Predigtreihe zum Vater-Unser

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Predigtreihe zum Vater-Unser

 


Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin

„Unser Vater im Himmel, unser tägliches Brot gib uns heute.“
Nydeggpredigt am 4. November 2001

Liebe Gemeinde, um das tägliche Brot heißt Jesus uns zu beten.
„Brot“ steht für das Lebensnotwendige, das, was wir zum
Leben und Überleben brauchen, um ganz materielle Dinge also. Es meint
nicht darüber hinaus noch dieses und jenes, was das leben angenehm,
interessant und lebenswert macht. Das griechische Wort, das mit „täglich“
übersetzt ist, kommt seltsamerweise ausser hier im Matthäusevangelium
in der gesamten griechischen Literatur der Antike nur noch ein einziges
Mal vor, was seine Deutung etwas unsicher macht. Wahrscheinlich bedeutet
es „für den morgigen Tag“. Die vierte Bitte würde
also, genau übersetzt, lauten: „Gib uns heute unser Brot für
morgen.“ Es ist die Bitte darum, dass wir dem nächsten Tag,
der nächsten Zukunft ohne schwere Sorgen und Ängste entgegensehen
können im Vertrauen, dass es morgen auch etwas zu essen gibt, dass
wir am Abend getrost einschlafen können in der Gewissheit, am kommenden
Tag auch etwas zum Leben haben.

*

Und damit geraten wir, wenn wir das Unservater nicht gedankenlos, sondern
denkend beten, in einige Verlegenheit. Ich meine jetzt nicht einmal die
Verlegenheit, dass wir heute nicht mehr wie frühere Generationen
ungebrochen davon ausgehen, dass das Brot, unsere tägliche Nahrung,
sozusagen direkt von Gott kommt. Wir können, weil wir ein klein wenig
um die komplexen meteorologischen Zusammenhänge wissen, Gott nicht
mehr so schlicht und einfach verantwortlich machen für Regen und
Sonnenschein zur rechten Zeit – umso weniger, als immer deutlicher wird,
dass wir Menschen mit unserem Tun und Unterlassen das Klima und mit ihm
eine wichtige Grundlage der Nahrung beeinflussen.

Eine andere Verlegenheit gibt mir weit mehr zu denken. Wenn ich bete
Unser tägliches Brot gib uns heute“, dann
denke ich ja zunächst an uns selber, an meine Familie, an
uns, die wir zum Beispiel hier in der Kirche sind. Aber bitte, was sollen
wir denn um etwas beten, was wir ohnehin schon haben? Wir mögen viele
Sorgen und Ängste haben, es mag uns manches fehlen – die Sorge, dass
wir morgen und in der kommenden Woche, und wohl auch im nächsten
Jahr genug zu essen haben, dass das Lebensnotwendige für uns da ist
diese Sorge kennen wir nicht. Wer genug und mehr als genug zum
Leben hat, der braucht doch nicht zu beten, dass Gott ihm das Brot für
den morgigen Tag beschert.

Die Bitte um das tägliche Brot ist die Bitte von Hungernden und
Armen, das Gebet von Menschen, für die es alles andere als selbstverständlich
ist, dass sie morgen für sich und ihre Kinder etwas zu essen haben.
Es ist das Gebet von Menschen, die sich um ihre Zukunft höchst existenzielle
Sorgen machen müssen, das Gebet von Menschen, für die Gott der
einzige Grund der Hoffnung ist. Jesus und seine Jünger haben zu diesen
Leuten gehört. Wir gehören nicht zu ihnen.

*

Ist vielleicht die vierte Bitte des Unservaters gar nicht für uns
bestimmt? Wäre es ehrlicher, wenn wir sie ausliessen? Oder sollte
es gar so sein, dass unsere Vorfahren so eifrig und innig gebetet haben
und wir ein Volk von so aufrichtigen Betern und Beterinnen sind, dass
Gott unsere Bitte längst schon erhört hat? Dass unser Wohlstand
und unsere Sicherheit also Gebetserhörung wären? Das zu glauben,
wäre denn doch eher zynisch. Wir wissen, dass unser Wohlstand andere
Ursachen hat, und es sind nicht nur schöne und friedliche. Oder macht
die vierte Bitte vielleicht so einen Sinn, dass wir, die Habenden und
Wohlhabenden, stellvertretend für die Nabenichtse auf der Erde, für
die Armen und Hungernden um das Brot für den morgigen Tag, für
ihr Überleben beten? Ich denke, auch dies wäre zynisch. Die
Hungernden und Armen brauchen nicht unser Gebet. Sie brauchen Gerechtigkeit.
Und vielleicht kommen wir genau damit dem Sinn, den die vierte Bitte für
uns haben könnte, schon etwas näher.

„Unser Vater im Himmel“ beten wir, „unser tägliches
Brot gib uns heute.“ Auch wenn es das Gebet Jesu und der Christen
ist – das „uns“ schliesst alle Menschen ein. Sie alle
sind Kinder des Vaters im Himmel. Ihnen allen gilt seine Liebe. Und so
verbindet uns das Unser-Vater-Gebet ganz grundsätzlich und elementar
mit allen Menschen auf der Erde. Es verbindet unser Schicksal und unsere
Zukunft mit ihrem Schicksal und ihrer Zukunft. Und schon rückt uns
die vierte Bitte noch näher auf den Leib. Es ist in diesem Unservater
eine tiefe Einsicht und Weisheit verborgen. Es lässt uns die Menschheit
als eine Schicksalsgemeinschaft verstehen.

*

„Gib uns heute unser Brot für morgen“. Unzählige
Menschen in Äthiopien oder im Sudan, in Palästina, in Aghanistan
oder Pakistan und in vielen anderen Ländern der Erde plagt die Sorge
um den buchstäblich nächsten Tag. Sie wissen nicht, ob morgen
das Allernotwendigste zum Überleben noch da sein wird. Sie haben
keine Zukunftsperspektive, keine Aussicht und Hoffnung, aus ihrer brutalen
Abhängigkeit und ihrem Elend jemals hinauszufinden. Weiter als über
den nächsten Tag hinaus können sie gar nicht denken.

Wir Wohlhabenden und Gesicherten sollten den „morgigen Tag“
schon etwas weiter fassen. Um das Brot von morgen Montag, den 5. November,
brauchen wir uns heute am 4. November keine Sorgen zu machen. Aber wie
steht es denn mit dem kommenden Jahr, mit dem kommenden Jahrzehnt? Wie
steht es um die Zukunft unserer Kinder und Grosskinder? Um die Zukunft
unseres Landes? Wie steht es darum, wenn die Menschen eine weltweite Schicksalsgemeinschaft
sind und wenn das Ergehen der einen Auswirkungen hat auf das Ergehen der
andern?

Die Ereignisse der letzten Wochen müssten uns doch endlich sensibel
und aufmerksam machen auf diese Zusammenhänge. Die Zeichen der Zeit
müssten wir erkennen! Der Synodalrat unserer Kirche hat sie nicht
erkannt. Er hat es seiner Fachstelle für Oekumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit
verboten, an der Veranstaltungsreihe „Perspektiven nach Davos – Neoliberale
Weltordnung, Auswirkungen und Perspektiven“ teilzunehmen.

Diese Weltordnung verkommt immer mehr zur Welt-Unordnung, unter der unzählige
Menschen im Süden und Osten dieser Erde marginalisiert werden und
ohne jede Aussicht auf Verbesserung ihrer Verhältnisse bleiben. Und
nun erfahren wir auf einmal auf erschreckende Weise, wie diese Unordnung
hinüberschwappt in die reichen, bisher sicheren Länder und auch
hier Unsicherheit und Angst verbreiten. Verbrecherischer, zerstörerischer
Terrorismus schreibt sich das Elend der Zukunftslosen und Brotlosen auf
die Fahne und propagiert den grossen Krieg der Religionen, Kulturen und
Zivilisationen – einen Krieg, der mit andern Mitteln längst von den
Vertretern der neoliberalen Wirtschaftsordnung geführt wird.

Vielleicht geht uns endlich die Einsicht auf, dass unsere eigene Zukunft,
unsere Sicherheit, unser Brot für den morgigen Tag, unser Überleben
davon abhängen, dass auch die Menschen in anderen Erdteilen eine
Zukunftsperspektive bekommen. Die Brotfrage wird zur weltweit verbindenden
Überlebensfrage. Sie müsste die Religionen, Kulturen und Zivilisationen
miteinander verbinden. Und das erfordert ein tiefes Umdenken, eine grosse
Umkehr und Bekehrung. Ganz nahe kommt uns jetzt die Bitte um unser tägliches
Brot.

*

Die vierte Bitte des Unservaters ist, schon in der Alten Kirche, oft
so verstanden und gedeutet worden, als habe Jesus damit das Brot des Abendmahls
gemeint. Sie wurde, wie so manches im Evangelium, vergeistigt, entmaterialisiert.
So aber können es nur Leute verstehen, die die Sorge um das wirkliche
Brot nicht kennen. Jesus hat es nicht so gemeint. Und dennoch hat das
Abendmahl, die Feier der Eucharistie, etwas, es hat viel mit der Brotfrage
zu tun.

Denn wir feiern das Abendmahl als das sichtbare, das essbare, materielle
Zeichen von Gottes Erbarmen, von seiner versöhnenden, befreienden
und heilenden Gegenwart, die uns herausholt aus unseren persönlichen
und weltweiten Schuldverstrickungen und uns ausrichtet auf das Kommen
des Gottesreiches. Und dieses gottesreich hat Jesus verglichen mit einem
grossen Festmahl, einer fröhlichen Tischgemeinschaft, zu der alle
eingeladen sind und alle genug zu essen und zu trinken haben.

Nach katholischer Lehre verwandeln sich Brot und Wein der Eucharistie
in den Leib und das Blut des gekreuzigten und auferstandenen Christus.
So können wir es nicht verstehen. Aber das Abendmahl – der in ihm
gegenwärtige Christus – will uns verwandeln, will unter und
mit uns eine Wandlung, eine Umkehr bewirken. Die Kirchenordnung unserer
Berner Kirche sagt das so: „Das Abendmahl ist die von Jesus Christus
eingesetzte Feier zur Verkündigung seines Todes und seiner Auferstehung
mit den Zeichen Brot und Wein. Durch den Heiligen Geist ist es das Mahl
des gegenwärtigen Herrn mit seiner Gemeinde und der Gemeinschaft
der Schwestern und Brüder untereinander. Es ist das Mahl der Danksagung
der versöhnten Gemeinde des neuen Bundes, die auf die Vollendung
des Reiches Gottes wartet und sich gerufen weiss zur Solidarität
mit denen, die nach Brot und Gerechtigkeit und Frieden hungern.“

*

Gerufen zur Solidarität mit den Hungernden! Die Freidenker-Vereinigung
der Schweiz veröffentlicht ab und zu kleine Zeitungsinserate, die
zum Kirchenaustritt auffordern. Es sind grossartige Inserate, und ich
bin den Freidenkern echt dankbar für sie. Sie haben mir im Konfirmandenunterricht
gute Dienste geleistet. Eines dieser Inserate lautet: „Ich glaube
nicht. Ich denke. Ich bete nicht. Ich tu was. Ich pfeife aufs ewige Leben.
Ich trainiere fürs Überleben.“ Uns aber, liebe Gemeinde,
inspiriert und ermutigt der Glaube zum Denken, zum Verstehen der Zeichen
der Zeit. Wir beten um unser tägliches Brot und deshalb tun wir etwas,
dass es zum Brot für alle wird. Und indem wir vom ewigen leben singen
und pfeifen, stimmen wir uns ein ins Training fürs Überleben
– fürs eigene und für das anderer Menschen.

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern.
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch

 

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