Jona (3,10)4,1-11

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Jona (3,10)4,1-11

Jona – ein verwundeter Prophet | 3. So. n. Trinitatis | 25.06.2023 | Jona (3,10)4,1-11 | Anna Lerch |

Was bisher geschah: Der Prophet Jona erhält einen Auftrag von Gott: „Geh nach Niniveh und sag den Einwohnern dieser grossen Stadt: Ich habe eure Bosheit gesehen.“ Doch Jona reist daraufhin nicht nach Niniveh, sondern flieht in die entgegengesetzte Richtung. Unterwegs mit dem Schiff Richtung Tarschisch glaubt Jona Gottes Auftrag entkommen zu können. Dabei hat sich Jona aber gehörig getäuscht. Denn er kommt in einen grossen Seesturm, wird von einem grossen Fisch verschluckt, betet drei Tage und Nächte zu seinem Gott und wird schliesslich ausgespuckt. Wieder an Land, erhält Jona noch einmal den gleichen Auftrag. Jona geht tatsächlich in die grosse Stadt Niniveh, predigt und Mensch und Tier kehren um von ihren bösen Wegen! An diesem Punkt in der Geschichte setzte die heutige Lesung ein: „Und Gott sah, was sie taten, dass sie zurückgekehrt waren von ihrem bösen Weg. Und Gott tat das Unheil leid, das über Niniveh zu bringen Gott angekündigt hatte, und Gott führte es nicht aus.“

Ist es nicht schier unglaublich, was Jona da erlebt haben soll? Eine wunderliche und wundersame Geschichte, aus dem letzten Jahrhundert, oder besser aus dem vorletzten Jahrtausend? Alles ist gross im Jonabuch. Es gibt die grosse Bosheit in der grossen Stadt, grosse Angst und nicht zuletzt den grossen Fisch. Nicht nur Kinderaugen werden bei dieser Geschichte grösser und grösser. Ist das Jonabuch etwa ein blosses Kindermärchen? Ich denke, dieses Verständnis – das Jonabuch als reine Kindergeschichte zu verstehen – greift zu kurz. Viel zu kurz. Gerade die frühen Christen haben diesem Buch eine grosse Wichtigkeit beigemessen. Es wurde oft gelesen und im Neuen Testament zitiert (Mt 12, 38ff und Lk 11, 29ff). Bereits in den Katakomben in Rom finden sich erste Jona-Darstellungen. Und bis in die Renaissance geniesst das Jonabuch eine grosse theologische Bedeutung und wird in unzähligen Kunstwerken aufgenommen. Das Jonabuch ist also mehr als ein niedliches Kindermärchen und keine judenfeindliche Geschichte eines widerspenstigen Propheten, der nicht gehorchen wollte und voller Zorn über Gottes Güte sterben will.[1] Doch wie ist die Jonageschichte dann zu verstehen?[2]

Lassen Sie uns eintauchen ins 8. Jahrhundert vor Christus, in die Neu-Assyrische Zeit, in der die Jonageschichte spielt. Niniveh ist Hauptstadt eines riesigen Reiches und Residenzort des Königs von Assur. Dieses assyrische Reich will sein Einflussgebiet ausdehnen, die eigene Macht vergrössern und sichern. Assur greift an, fällt ein, zerstört, plündert und unterjocht. Länder und Völker werden dabei ohne Rücksicht auf Verluste eingenommen. Vielleicht kommt uns diese Szenerie eines Aggressionskrieges, mit dem Ziel, die eigene imperiale Macht zu vergrössern, nicht unbekannt vor? Vom Stolz auf die eigene Zerstörungswut sind uns Kriegsbilder der Assyrer überliefert. Diese erzählen brüstend von gegnerischen Verlusten, zeichnen Bilder des Schreckens und verherrlichen Gewalt und Krieg. Vor kurzem war ich in London, im British Museum, um genau diese Reliefs, diese Wandbilder, der Assyrer zu sehen. Es handelt sich um etwa zwei Meter hohe, eindrückliche Wandbilder aus dem Süd-West Palast in Niniveh. Der Königs Sanherib wählte die in Stein gemeisselten und bemalten Bilder, um Schrecken und Ehrfurcht zu verbreiten. Es handelt sich um Propaganda des Terrors. Über sechzig Arten des Tötens sind dargestellt: Abgerichtete Raubvögel attackieren Verletzte, gegnerische Soldaten, Menschen, die schon am Boden liegen. Belagerungsmaschinen werden eingesetzt. Taucher greifen unter Wasser an. Verstümmelte Gegner werden zur Schau gestellt. Pferde überrennen Menschen. Speere spiessen auf. Schwerter reissen Wunden. Pfeile treffen ins Schwarze. Herzen bleiben stehen.

Und Gott sagt über Assur: „Ich habe eure Bosheit gesehen.“ Und Gott sendet Jona nach Niniveh. Jona, einen Israeliten. Auch sein Land, das Nordreich Israels, wurde vom Aggressor Assur eingenommen, geplündert und völligzerstört. Die Bevölkerung wurde verschleppt und verschreckt.  Jona wird nun also nach Niniveh, ins Zentrum der Macht, geschickt. Als Besiegter soll er Niniveh, der grossen Stadt, entgegentreten. Ein einzelner Mann den Herrschenden Paroli bieten. Auch wenn die Wunden in seiner Seele tief gehen und die traumatischen Erinnerungen an Krieg und Zerstörung immer wieder aufbrechen, lautet der Auftrag: „Geh nach Niniveh! Geh, dorthin, wo all dein Leiden und das deiner Landsleute beschlossen wurde. Geh dorthin, wo der Kriegszug begann.“

Durch eine Traumatisierung, etwa durch Krieg oder andere lebensbedrohliche Erfahrungen, wird die Welt als Ganzes bedrohlich. Alles erscheint „gross“ und unüberwindbar. So gibt es für Jona die grosse Bosheit, die grosse Stadt, die grosse Angst und nicht zuletzt den grossen Fisch. Die meisten Menschen erleben im Laufe ihres Lebens ein Trauma. Auslöser können, neben Krieg und Flucht, auch der Verlust eines lieben Menschen, Trennung, oder die Erfahrung von Diskriminierung, Gewalt und Rassismus sein. Manches vermag man zu bewältigen, manches erfordert psychologische Betreuung. Nach einer Traumatisierung werden Orte, Gerüche und Menschen, die für die inneren Verletzungen verantwortlich sind, gemieden. Aus Schutz für das eigene Leben und aus Angst. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Jona ist eben kein störrischer oder unverständiger Prophet, noch eine niedliche Figur aus einem Kinderbuch. Jona ist ein verwundeter Prophet. Als Fluchtreaktion aufgrund der vorhergehenden Traumatisierung macht sich Jona auf den Weg nach Tarschisch. Dorthin, wo seine Gegner – die Mörder seiner Brüder, die Vergewaltiger seiner Schwestern – weit weg sind. Ist dieser Reflex nicht verständlich? Nicht allzu menschlich?

Der verletzte Prophet, der traumatisierte Jona erhält wiederholt den Auftrag, dem Feind, den Tyrannen, von dem einen wahren Gott zu zeugen. Von seiner Liebe und seiner Güte soll er erzählen, indem er den Feinden die Möglichkeit zur Umkehr gibt. Und Jona ging einen Tag lang in die grosse Stadt hinein und rief ganz schlicht: „Noch vierzig Tage, dann ist Niniveh völlig zerstört!“ Jona hat den Mördern, den Unterdrückern und den Ausbeutern, die Liebe Gottes zu predigen! Lassen wir uns das auf der Zunge zergehen. Und stellen Sie sich vor: Er soll denen die Güte und Liebe Gottes predigen, die Geburtenkliniken bombardieren, denen, die zivile Opfer und den Bruch eines Staudamms in Kauf nehmen, denen, die wiederholt die weltweite Nahrungsmittelversorgung gefährden! Denen soll Gottes Barmherzigkeit gelten? Welch eine Zumutung!

Die Sprengkraft, die Provokation, dieses uralten Textes kann man nicht hoch genug einschätzen! Damals, wie heute. Die Liebe Gottes ist eben keine Kuschel-Rock-Liebe für einen gemütlichen Sonntagnachmittag. Die Liebe Gottes ist keine Wohlfühl-Musik für die Selbsthilfegruppe „Kirche“. Und die Liebe Gottes ist schon gar kein „Evangelium light“, keine abgespeckte oder teilentrahmte Gute Botschaft. Die Vorstellung ist schwer zu ertragen, dass Gottes Güte denen entgegenkommt, die uns oder unsere Liebsten verletzt haben. Wenn uns Unrecht angetan wurde, sind unsere Grenzen eng und unsere Sicht ist kurz. Gottes gütige Liebe ist weder eng noch kurz. Die Liebe Gottes ist vielmehr herausfordernd. Sie gilt radikal allen Menschen und sie transformiert. Sie führt zu Busse und Umkehr. Die gesamte Schöpfung ist mit hineingenommen in dieses Umwandlungs-Geschehen: Tiere und Mensch kehren um und fasten. Als Zeichen der inneren Umwandlung ziehen die Menschen in Niniveh ein Trauergewand an und setzten sich in Staub und Asche. Sogar der König legt seinen Prunkmantel und Schmuck ab. Niniveh und seine Mächtigen kehren tatsächlich um von ihren bösen Wegen! Sie hören auf, Unrecht zu tun! „Und Gott sah, was sie taten, dass sie zurückgekehrt waren von ihrem bösen Weg. Und Gott tat das Unheil leid, das über sie zu bringen er angekündigt hatte, und er führte es nicht aus.“

Gott verlangt hier viel von Jona: Er trägt Jona auf, diejenigen zu Busse und Umkehr zu bewegen, die unvorstellbare Dinge taten, die Unaussprechliches verbrochen haben. Doch Jona ist bereit für diesen Schritt der inneren Heilung: Er geht nach einer turbulenten Reise in die grosse Stadt. Nach dem Krieg der Assyrer gegen die Israeliten, als die Zeit reif ist, führt Gott Jona nach Niniveh. Geht mit ihm den Weg der Konfrontation. Und Gott ist auch da, als Jona zornig und erschöpft lieber sterben möchte, als einen Tag weiterzuleben. Gott ist da, als Jona der Flucht nach Tarschisch nachtrauert. Ja, Jona hadert mit Gottes Entscheidung, Niniveh zu verschonen. Gnade walten zu lassen. Zwischenmenschlich mag es Dinge geben, die unverzeihlich sind. Nicht aber für Gott.

Und man kann sich fragen: War die Konfrontation durch Gott wirklich notwendig? Wäre es nicht besser gewesen, wenn Jona nach Tarschisch geflohen wäre?  Aus einer psychologischen Perspektive macht es Sinn, sich behutsamund zu seiner Zeit mit emotionalen Wunden und Verletzungen auseinanderzusetzen. Denn unverarbeitete Emotionen und Erfahrungen aus der Vergangenheit, beeinflussen, wie wir heute über uns denken, wie wir mit Stress umgehen können, wie es um unsere Konzentrationsfähigkeit steht und wie wir Beziehungen mit anderen gestalten. Darüber hinaus: Was für ein Leben wäre das für Jona gewesen in der Fremde, allein in Tarschisch? Ein Leben dauernd auf der Flucht, vor sich selbst, vor seiner Berufung und vor Gott?

Sich seinem Trauma, seinen inneren Verletzungen zu stellen, hilft Jona, mit dem Schrecken und dem Unsagbarem umzugehen. Kein Wunder, ist er nach seinem Marsch durch die Stadt erschöpft. Die Konfrontation hat ihn ausgelaugt. Reizüberflutet zieht er sich zurück. Der verwundete Jona, der im Inneren zutiefst Verletzte, wünscht sich den Tod.

Doch die Jonageschichte endet hier noch nicht. Gott schenkt dem erschöpften und verwundeten Jona wieder Freude. Als Gabe Gottes wächst ein Rizinus. Jona wird Kühlung und Schatten zuteil. Gott will ihm Linderung gewähren für seine hitzige Wut, seinen entbrannten Zorn. Ja, Gott, der sich und sein Handeln verstanden wissen will, der in Beziehung tritt mit dem Menschen, tritt hier in einen Dialog mit Jona. Indem Gott ein Rizinus wachsen und verdorren lässt, lässt er Jona teilhaben an einer göttlichen Erfahrung: Gott lässt Jona die Freude über ein Lebewesen – hier eine Pflanze, dort Menschen und Tier – und den Schmerz über deren Verderben spüren. Und so endet die Jonageschichte mit einer bewusst offen gelassenen Frage Gottes: „Jona, Dir tut es leid um den Rizinus, um den du dich nicht bemüht und den du nicht grossgezogen hast, der in einer Nacht geworden und in einer Nacht zugrunde gegangen ist. Und da sollte es mir nicht leidtun um Ninive, die grosse Stadt, in der über hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und um die vielen Tiere?“

Wissen Sie, wenn ich lese, wie Jona (mit gewissen Umwegen) nach Niniveh zieht, dann bin ich tief beeindruckt: Jona überwindet seine Angst, er stellt sich seiner Vergangenheit, er durchbricht sein Trauma. Und Gott ist mit dabei, als einfühlsamer Seelsorger und Therapeut. Gott begleitet Jona auf seinem Weg. Er lässt ihn nicht im Stich. Weder im dunklen Bauch des Fisches noch in der übergrossen und bedrohlichen Stadt Niniveh. Gott wirkt hier als Seelsorger, wie ein erfahrener Therapeut. Die harte Konfrontation ist heilsam. Sie ist freisetzend. Ja, liebevoll und treu begleitet Gott Jona auch auf Umwegen und traut ihm zu, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Gott verlässt Jona nicht, auch als dieser sterben will, ist er da. Und Gott stellt Jona eine fast therapeutische Frage: „Ist es recht von dir, so zornig zu sein?“

Gott verlangt nichts von Jona, was er nicht selbst bereit war zu geben. Gott selbst kehrt um, er führt das angedrohte Leid nicht aus, er vollzieht die Strafe nicht. Es reut Gott und er lässt sich berühren von der grossen Reue der Menschen und Tiere in Niniveh. Und Niniveh wird verschont. Gottes unerhörte Grosszügigkeit triumphiert. Gottes radikale Liebe siegt.

Gott verlangt auch viel von uns, hier und heute: Denn Gott will der Gott aller Menschen sein. Gott handelt auch für unsere Feinde gnädig und liebevoll und ist selbst Assur barmherzig! Gottes Güte und Zuwendung lässt sich nicht fassen, noch messen. Und vielleicht fragt Gott auch uns, heute: „Ist es recht von dir, so zornig zu sein?“ Das mag im Angesicht eines Aggressionskrieges und im Wissen um persönliche Verletzungen, eine Zumutung sein. Doch wie Jona, traut Gott auch uns viel zu. Gott traut uns zu, dass wir unsere Ängste überwinden, uns unserer Vergangenheit stellen und Traumata durchbrechen. Dass weder Krieg noch Hass das letzte Wort haben wird. Wenn die Zeit reif ist, können wir die Orte unserer Verletzungen neu begehen und mit neuen Inhalten und Erinnerungen füllen. Das bedeutet neue Bewegungsfreiheit gewinnen! Das heisst weiten Raum erhalten! Das ist Freiheit.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesu! Amen.

Anna Lerch VDM, geb. 1992, ordinierte Theologin, seit 2022 als Doktorandin und Assistentin in der Historischen Theologie an der Universität Bern (Schweiz) tätig.

anna.lerch@unibe.ch

Liedvorschläge:

-„Weit wie das Meer ist Gottes grosse Liebe“, Musik von Lars Åke Lundberg 1968 (Reformiertes Gesangbuch 700,1-4)

-„Meine engen Grenzen“, Musik von Winfried Heurich 1981

Passendes Psalmwort:

Ps 36,6-10

[1] Jona wurde in der Christentumsgeschichte immer wieder als störrischer Prophet, als lächerliche Jude, der Gott und seinen Auftrag missversteht und der den Völkern die Güte und Verschonung Gottes nicht gönnt, missverstanden. Diese Propheten und judenfeindliche Interpretation des Textes gilt es ausdrücklich zu vermeiden und sich für das getane Unrecht, die ungebührliche Verunglimpfung, zu entschuldigen.

[2] Mit Prof. Dr. Irmtraut Fischer (Wien) lese ich die Geschichte mit der Brille der Traumahermeneutik, da dies ein neues Verständnis der Jona-Geschichte eröffnet und auch die Brücke zur Gegenwart möglich macht. Ich entscheide mich unter Einbezug anderer exegetischer Erkenntnisse für diese Akzentsetzung in der Predigt. Vgl. Irmtraut Fischer: Jona (Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament), Kohlhammer 2024 (noch nicht erschienen, vorbestellbar).

Weitere grundlegende exegetische Erkenntnisse: Obwohl die Prophetenerzählung eine assyrerzeitliche Szenerie aufweist, ist die Entstehung wohl auf die Ptolemäerzeit (3. Jh. v. Chr.) zu datieren (vgl. Prof. Dr. Konrad Schmid, Zürich). Dafür sprechen unter anderem die schriftgelehrte Prägung, das darin transportierte universale Gottesbild und die Bezüge zur griechischen Mythologie (Arion Sage, Herakles und Perseus und ein alter Sonnenmythos). Der Protagonist ist in 2Kön 14,25 erwähnt und im NT ist das Jona-Zeichen von Mt und Lk (Mt 12,39f; 16,4; Lk 11,29f) aufgenommen. Die typologische Auslegung von Jona (Verschlucken und Ausspeien Jonas durch einen Fisch) und Tod und Auferstehung Jesu Christi geht also auf die neutestamentliche Zeit zurück. Zentral für die Prophetenerzählung ist, dass Umkehr und Busse der Bewohner des assyrischen Niniveh die Reue Gottes zur Folge hat. Damit reflektiert der Text das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern. So wird das altbekannte „Schuld-Strafe-Syndrom“ von Gott durchbrochen und es wird weiter die (gnädige) Freiheit Gottes betont.

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