiheit ist eine empfindliche Sache, die ohne Schutz nicht sein kann.
Was wir zu ihrem Schutz verbieten, was um ihretwillen zulassen wollen,
das will erst noch erstritten sein. Da wird noch manches Kunststück
von uns verlangt. Es sage niemand, dass es mit Freiheit eine leichte
Sache sei. Doch einen lohnenderen Grund kann niemand legen als den Grund
der Freiheit selbst. Der hat die Macht der äußeren Zeichen
und Bilder schon gebrochen und kann, was Menschen und Mächte nimmermehr
vermögen: bis in die Herzen von Menschen reichen. Lasst uns Zeichen
der Freiheit setzen und damit Gott befohlen sein.

Amen

Ulrich Braun
Pastor in Göttingen-Nikolausberg
eMail: ulrich.braun@nikolausberg.de

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