Römer 11,25-32

Römer 11,25-32

Liebe Schwestern und Brüder,

jedes Jahr stellen wir uns in der Kirche der Beziehung zu „Israel“.
Deshalb feiern wir den „Israel-Sonntag“ – immer am
10. Sonntag nach Trinitatis. Wir tun dies zu aller erst als Christen,
als Christen aus verschiedensten Völkern. Ich arbeite für
das lutherische Diasporawerk, den Martin-Luther-Bund. Täglich geht
es mir um die Hilfe und Unterstützung evangelisch-lutherischer
Mitchristen in Frankreich, in Kroatien, in Polen, in Russland, in Litauen
z.B. Um das Verhältnis von Christen aus diesen vielen Völkern
zu „Israel“ geht es also heute.

Und dann natürlich auch darum, welches Verhältnis wir Christen
zu „Israel“ haben, die wir zum deutschen Volk gehören.
Und da brauche ich jetzt nicht die verschiedenen Dimensionen darzustellen.
Sie sind uns bewusst. Ich darf nur festhalten: Es geht trotz allen Bekennermutes
– den es auch gegeben hat und gibt – gerade für uns
als Christen aus dem deutschen Volk um eine Geschichte der Schuld und
des Versagens. Dies lässt sich nicht verdrängen; ja: dies
muss gegenwärtig sein.

Aber nicht nur auf christlicher Seite liegen bei dieser Herausforderung
Vielfalt und Kompliziertheit vor. Dies gilt auch, wenn wir auf „Israel“
schauen. Was ist da gemeint?

Für Paulus ist das eindeutig: Die Gemeinschaft, aus der er selbst
kommt. Alle, die den einzigen Gott glauben – in Judaea, in der
Diaspora, eben auch in Rom selbst. Und da gab es damals manche Unterschiede
zwischen den Juden in Ägypten z.B. und denen in Judaea. Heute nun
ist ebenfalls eine komplexe Vielfalt gegeben: die jüdischen Gemeinden
in unserer Nachbarschaft – und zwar die jüdischen Gemeinden
in ihrer Vielfalt selbst vom Reformjudentum bis hin zum orthodoxen Judentum
–, in der Nachbarschaft aller christlicher Gemeinden, egal in
welchen Staaten, dann die Mitbürger, die sich aus jüdischem
Erbe bestimmen, ohne selber zu einer Kultusgemeinde zu gehören
(auch sie!), der Staat Israel dann und seine Bürger, seien sie
nun als Juden jüdischen Glaubens oder nicht. Auch wenn sich jetzt
die eine oder andere, der eine oder andere von Ihnen als Leserin und
Leser innerlich wehrt, halte ich fest: Mit dieser Komplexität des
Themas müssen wir rechnen. Sind dann überhaupt noch sinnvolle
Aussagen, ja: sinnvolle Fragen, möglich?

Die berühmte Passage unseres Predigttextes ist aus dem Brief des
Paulus, den dieser vielleicht im Jahr 56 n.Chr. aus Korinth an die Gemeinde
in Rom geschrieben hatte. Hier schreibt ein Christ, der aus der glaubenden
jüdischen Gemeinde hervorgegangen ist. Und er schreibt an eine
christliche Gemeinde, zu der viele Christen aus nichtjüdischen
Zusammenhängen, aber auch viele Christen gehören, die vorher
Juden waren. Die Gemeinschaft seiner eigenen Glaubensherkunft ist für
ihn eine Gemeinschaft, die von Gott her bestimmt ist: Gott hat den „Bund“
geschlossen. Gott hält an diesem „Bund“ fest. Paulus
hat also eine interessante Hoffnungsdimension in seiner Argumentation.
Ich will es einmal mit eigenen Worten sagen:

Auch wenn sich eine Frau oder ein Mann der jüdischen Gemeinschaft
gegen den Glauben an Gott entscheiden – aus Verzweiflung, aus
Erschrecken über unsägliches Leid (Sie merken, liebe Leserin,
lieber Leser, welche Schreckensgeschichte ich aufklingen lasse!) –,
gilt das Bekenntnis Gottes zu dieser Frau, zu diesem Mann. Die Gaben
und die Berufung bleiben gültig.

So kann über Christen eigentlich nicht geredet werden. Und das
tut – wenn ich es richtig verstanden habe – Paulus auch
nicht. Christen sind diejenigen Frauen und Männer – z.B.
aus dem Kreis der Deutschen (also: ich, also: Sie) –, die sich
für den Glauben, die sich für die Kirche entschieden haben.
Wenn ich die Kategorie an uns anlege, die Paulus für seine jüdischen
Mitschwestern und Mitbrüder verwendet, kann ich sagen: Es sind
diejenigen, die den Anruf Gottes – in vielfältiger Gestalt:
durch die Eltern, durch die Pfarrerin, durch Freunde – für
sich annehmen und sich auf den Weg des Glaubens wagen. Aber es sind
nicht diejenigen Deutschen oder Polen oder Tschechen im Blick, die nicht
glauben.

Hier ist ein großer Unterschied zwischen Nichtjuden und Juden.
Für Juden bleiben die Zuwendungen Gottes erhalten. Von Gott her
verlieren sie ihre Gültigkeit nicht. Für Nichtjuden besteht
das Angebot, durch den Glauben an Christus in gleiche Zuwendungen einzuteten.
Das hat Paulus im Blick. Für ihn, als so spektakulär zum Christen
gewordenen Juden, kommt wohl gar nicht in Frage, dass Nichtjuden auch
Juden werden könnten. Auch diese Möglichkeit gibt es natürlich.
Wir haben sie zu tolerieren.

Auf den Weg des Glaubens wagen. – Dieses Stichwort führt
weiter. Paulus nennt den theologischen Schlüssel zweimal in seiner
Argumentation – einmal für die Christen, einmal für
die Juden: ihr „nun aber Barmherzigkeit erlangt habt“, sowie:
„damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen“.

Es geht nicht um Besitz, nicht darum, dass wir etwas fest hätten
– den Glauben, die Zuwendung Gottes, Erfolg oder anderes. Der
Schlüsselbegriff für Paulus ist, dass wir – Christen,
die früher Nichtjuden waren, Christen, die früher Juden waren,
und Juden, die Juden bleiben, sowie Nichtjuden, die Juden werden –
Barmherzigkeit finden, dass wir uns nicht von unseren Fähigkeiten
und Leistungen, nicht von unserem Glauben her bestimmen, sondern dass
wir uns von der Zuwendung Gottes her bestimmen. Und dann kann keiner
über den anderen urteilen. Dann stehen wir alle als Empfangende
voll Staunen über das da, was uns anvertraut ist.

Vielleicht ist das ein Sinn dieses „Israel-Sonntags“:
Nicht, dass wir große Denk- und Identitätsprobleme lösen.
Sondern dass wir staunend erkennen, was uns selbst angeboten wird.
Nicht, dass wir die Größe unseres eigenen Glaubens als Auftrag
und Aufgabe formulieren, sondern die Größe Gottes:

„Wenn es nicht auf einen großen Glauben ankommt, sondern
auf den Glauben an die Größe Gottes, kann es für die
Gläubigen eigentlich auch nicht darum gehen, dass ihr Glaube stärker
wird, sondern nur darum, dass sie zunehmend die Stärke ihres Gottes
erkennen – und gerade darin liegt die Kraft des Glaubens“
(Hans-Joachim Eckstein).

Inbegriff der Größe Gottes ist die unbegreifliche Barmherzigkeit,
die er jeder und jedem von uns entgegenbringt. Nach dem Ende der Sowjetunion
hat ein russischer Denker die wichtige Aufgabe formuliert: „Wir
müssen das Wort und die Sache der Barmherzigkeit wieder lernen.“
Die Ideologie der Bolschewiki hat zur Unbarmherzigkeit angeleitet, hat
den Menschen die Barmherzigkeit ausgetrieben. Wer sie neu lernt –
gerade die Barmherzigkeit mit denen, die an einem selbst schuldig geworden
sind –, begreift etwas von dem Geheimnis, das unsere Welt trägt.
Amen.

Dr. Rainer Stahl
Generalsekretaer des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: rs@martin-luther-bund.de

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