Psalm 34,8

Psalm 34,8

WOCHENSPRUCH:
Denn der Engel des Herrn lagert sich um
die her, die ihn fürchten und hilft ihnen heraus.
(Psalm 34,8)

I. ENGEL SIND „IN“

Liebe Gemeinde,

so langsam allmählich geht sie wieder los: die Hochsaison für
Engel! Bestimmt haben Sie auch schon die ersten Engelchen entdeckt: auf
den Herzpackungen für Milka-Nougat, und auf den ersten Weihnachtskatalogen,
die uns jetzt ins Haus flattern, und mit denen uns Neckermann oder Quelle,
Mode und Preis oder Brigitte in weihnachtliche Kauflaune versetzen wollen.
Dann in ein paar Wochen, in der Adventszeit, gibt es kaum noch ein Eckchen
bei uns ohne Engel: Aus Holz geschnitzt halten sie Kerzen; bunt und pausbackig
blicken sie auf Ansichtskarten verträumt in den Himmel; wohlgeformt
und aus Porzellan dekorieren sie die weihnachtlich geschmückten
Fensterbänke; die Bäckchen rot gefärbt blasen sie Trompete,
spielen Harfe, singen mit rundem Mund im Chor und musizieren auf Plattencovern
und CD-Hüllen; silbern und golden schmücken sie als Haarnadeln
und als Ohrringe die Damen, für die Herren tummeln sie sich etwas
dezenter auf Seidenkrawatten; sie halten Sonderangebotsschilder auf den
Wühltischen; auf T-Shirts gedruckt lächeln sie uns augenzwinkernd
zu; etwas peppiger aufgemacht preisen sie die neuesten Geschenkideen
in den Schaufenstern an und der ein oder andere hat es sogar schon geschafft,
in Werbespots im Fernsehen aufzutreten und entweder für himmlischen
Frischkäse oder teuflisch guten Wodka die Äuglein zu verdrehen!

Engel sind ganz gut im Geschäft, sie sind in. Die Händler,
immer am Puls der Zeit, haben längst erkannt, dass sie uns ansprechen,
neugierig machen und anlocken. Die Menschen scheinen sich nach ihnen
zu sehnen. Woran das wohl liegt?

Ist das so, weil viele glauben, Engel könnten fliegen und lebten
in den Wolken, weit über unserem grauen Alltag, dort, wo die Freiheit
grenzenlos sein soll, alle Ängste und Sorgen verloren gehen und
wo alles, was uns groß und wichtig erscheint, nichtig und klein
ist?

Liegt es an der alten Vorstellung, dass jeder von uns seinen eigenen
Schutzengel hat, der nicht mehr von unserer Seite weicht, uns beschützt
und uns vor all zu großem Schaden bewahrt? Oder faszinieren sie
uns, weil sie so viel mit uns gemeinsam haben und uns doch so unendlich
fremd sind? Lebewesen zwischen Himmel und Erde, Botschafter Gottes für
die Menschen?

II. ENGEL IN DER BIBEL

Das Alte Testament erzählt uns wunderbare Engelsgeschichten: Da
gibt es den Engel, der das Weinen des durstigen Kindes hört, es
an den Brunnen führt, aus dem es trinken kann.

Da gibt es den Engel, der den tief enttäuschten und lebensmüden
Propheten Elia aufrichtet und ihm zu essen und zu trinken gibt, wie eine
Wegzehrung für seinen neuen Lebensabschnitt.

Da gibt es den Engel, der sich dem Bileam in den Weg stellt. Und der
von dem Menschen nicht erkannt und verstanden wird, wohl aber von dem
Tier, dem einfachen Esel.

Auch Jesu Leben ist von Engeln begleitet: Der Engel Gabriel verkündet
Maria, dass sie ein Kind gebären wird, das groß sein und „Sohn
des Höchsten“ genannt werden wird. Die Engel verkünden
den Hirten die Geburt Jesu und singen den Lobgesang „Ehre sei Gott
in der Höhe“, den auch wir in jedem Gottesdienst wieder mit
singen, den wir feiern. Engel stehen Jesus bei, als er versucht wird.
Sie begleiten ihn in die Wüste, als er dort dem Bösen gegenübersteht
und sich bewähren muss. Am Ende seines Lebens, als er weint und
im Garten Getsemane um sein Leben fleht, kommt ein Engel vom Himmel zu
Jesus und gibt ihm neue Kraft. Und Engel schließlich künden
seine Auferstehung und rütteln die Jünger auf, nicht in den
Himmel zu starren, sondern in die Welt hinaus zu gehen, und den Menschen
das Evangelium zu verkünden.

„Dienende Geister“ nennt die Bibel die Engel – zum
Beispiel im Hebräerbrief „Dienender Geister, ausgesandt, denen
zu helfen, die das Heil erben sollen.“ Engel stehen also im Dienste
Gottes. Sie sind also auf keinen Fall die Mitte unseres Glaubens – aber
die Vorstellung von Engeln führt uns zu einem menschenfreundlicheren
Gottesbild. Es sind sozusagen die Wesen, die zwischen uns und Gott hin-
und herfliegen können, Botschaften überbringen oder Kraft übertragen
können. Das macht es uns leichter, uns die Wirkung und die Kraft
Gottes in unserem Leben vorzustellen.

Engel, das sind Kräfte. Kräfte, mit denen Gott uns stärkt
oder mahnt. Kräfte, mit denen er uns hindert, Dinge zu tun, die
schlecht für uns sind, oder bestärkt, Dinge zu tun, die uns
oder anderen wohl tun. Lassen Sie uns noch ein bisschen genauer hinsehen,
wo solche Kräfte wirken, und wo wir sie spüren können.

III. DIE ERZENGEL UND GOTTES KRAFT

In der Bibel werden nur drei Engel mit Namen genannt: Michael, Gabriel
und Raphael. Aber gerade diese drei – und gerade weil sie so unterschiedlich
sind – zeigen uns ganz deutlich, auf welche Weise wir Gottes Kraft
erfahren können:

Michael heißt: „Wer ist wie Gott?“ – eine staunende
und auch zugleich bekennende Frage: Wer auf dieser ganzen Welt ist so
groß wie unser Gott? Keiner ist so groß und so mächtig
und so einzigartig wie er!

Deshalb ist Michael auch der größte Engel. Kraftvoll und
mächtig steht er uns bei im Kampf gegen das Böse, gegen die
Sünde und gegen die Versuchungen in unserem Leben. Deshalb wird
er auch mit dem Schwert dargestellt, mit dem er den Drachen – das
Böse – vernichtet.

Michael ist die Kraft in uns, die uns immer wieder vor die Frage stellt:
Wer ist für Dich Gott? Wie wichtig ist er für Dich? Ist er
noch immer das wichtigste, das höchste in Deinem Leben, oder hast
Du längst schon andere Götter an seine Stelle gesetzt? Dein
Erfolg im Beruf? Oder dein kleines privates Glück, in dem dich bitte
niemand stören soll? Dein schickes Auto, auf das Du so lange gespart
hast, oder die Waage, die Du jeden morgen befragst, ob Du noch die Schönste
im Land bist?

Michael fordert uns auf, unsere Gottesbilder loszulassen und uns dem
wahren Gott zuzuwenden. Dem Vater, der uns das Leben geschenkt hat. Dem
Vater, der uns unsere Verfehlungen vergibt. Diesem Vater sollen wir uns
wieder zuwenden. Denn nur, wenn wir dem wirklichen Gott, unserem Vatergott
dienen, dann wird unser Leben heil und ganz und wirklich erfüllt
und glücklich.

Für diese mahnende und schützende Kraft Gottes gegen das Böse
in unserem Leben – für diese Kraft Gottes steht das Bild des
Engels Michael.

Gabriel heißt: „Kraft Gottes“ oder „Held Gottes“.
Gabriel ist der Verkündigungsengel. Immer dann also wird er gebraucht,
wenn Gott uns etwas sagen will. Unsere Ohren und unsere Herzen öffnen
will für seine Botschaft und für seinen Ruf.

Wenn also Gott etwas in uns verändern will, wenn er Altes neumachen
will, dann geschieht das nicht aus unseren Fähigkeiten und unseren
Möglichkeiten heraus, sondern, weil Gott uns diese Kraft zum Neu-
und Anderswerden schickt.

Für diese Kraft des Wortes Gottes, dass unsere Ohren und unsere
Herzen bewegt und verändert – für diese Kraft Gottes
steht das Bild der Verkündigungsengels Gabriel.

Wir hören die Verkündigung der Liebe Gottes, und spüren,
dass wir selbst, so wie wir sind, von dieser Liebe umfangen werden.

Wir hören die Zusage der Vergebung, und können aufatmen.

Wir hören die Botschaft von der Auferstehung, und brauchen nicht
mehr Sorge tragen um die Lieben, die wir verloren haben, brauchen auch
keine Sorgen mehr tragen um unser eigenes Leben.

Diese Worte sind Worte Gabriels. Des Engels, der immer erst eines sagt,
ehe er den Menschen seine Botschaft ausrichtet: Fürchte Dich nicht!

Raphael schließlich heißt: „Gott heilt“. In
der Erzählung über den jungen Tobias, den der Engel Raphael
auf seinen Wegen begleitet, heilt Raphael die Liebe zwischen Mann und
Frau und die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Er heilt den blinden
Tobit und den verletzten Tobias. Er schenkt Eltern das Vertrauen, dass
ihre Söhne und Töchter von Gott begleitet werden, wenn sie
auch scheinbar den falschen Weg gehen, oder den scheinbar falschen Partner
gewählt haben. Er schenkt dem Körper und der Seele die Kraft
gesund zu werden, in welcher Krise auch immer sie stecken.

Wie oft haben wir solche heilende Kraft nötig?

Wenn wir in Trauer sind oder in Sorge um einen Menschen, den wir lieben.

Wenn eine Freundschaft zerbrochen ist oder eine Ehe, oder wenn Menschen
uns bitter enttäuscht haben, denen wir vertrauten.

Wenn wir unsere Kinder nicht mehr verstehen und wir das Gefühl
haben, sie entfernen sich von uns.

Wenn wir krank sind und Schmerzen haben.

Wenn uns die Hoffnung fehlt auf eine gute berufliche Erfüllung
oder auf eine gesicherte Zukunft.

Es geht soviel kaputt unter uns – manchmal durch unsere eigene
Schuld, manchmal aber auch deshalb, weil andere Fehler machen, oder weil
unsere Lebensumstände manchmal einfach unglücklich verlaufen.
Dann gibt es Wunden und Verlust. Wie gut ist es zu wissen, dass Gott
uns da nicht alleine lässt. Er sendet uns die Kraft, die heilt.
Die Kraft, die den Namen „Raphael“ trägt.

Mag sein, liebe Gemeinde, dass es für sie ungewohnt ist, als gute
Protestanten, von Engeln zu sprechen oder sich Engelsfiguren vorzustellen,
so wie es unsere katholischen Mitchristen tun.

Mag sein, liebe Gemeinde, dass Sie aber insgeheim schon öfter einmal
das Gefühl hatten: Hier war ein Engel an meiner Seite.

Wie dem auch immer sei – welche Namen, Gesichter oder Bilder wir
auch immer diesen Kräften Gottes geben – eines ist sicher:
Gott lässt uns nie allein. Seine Engel – seine Kraft begleitet
uns. Immer. Jederzeit. Überall. Nie sind wir allein.

IV. DER ENGEL IN MIR

Und, liebe Freunde, wenn Gott uns eine ganz besonders schöne Erfahrung
schenken will, dann macht er uns selbst zu einem Engel, zu einer Kraft
für einen anderen.

Wenn wir einen anderen Menschen – einen Freund oder unseren Ehepartner
– bewahren vor einem Fehler, vor einer Schuld, dann werden wir zu einem
kleinen Michael.

Wenn wir einem anderen die frohe Botschaft von der Liebe Gottes ausrichten
und sie ihn auch am eigenen Leibe spüren lassen, dann waren wir
ein kleiner Verkündigungsengel Gabriel.

Oder wenn wir einem Kranken helfen, einen körperlich Kranken heilen
oder einen seelisch Verletzten wieder aufrichten, dann waren wir im Namen
Raphaels unterwegs.

Wer auf diese Weise schon einmal ein kleiner oder großer Engel
sein durfte – ein Michael, ein Gabriel oder ein Raphael, je nachdem,
in welcher Not er helfen durfte – , der weiß, was Gnade ist.

Engel sind nicht die Mitte unseres Glaubens. Und wir können uns
auch nicht vornehmen, zum Engel zu werden.

Aber darauf vertrauen, dass können wir: Darauf vertrauen, dass
Gott uns immer wieder einen Engel, einen Kraftspender zur Seite stellt,
wenn wir ihn brauchen.

Und darauf vertrauen, dass Gott uns ruft, wenn er uns brauchen kann,
als Kraftspender, als Liebesbote oder Lichtträger in seiner Welt.

Amen.

Lieder:

EG 331,1-3: Großer Gott, wir loben dich
EG 142,1-6: Gott, aller
Schöpfung heilger Herr
EG 445,4-6: Führe mich, o Herr, und leite
EG 474,2+3: Ich ruf zu dir,
Herr Jesu Christ

Wort einer unbekannten, chinesischen Christin

Ich sagte zu dem Engel,
der an der Pforte des neuen Jahres stand:
Gib mir ein Licht,
damit ich sicheren Fußes der Ungewissheit entgegengehen
kann.

Der Engel des neuen Jahres aber antwortete:
Geh nur hin in die Dunkelheit
und lege deine Hand in die Hand Gottes.
Das ist besser als ein Licht
und sicherer als ein bekannter Weg.

Literatur

Kurt Wiesner, Die theologische und liturgische Bedeutung des Michaelisfestes,
in: Reich Gottes und Wirklichkeit, Festgabe für A. D. Müller,
Berlin 1961, S. 129.

Dorothea Zager, Worms
dwzager@t-online.de

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