Zeit des Geistes

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Zeit des Geistes

1. Korinther 12,1-11; Lukas 19,41-48 (dänische Perikopenordnung) | Von Christiane Gammeltoft-Hansen |

 Man sagt, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann. Was geschehen ist, ist geschehen.

In der großen Geschichte, der Weltgeschichte, löst das eine Ereignis das andere ab in einem fortschreitenden Ablauf. Ein Jahr folgt dem anderen, ein Jahrhundert dem anderen. Wir können zwar auf die Idee kommen zu sagen: Es geht zurück. Aber das tut es ja nicht. Es geht immer vorwärts.

In der kleinen Geschichte, in unserer persönlichen Geschichte, gilt dasselbe. Unsere eigene Geschichte verläuft auch vorwärts. Es begann mit einer Geburt, und nun sind wir da. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Alte, das ist der lineare Ablauf des Menschenlebens. Und bei diesem Zeitverlauf ist das geschehen, was geschehen ist. Manchmal können wir uns vielleicht so verhalten, als wäre das nicht so, aber wenn wir erst ein gewisses Alter erreicht haben, werden wir keine Kinder mehr.

Neben der großen und der kleinen Geschichte gibt es jedoch eine dritte Geschichte. Das ist die Geschichte des Geistes, und die nimmt es nicht so genau mit der Reihenfolge. Die Geschichte des Geistes hat ein ganz anderes Zeitverständnis. In der Geschichte des Geistes ist es deshalb nicht sicher, wenn etwas vorbei ist, dass es nicht wieder neu beginnen kann. In der Bibel finden wir deshalb immer wieder neue Wiederhollungen von altem Stoff. Und als ein Engel in der letzten Schrift der Bibel, der Offenbarung des Johannes, ankündigt, dass die Zeit vorbei ist, und man dem Engel glaubt, folgen danach dennoch zwölf neue Kapitel und eine Vision darüber, dass es nicht vorbei ist, dass es erst richtig anfängt und dass ein neues Jerusalem kommt.

In der Geschichte des Geistes ist das, was geschehen ist, nicht notwendigerweise geschehen. Oder ja, das ist es. Aber es ist nicht in dem Sinne geschehen, dass es ein Geschick ist, das nun für immer den Gang der Welt und die Geschichte des Menschen bestimmen wird.

Der Psychologe Jung, der sich mit den bewussten und unbewussten Schichten beschäftigt hat und unsere Träume deutete, hat gesagt: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Um etwas davon geht es in der Geschichte des Geistes. In der Geschichte des Geistes ist es nie zu spät. In der Geschichte des Geistes geht es um ein Verständnis von Zeit, wo man sehr wohl zurückkehren kann oder wo es was auch gleichzeitig existieren kann.

Wie nun bei der Ankunft Jesu nach Jerusalem. Wenn es nur eine lineare Zeit gäbe, wo wie uns von A nach B bewegen und nichts anderes als das, kann seine Ankunft etwas übertrieben wirken. Es ist ja ein ganz gewöhnlicher Tag wie viele andere in einer Stadt, wo Menschen ihren Geschäften nachgehen. Gestern war gestern, was geschehen ist, ist geschehen. Und nun sind wir hier, so muss das sein. Aber in der Geschichte des Geistes laufen die Dinge zusammen, und deshalb können Vergangenheit und Zukunft plötzlich auch mitreden.

Als Jesus in die Stadt kommt, sieht er sie deshalb nicht nur so, wie sie gerade an diesem Tag aussieht. Er sieht ihr Potential, was sie prägt. Aber er sieht auch, wohin ihr Weg geht, und dabei kommen ihm die Tränen.

Im Sprung voraus in der Zeit sieht Jesus den Untergang der Stadt. Nun liegt sie da mit ihrer goldenen Kuppel und ihrem bunten Straßenleben. Aber da werden Tage kommen, wo kein Stein auf dem anderen zurückbleiben wird in ihr.

Das ist einer der Augenblicke, in denen Gott sehr menschlich erscheint. Er weint. Das ist kein unberührbarer Gott, der sich in seinen Himmel zurückgezogen hat, sondern ein Gott, der sich in unsere eigene Wirklichkeit begibt und sich von dem bewegen lässt, was er sieht.

Jesus weint, weil die Stadt und ihre Einwohner ihn etwas angehen. Er stellt sich vielleicht dadurch nicht groß dar – ein Gott mit feuchten Wangen. Aber wer würde er sein, wenn er nicht weinte? Wer kann ein Kind verstehen, das weint, wenn man nicht selbst geweint hat?  Wie sollte das Sinn machen, davon zu singen, dass Gott auf die „Augen haucht, die weinen“[1], wenn Tränen fremd wären für Gott?

Und es besteht Grund zum Weinen. All das, was so viel versprach und trotzdem nicht geschah. Alle die Chancen, die verpasst wurden, all die Vorhaben und unfertigen Lösungen. Am Anfang schuf Gott die Erde, und er sah, dass sie gut war. Aber seitdem hat es bei den Menschen gehapert mit der Verwaltung dessen, was gut war.

Noch einmal, es kann vielleicht an so einem ganz gewöhnlichen Tage übertrieben wirken, aber in der Geschichte des Geistes können einem sehr wohl die Tränen kommen, weil man hinter die Gegenwart hindurchschauen kann oder sie in einer größeren Perspektive sehen kann. Man kann z.B. ahnen, dass das Straßenleben eines ganz gewöhnlichen Tages sich an anderen Tagen sehr wohl verwandeln kann und zu einem Haufen werden kann, der ruft: Kreuzigt ihn.

Aber im selben Augenblick muss man noch einen Sprung nach vorn machen. Das gebietet uns die Geschichte des Geistes. Denn ja, der Tod erwartet die Menschen in der Stadt, aber das tut die Auferstehung auch. Und wer weiß, vielleicht ist es dies, was die Tränen fließen lässt. Dass sich auch Freude in die Tränen mischt.

In dem gewöhnlichen Ablauf der Geschichte geht es um die Voraussage des Untergangs von Jerusalem. Aber wir leben in der Zeit des Geistes, und hier ist nie von Untergang die Rede, ohne dass auch Leben mit im Spiel ist. Und so wie einmal vor langer Zeit eine Schöpfung war und eine Geburt, kann es in der Zeit des Geistes sehr wohl zu einem neuen Beginn kommen. Ein neues Jerusalem, eine neue Chance, Erlösung,

In der kleinen Geschichte pflegen wir uns an eine bestimmte Version dessen zu binden, was unser Leben ist und geworden ist. Wir sind die, denen etwas gelungen ist, die geglaubt haben – oder auch es ist umgekehrt. In der Geschichte des Geistes können durchaus mehrere Versionen gleichzeitig existieren. Das ist wie mit dieser Stadt, in die Jesus kommt. In der Geschichte des Geistes kann sie ein Fiasko sein und ein Erfolg zugleich. Vergleicht man die kleine Geschichte mit der Geschichte des Geistes, dann macht es deshalb auch Sinn, im gleichen Atemzug von Trauer und Freude zu singen, sich selbst als Zweifler und Gläubigen zu beschreiben, in ein und demselben Gebet zu danken und um Hilfe zu bitten.

In der Geschichte des Geistes existiert eine Gleichzeitigkeit wie nirgends sonst. Hier haben wir ein Buch, das sowohl ein Neues Testament enthält als auch ein Altes Testament und ein Evangelium, wo wir vor und zurückspringen können in der Zeit oder wo sich verschiedene Spuren kreuzen oder auch zuweilen einander folgen können.

Für uns bedeutet das, dass wir uns nicht an eine bestimmte Version dessen binden müssen, was unser Leben ist und was aus ihm geworden ist. Wenn das eine von uns gesagt ist, kann immer etwas anderes hinzugefügt werden.

Es gibt einen sinnlichen Ausdruck für eben diese Spannung und Doppelheit. Das sind die Tränen. Uns können die Tränen kommen vor lauter Lachen. Uns können die Tränen kommen, wenn wir unter physischem oder mentalem Druck zusammenbrechen. Uns können die Tränen kommen, wenn wir eine Möglichkeit verspielt haben. Uns können die Tränen kommen, wenn wie eine neue Chance bekommen.

Jesus weint, und mehr ist nicht erforderlich, damit wir wissen, dass dies die Zeit des Geistes ist.

Amen.

Pastorin Christiane Gammeltoft-Hansen

DK-2000 Frederiksberg

E-mail: cgh(at)km.dk

[1] Zitat aus einem dänischen Morgenlied vin Ingemann: „Nu titte til hinanden“, V. 2.

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