Exodus 32,7–14

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Exodus 32,7–14

Die Kraft des Gebets | Rogate | 5. Mai 2024 | Ex 32,7–14 | Thomas Muggli-Stokholm |

Seit vierzig Tagen ist Mose hoch oben auf dem Berg Sinai, dem heiligen Berg, auf welchem ihm Gott die Weisungen des Gesetzes diktiert. Ich geselle mich zu ihm, hier oben auf der Kanzel und schaue mit ihm herab auf das Volk Israel, das am Berg lagert, tief unten,

buchstäblich und im übertragenen Sinn: Männer, Frauen und Kinder tanzen und torkeln um ein riesiges goldenes Kalb. Davor ist ein Altar zu erkennen, auf welchem Aaron und seine Hilfspriester Tier um Tier schlachten – als Opfer für das Kalb. Das besoffene Geschrei und Gejohle der Leute ist bis hier herauf zu hören. Es riecht penetrant nach gebratenem Fleisch und Rauch von kostbaren Kräuteressenzen. Hier ist eine Katastrophe im Gang! Das Volk ist daran, mit seiner religiösen Orgie sämtliche lebensnotwendigen Ressourcen zu verschleudern und sich so selbst in den Abgrund zu reiten.

Dreitausend Jahre nach Mose schaue ich herab ähnlich Schlimmes: Auch heute schert sich kaum mehr jemand um die Weisungen Gottes. Lieber tanzt man um goldene Kälber in Form von Reichtum und Ansehen, denen man all seine Kräfte, Werte und Beziehungen opfert.

Mose kann nicht glauben, was er sieht. Was ist nur in das Volk gefahren, das eben noch jubelte, weil Gott es aus Ägypten befreite? Da hört er Gott reden: Geh, steige hinab. Denn dein Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, hat schändlich gehandelt. Diesem Befund Gottes kann ich nur beipflichten. Es ist eine Schande, wie die Menschen sich verhalten. Damals wie heute ist es dringend notwendig, dass Gott sein Schweigen beendet und Klartext redet. Zu gern nehme ich diese Rede auf und kanzle alle herab, welche die Weisungen Gottes missachten und sich im Rausch von Konsum und Luxus verlieren. Doch bin ich berechtigt dazu?

Schaue ich ehrlich auf meinen Lebenswandel, muss ich gestehen, dass ich beim Tanz ums goldene Kalb mitmache. Ich bin Teil der Welt und profitiere davon, dass ich in einem reichen Land lebe, in einer Gesellschaft, die mir ein Leben in Freiheit und Wohlstand ermöglicht. Selbstkritisch frage ich: Stehen wir als Christinnen und Christen bei Mose, hoch erhaben über das schändliche Treiben der Welt – oder sind wir nicht selbst mittendrin?

Gott fährt fort und spricht zu Mose: Nun lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrenne und ich sie vernichte.  Dich aber will ich zu einem grossen Volk machen. Gottes Zorn über Israel ist so sehr entflammt, dass er eine Radikalkur analog zur Sintflut vorschlägt:  Er will dieses Volk, das wegen seiner Halsstarrigkeit nicht mehr länger sein Volk bleiben kann, vernichten und mit Mose neu beginnen. Wie fühlt sich Mose wohl? Was würden wir an seiner Stelle empfinden?

Dich aber will ich zu einem grossen Volk machen.

Dieser Vorschlag Gottes nimmt die Sehnsucht nach Geltung auf: Würde Mose einwilligen, wäre er nicht mehr länger bloss ein Mittler zwischen Gott und dem Volk, stets zwischen den Fronten, stets in der Kritik von beiden Seiten. Er wäre der neue Abraham, verehrt und bewundert. Jemand sein, aus der grauen Masse der Durchschnittlichkeit herausragen. Der Teufel spielt mit dieser urmenschlichen Sehnsucht bei der dritten Versuchung Jesu. Er führt den Sohn Gottes auf einen hohen Berg, zeigt ihm alle Königreiche der Welt und verspricht ihm die Macht darüber, wenn er sich ihm unterwirft und ihn anbetet (Mt 4,8f.).

Dich aber will ich zu einem grossen Volk machen.

Ein versucherisches Angebot. Und wir fragen uns, wer hier eigentlich mit Mose spricht:

Ist es wirklich Gott – oder ist es nicht vielmehr der Versucher? Ja, wen hört Mose, als er starr vor Schreck und zutiefst enttäuscht zusieht, wie schändlich sich das Volk benimmt, für das er in den letzten Jahren alles gegeben hat?

Wer betet, teilt die Erfahrung von Mose: Gehen wir in die Stille, um auf Gott zu hören, stürmt eine Fülle von Stimmen auf uns ein. Und es ist alles andere als klar, welche dieser Stimmen Gott gehört. Wer Ohren hat zu hören, der höre! (Mk 4,9) fordert Jesus uns auf. Wir sollen genau hinhören, die Geister unterscheiden, das Gehörte sorgfältig prüfen und entscheiden, ob wirklich Gott zu uns spricht – oder ob wir das selbst sind, die uns sagen, was wir hören wollen.

Dich aber will ich zu einem grossen Volk machen.

Was für ein Angebot! Mose wäre schlagartig all die mühsamen Israeliten los und könnte endlich Karriere machen. Im übertragenen Sinn steht mit diesem Angebot ein goldenes Kalb vor ihm, das jenes tief unten beim Volk an Gefährlichkeit und Schändlichkeit weit übertrifft. Wirft er sich davor nieder, verrät er sein Volk und stürzt Hunderttausende ins Verderben. Wie später Jesus widersteht Mose dieser fatalen Versuchung. Und sein Gebet, sein Gespräch mit Gott nimmt nun eine unerwartete Wendung. Es scheint, als wären die Rollen getauscht. Mose übernimmt die Gesprächsführung. Er besänftigt Gott und fragt ihn: Warum entbrennt dein Zorn gegen dein Volk? Mose nimmt sich hier Gott gegenüber sehr viel heraus. Ist das nicht Blasphemie, wenn ein Mensch sich anmasst, Gott zu besänftigen? Und es geht noch weiter. Am Ende fordert Mose Gott dazu auf, er solle von seinem glühenden Zorn ablassen und Reue zeigen. Dem Verhalten von Mose am nächsten kommt Jesus, der am Kreuz betet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Doch hier betet der Sohn Gottes. Jesus fordert nicht, sondern er bittet. Und er erwartet nicht wie Mose Umkehr und Reue von Gott, sondern spricht ihn auf sein Erbarmen an. Wie können wir das Verhalten von Mose einordnen?

Wieder hilft ein Blick auf eigene Gebetserfahrungen weiter: Juden und Christinnen wissen sich beim Beten im Dialog mit Gott als Gegenüber. Beten ist so immer zugleich ein Sprechen und ein Hören. Sprechend hören wir und hörend sprechen wir. Und es ist ja nicht so, dass wir dabei Gott so sprechen hören wie ein menschliches Gegenüber. Wir erleben im besten Fall Momente der Klarheit oder stossen auf ein Bibelwort, das uns weiterhilft. Es kann sich auch ein innerer Dialog entwickeln, wo Gott gewissermassen indirekt zu uns redet. So stelle ich mir das bei Mose vor: Er widersteht der Versuchung, seinem Volk die totale Vernichtung zu wünschen. Schritt für Schritt besänftigt er den Widergott in sich, der schäumt vor Wut und Enttäuschung. Dazu braucht er viele Worte in zwei Argumentationsketten: In der ersten geht es um Gottes Ehre in der Welt. Mose fragt: Was denken denn die Ägypter und andere Heiden, wenn Gott sein Volk, das er eben erst mit starker Hand befreit hat, vom Erdboden vertilgt? Das zweite, noch stärkere Argument liegt in der Treue Gottes zu sich selbst: Was ist das für ein Gott, der seine Verheissungen, aus Abraham, Isaak und Jakob ein grosses Volk zu machen, das im gelobten Land lebt, willkürlich aufhebt – obwohl er doch bei sich selbst geschworen hat, dass sie ewig gelten? Die Argumente entfalten ihre Wirkung. Am Ende reut es Gott, dass er seinem Volk Unheil angedroht hat.

Die Frage bleibt offen, ob es die Argumente von Mose sind, welche Gott zur Reue führen. Oder ob Mose im Dialog mit Gott zur Einsicht gelangt, dass er sein Volk, dem er die Verheissungen gegeben hat, niemals vernichten wird. Gottes Wesen bleibt für uns ein Geheimnis, das unsere Denkfähigkeit himmelhoch übersteigt.Zugleich können wir nicht anders, als menschlich von Gott zu sprechen. Und da geraten wir in Widersprüche. Besonders schmerzhaft werden diese im Spannungsfeld zwischen dem Zorn und der Liebe Gottes. «Gott ist Liebe», lesen wir im 1. Johannesbrief (1. Joh 4,8). So wahr dies ist, es umfasst doch nicht alle unsere Erfahrungen. Schon ein Kind erfährt bitter, wie lieblos unsere Welt sein kann. Können wir für Gewalt, Krieg und die Zerstörung noch den Menschen verantwortlich machen, wird das im Hinblick auf die Natur schwierig. In Gottes Schöpfung herrscht ein liebloses Fressen und Gefressenwerden. So süss ein Kätzchen aussieht. Wenn es genüsslich einen Vogel zu Tode quält, wird es zur Bestie.

«Gott ist Liebe» – und was ist mit seinem Zorn? Beim Vorbereiten dieser Predigt habe ich oft gelesen, dass der Zorn zur Liebe gehört: Weil Gott die Menschen und seine Geschöpfe über alles liebt, kann er gar nicht anders, als zornig zu werden, wenn seine Liebe verraten wird oder seine Geschöpfe verletzt, misshandelt und getötet werden. So einleuchtend und schön das tönt, es verharmlost den Zorn, von welchem in unserem Predigttext die Rede ist. Jesus erfährt diesen Zorn am Kreuz als Unrecht, das zum Himmel schreit, ungehört, denn Jesus sieht sich von Gott und den Menschen verlassen.

Kehren wir zurück zu Mose: Zu Beginn ist da viel Wut, Zorn und Enttäuschung über das abtrünnige Volk. Im Gebet, im Dialog mit Gott widersteht Mose der Versuchung, das Volk der Vernichtung preiszugeben und im übertragenen Sinn das goldene Kalb anzubeten, indem er seine eigene Ehre sucht. Stattdessen solidarisiert er sich mit dem Volk und ruft die gute Vorgeschichte in Erinnerung, dass Gott sein Volk mit starker Hand aus der Knechtschaft in Ägypten geführt hat und seine Treue zu den Verheissungen, die ewig gelten. Auf dieser Grundlage kann die Heilsgeschichte weitergehen.

Und wie ist es mit mir auf der Kanzel? Wie gesagt finden wir heute mindestens so viel Gründe für Wut, Zorn und Enttäuschung wie zu Moses Zeiten. Da ist die Versuchung gross, zu resignieren und still die persönliche Frömmigkeit zu pflegen oder sogar zynisch auf das baldige Weltende zu hoffen. Unser Text lehrt uns einen anderen Weg, den Weg des Gebets und der Solidarität: Wir treten in Dialog mit Gott, hörend, sehend, fühlend, offen für sein Wort und seine Zeichen, zur Umkehr bereit. Wie Mose stossen wir dabei auf Schätze, die allem Zorn und aller Zerstörung standhalten. Die Verheissungen, die durch Christus universell werden. Sie gelten nicht mehr nur den leiblichen Nachkommen Abrahams, sondern allen Menschen, welche den Glauben wagen. Und sie versprechen uns nicht nur ein Land, das wir in Besitz nehmen können, sondern eine ewige Heimat bei dem Gott, der einmal alles in allem ist.

Nachdem klar ist, dass Gott sein Volk nicht vernichten wird, steigt Mose vom hohen Berg herab, zurück in die Niederungen des Alltags. Dieser Abstieg erinnert an jenen von Jesus mit seinen beiden Jüngern nach der Verklärung. Nach einem Moment der Klarheit und unmittelbaren Gegenwart Gottes geht es zurück ins Ungefähre des täglichen Lebens mit all seinen Widersprüchen. Auch der Zorn ist wieder da: Als Mose das goldene Kalb und das perverse Treiben seines Volks von Nahem sieht, packt ihn sinnlose Wut, und er zerschmettert die beiden Tafeln des Gesetzes. Beim Beseitigen des Goldenen Kalbs kommt es zu Exzessen der Gewalt, denen dreitausend Menschen zum Opfer fallen. Schmerzhaft wird deutlich, dass eine heile und versöhnte Welt aller guten Vorsätze zum Trotz hier und jetzt ein unerfüllter Traum bleibt. Doch immerhin geht die Geschichte Gottes mit seinem Volk weiter.

So steige nun auch ich von der Kanzel. Ich nehme mit, was ich von Mose und seinem Dialog mit Gott gehört habe und kehre zurück in meinen Alltag. Ganz so brutal wie jener von Mose wird er nicht sein. Niemandem von uns bleiben jedoch Enttäuschungen und Verletzungen erspart. Aber wir solidarisieren uns wie Mose mit den Menschen, die uns anvertraut sind und gehen mit ihnen den Weg im Vertrauen, dass die Versöhnung und Barmherzigkeit Gottes einmal allen Zorn vertreiben und das letzte Wort behalten. Wir üben dieses Vertrauen im Gebet ein. In der Stille hören wir aus den vielen Stimmen jene heraus, die uns an die Verheissungen und Treue Gottes erinnern. Und wir gestalten unseren Alltag im Licht dieser guten Worte. Dabei vertrauen wir darauf: So wie Israel einen Fürsprecher in Mose hat, so haben wir unseren Fürsprecher in Jesus: Er tritt ein für uns bei Gott. Und gerade dann, wenn wir sprachlos sind angesichts der Lage der Welt und unserer eigenen Grenzen. Gerade dann hilft er uns beten und leuchtet uns mit seiner Hoffnung. Amen.

Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm

Wolfhausen

E-Mail: thomas.muggli@zhref.ch

Thomas Muggli-Stokholm, geb. 1962, Pfarrer der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, bis Ende 2021 Pfarrer in Bubikon, ab 1. Januar 2022 in Fehraltorf, daneben seit 2020 Koordinator der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der Deutschschweiz (LGBK).

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