Konstruktives Unbehagen

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Konstruktives Unbehagen

Predigt zu Apostelgeschichte 4,32-37 | verfasst von Simon Gebs |

 

Liebe Gemeinde,

ich lade sie zu Beginn zu einem kleinen Gedankenexperiment ein. Wir – Sie sind eine davon – sitzen an einem grossen Tisch in einem doch etwas gehobenen Restaurant, was sogar Corona kompatibel ist, denn jetzt dürfen ja wieder mehr als 4 Personen an einem Tisch sitzen. Sie gehören zu den Vermögenderen, wählen das 5 Gang Menu, 126 Fr., ihre Partnerin/Partner ebenso, vom Hummersüppchen, Zanderfilet an Safran Risotto über das Angusfilet aus Andeer bis zur traumhaft kreativen Rhabarber Variation. Dazu zu jedem Gang der entsprechende Wein. Das befreundete Paar ist bereits auffallend ruhiger beim Studieren des Menüs und bestellt zurückhaltender, 3 Gänge, Suppe und Vorspeise, die günstigste Hauptspeise, dazu je ein Glas Wein. Nummer 5 beschränkt sich auf einen Salat und Hauptspeise, Nummer 6 teilt sichtlich geniert mit, dass sie sich nicht so gut fühle. Sie bestellt einfach ein wenig Wasser. Sie erlaube sich aber, etwas von hausgemachten Tomaten- oder Olivenbrot zu nehmen. Die Serviceangestellte nimmt souverän die Bestellung auf und verlässt den Tisch Richtung Küche. Am Tisch herrscht ein betretenes, verlegenes Schweigen, allen 6 ist bewusst, was gerade Sache ist. Der anschliessende Versuch einer einigermassen sinnvollen Konversation schlägt fehl.

Dieses tiefe Gefühl der Verlegenheit des Privilegierten, liebe Gemeinde, ergreift mich bei der Lektüre dieses Berichtes der urchristlichen Gütergemeinschaft. Ich komme mir vor, wie einer, der sich ständig das 5 Gang Menü leisten kann, gleichzeitig aber weiss, dass Menschen an demselben Tisch sitzen, die sich knapp Brot und Wasser leisten können.

Unser Predigttext berichtet: «sie waren ein Herz und eine Seele, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, kein einziger nannte etwas von dem, was er besass, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.» Paradiesische Zustände schildert uns hier die Bibel. Das «Wir» wird gross geschrieben, das «Ich» klein. Wenn jemand in Not gerät, erachtet es die Gemeinschaft als Selbstverständlichkeit, diese Not aufzufangen. Dafür werden ganze Äcker oder Häuser verkauft. Und dies, so behauptet Lukas, nicht aus einem quasi urchristlich-kommunistischem Gruppenzwang, auch nicht wegen einer straff organisierten Verordnung von oben, sondern in selbstgewählter Freiheit, zutiefst inspiriert von der Ethik Jesu, die immer noch sehr präsent gewesen sein muss.

Nun, was macht diese Beschreibung dieses urchristlichen Ideals des Teilens mit Ihnen? Löst sie bei Ihnen auch so was wie Unbehagen aus? Oder formiert sich in Ihnen bereits heftiger Widerstand? «Unglaublich naiv, die Geschichte hat doch gezeigt, dass ein solch sozialistisches Gehabe nicht funktioniert? Theoretisch denkbar, ja wünschbar, aber der Mensch ist dazu schlicht nicht fähig. Unser ganzes Wirtschaftssystem würde mit diesem träumerischen Verhalten innert kürzester Zeit kollabieren.

Und Sie haben Recht. Auch das urchristliche Sozialexperiment ist de facto gescheitert. Die Apostelgeschichte selbst berichtet schon bald, wie einzelne einen Acker verkauften, einen Teil des Gewinns jedoch in ihre Tasche fliessen liessen. Und schon bald gab es massive Spannungen, weil einzelne in der Gemeinde vergessen gingen. Es «menschelet halt überall» würden an dieser Stelle viele schmunzelnd hinzufügen.

Und wenn wir nur schon einen kurzen Blick in die Anfänge der Kirchengeschichte werfen, dann zeigt sich bereits früh das Unbehagen im Umgang mit Besitz und Vermögen. Einerseits war die kritische Haltung Jesu zu Besitz und Reichtum nicht wegzudiskutieren, andererseits wollte man als Kirche aber auch anschlussfähig an die Gesellschaft bleiben, niederschwellig sozusagen. Vermögen und Besitz in Bausch und Bogen zu verurteilen, hätte einen massiven Attraktionsverlust des neuen Glaubens bedeutet. So ist es wohl nachzuvollziehen, dass das Ideal schon bald an Klöster, Nonnen und Mönche delegiert wurde, die Kirche selbst aber einen pragmatischen Umgang mit Vermögen pflegen konnte.

So lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass das auf Gütergemeinschaft basierende Experiment, wie es die Bibel beschreibt, im Grossen und Ganzen gescheitert ist.

 

Also, tief durchatmen, wir sind nicht die einzigen, die irgendwie einen pragmatischen Umgang mit dieser urchristlichen Radikalität gefunden haben. Wir befinden uns in guter Gesellschaft…

Und doch, liebe Mitdenkende, ich meine, es lohnt sich immer wieder, die Härte und Radikalität biblischer Texte nicht vorschnell weichzukochen, uns ihrer eigentlichen Unzumutbarkeit immer wieder auszusetzen.

Denn dieser biblische Bericht, so utopisch er ist, so wenig sein Ideal durchgehalten werden konnte, er erfüllt m.E. doch eine eminent wichtige Funktion, indem er die unbequeme Frage immer wieder stellt: «Wie hast du’s mit Besitz? Welchen Stellenwert hat der Kontostand oder Aktienkurs in deinem Leben? Wieviel Reserve brauchst du, um dich sicher zu fühlen? Wo wäre bei dir ein Entsichern, ein Loslassen dran, das in ein Teilen mit andern münden würde?

 

 

Ebenso finde ich es bemerkenswert, dass Jesus und die frühe Kirche nicht die einzigen sind, die dieses Unbehagen gegenüber Reichtum und Vermögen und seinen Auswirkungen auf das Miteinander umtreibt. Auch zahlreiche griechische Philosophen geben immer wieder zu bedenken, welchen Preis eine ausgeprägte Kultur des Privaten auf eine Gesellschaft haben kann. Ja, sie teilen die Ahnung, dass «Besitz uns Menschen in Besitz nehmen kann». Platon forderte daher den Verzicht auf Gold, Silber und Häuser, Aristoteles formulierte ähnlich wie die Apostelgeschichte: in Gemeinschaft besteht Freundschaft. Und Pythagoras verbannte bei seinen Jüngern Privatbesitz gänzlich. Und allesamt glorifizieren sie, ähnlich wie wir es heutzutage gelegentlich auf indigene Stämme im Amazonas oder auf Borneo, sogenannt primitive Völker, die weitestgehend auf Gütergemeinschaft basieren und vor dem Gedanken von Privateigentum weitgehend verschont geblieben sind. Ich vermute, diese Projektion weist vielmehr auf eine archaische Ahnung hin: Eine Ahnung dessen, was uns verloren gegangen ist. Offenbar schlummert zeit- und kulturübergreifend eine tiefe Sehnsucht in uns, eine Vorstellung, dass es noch anders gehen könnte und müsste, wenn dieses «Mein und Dein» überwunden ist und einem grossen «Wir» Platz macht.

Umso spannender ist es, dass sich auch in der Kirchengeschichte regelmässig Kontrastgesellschaften bildeten, die diese «Wir» konkret umzusetzen versuchen und dieses biblische «nicht einer nannte etwas von dem, das er besass, sein Eigentum» wortwörtlich nahmen. Bettelorden, Benediktiner und Franziskaner, aber auch radikale Nebenströmungen im Protestantismus, die sich stark an dieser urchristlichen Ethik der Gemeinschaft und des Teilens ausgerichtet haben: Täufer, Hutterer, Quäker. Nicht zuletzt auch bei uns in Zollikon, wo die Täufer unter der Leitung von Konrad Grebel und Philipp Manz im Kleindorf die Türschlösser ihrer Häuser demontierten, um deutlich zu signalisieren, dass alles, allen gehört.

 

Der Verfasser der Apostelgeschichte war sich wohl dieser urmenschlichen Ambivalenz bewusst. Einerseits können wir nicht ohne eigenen Besitz. Aber mit wachsender Ungleichheit handeln wir uns auch wieder Probleme ein. Schon in der Bibel wird dieser Zwiespalt sichtbar. Einerseits heisst es etwa im 5. Buch Moses beinahe träumerisch:  «Arme wird es in deinem Land nicht geben» (Dt 15,4), wenige Verse später aber wird sofort korrigiert: «Denn es wird immer Arme geben in deinem Land.» (Dt 15,11). Mit andern Worten: diese Grundspannung scheint uralt zu sein: Pragmatisch bleiben oder diese Unbehagen zulassen, dass es eigentlich keine Armen geben sollte, es im Grunde genommen das Beste wäre, wenn alles allen gehören würde.

Dieses Unbehagen, welches das jesuanisch-urchristliche Ideal in uns auslöst, mag störend sein, ich erachte es jedoch als wichtigen konstruktiven Störfaktor. Die Bibel soll ja nicht nur ein Trostbuch sein, sondern uns und unsere Lebenspraxis auch in Frage stellen.

Wir leben im Jahr 2020, in einem der reichsten Länder der Welt, in einem der reichsten Kantone der Schweiz, in einer der reichsten Gemeinden dieses Kantons. Der Ausbruch der Pandemie hat gezeigt, wie privilegiert wir sind, hier zu leben. Unser Gesundheitssystem funktioniert, das System der Kurzarbeit hat vieles erst mal aufgefangen. Ich kann dafür nur dankbar sein, verdient habe ich es nicht wirklich.

Gleichzeitig muss uns bewusst sein, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Auch wenn wir zur Zeit Pandemie im Griff haben, die Folgen werden immens sein: Tausende von Konkursen in der Tourismus- Modebranche, Massenentlassungen in flugnahen Betrieben, die Zahl der Menschen, die in finanziell prekären Verhältnissen werden leben müssen, wird auch bei uns deutlich zunehmen.  Bilder von Menschen, die in Genf oder Zürich für Essen stundenlang Schlange gestanden sind, sind für mich ein Vorgeschmack dessen, was in den nächsten Monaten auf uns zukommen wird. Und dies ist erst die sehr begrenzte Perspektive auf unser reiches Land. Wie aber werden die Auswirkungen nur schon in Italien oder Spanien aussehen, und erst recht in Syrien, Bangladesch oder Äthiopien? Damit drängt sich die Frage auf: Wie halten wir es mit diesem urchristlichen Geist des Teilens? Um mit dem Bild des Tisches, wen lade ich innerlich an meinen Tisch? Definiere ich diesen Tisch eng, familiär? Hört meine Zuständigkeit bei meiner Frau und meinen Kindern auf? Verstehe ich Tischgemeinschaft als etwas Nationales, in der es jetzt um ein nationales Zusammenstehen und gemeinsames Tragen der Lasten geht? Oder nehme ich eine globale Perspektive ein, vor meinem inneren Auge das Bild einer Welttischgemeinschaft?

Klar wir werden uns stets zwischen zwei Brennpunkten bewegen. Auf der einen Seite dieses eher unterkühlte «es wird immer Arme geben», auf der andern Seite dieses wärmere, herzlichere «im Grunde dürfte es Notleidende nicht geben unter uns.». Und hier, meine ich, tun wir gut daran, eine solche sozialutopische Geschichte wie Apg 4 nicht vorschnell zu zähmen, sondern sie mit ihrem kritischen Potenzial als Stachel und konstruktiver Störfaktor zuzulassen. Auch wenn wir nicht alle Nöte dieser Welt auffangen werden können, Handlungsspielraum haben wir genug: wenn wir einem «Sans Papier» auf der Strasse begegnen, wenn ein Spendenaufruf von Caritas oder HEKS im Briefkasten liegt, wenn Abstimmungen anstehen, die sich für mehr Gerechtigkeit und Ausgleich einsetzen.

Die Bibel ermutigt uns dabei, die von Jesus kritisch aufgeworfene Frage: «wie hast du’s mit Besitz?» immer wieder zuzulassen, uns verunsichern und auch von ihr bewegen zu lassen. Vielleicht nicht gerade viel, wenig aber auch nicht.  Amen.

 

 

Pfr. Simon Gebs

Zollikon ZH

simon.gebs@ref-zollikon.ch

 

Simon Gebs, geb. 1965, Pfarrer der reformierten Kirche des Kantons Zürich, seit 1996

tätig als Gemeindepfarrer in Zollikon, Vizedekan im Pfarrkapitel Meilen, Teamleiter Notfallseelsorge Kt. ZH, «Wort zum Sonntag» Sprecher am Schweizer Fernsehen seit Oktober 2018.

 

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