Römer 12, 17-21

Römer 12, 17-21

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


4. Sonntag nach
Trinitatis, 23. Juni 2002
Predigt über Römer 12, 17-21, verfaßt von Georg Plasger


I

Der bekannte evangelische Theologe Ernst Lange hat einmal eine Auslegung
der zehn Gebote unter dem Titel „Die zehn großen Freiheiten“
herausgegeben. In der Einleitung schreibt er: „Auf die Frage, was
das Christentum sei, antwortete ein Junge: ‚Christentum ist das,
was man nicht darf.'“ (E. Lange, Die zehn großen Freiheiten,
Gelnhausen 15. Aufl., 1982, 5) – Christentum ist das, was man nicht darf.
Dieses Verständnis hängt dem christlichen Glauben an, und auch
dann, wenn die negative Aussage vermieden wird, heißt es: Christentum
ist das, was man tun muss oder soll. Das klingt nach Moral.

Und, liebe Gemeinde, so sind in der Tat unsere eben gehörten Sätze
aus dem Römerbrief des Paulus zu verstehen. „Vergeltet nicht
Böses mit Bösem. Tut Gutes. Haltet Frieden. Richtet nicht! Kümmere
dich um die Schwachen. Und tu nichts Böses.“ Man kann diese
Sätze verstehen als Ermahnungen, die uns mit auf unseren Lebensweg
gegeben werden, die aber so allgemein klingen, dass wir sie nicht besonders
ernst nehmen können. Und vielleicht mit einem „Ja, Mama“
darauf reagieren. Weil sie so klingen wie: „Putz dir die Nase, Junge.
Und achte darauf, dass deine Socken kein Loch haben. Und benimm dich ordentlich!“
Moral, die uns mitgegeben wird. Aber die uns nicht wirklich hilft.

Will Paulus der Gemeinde in Rom, der diese Ermahnungen zugedacht sind,
ihr ein paar gute oder doch zumindest gutgemeinte Appelle mit auf den
Weg geben: „Benehmt euch schön ordentlich!?“ Wenn Ermahnungen
so aus dem Zusammenhang genommen werden, dann ist es möglich sie
genau so zu verstehen wie die gutgemeinten Wünsche der Mutter, die
es ihrem Kind auf den Weg in die Ferien hinterher ruft. Ermahnungen, aus
dem Zusammenhang genommen, helfen nicht. Und wenn der christliche Glaube
in vergangenen Zeiten manchmal meinte: „Entscheidend ist die Moral!“,
dann hat er ein Missverständnis zumindest provoziert, wenn nicht
verursacht.

Bei Paulus stehen diese Sätze nicht für sich da. Und deshalb
ist es auch gefährlich, diese Sätze einfach so herauszuschneiden
und nur gute Wünsche oder Ermahnungen zu hören. Denn dann wird
gar nicht gehört, von wem und warum hier etwas gesagt wird. An einer
Stelle in unseren Versen wird das deutlich. Dort heißt es: „Mein
ist die Rache, spricht der Herr.“ Mein ist die Rache, spricht Gott.
Achtet auf das, was ich tue, und dann könnt ihr auch sehen, was diese
Ermahnungen für euch bedeuten.

Anders gesagt: Es gilt, auf die Voraussetzung unserer Verse zu hören.

II

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem!“ Das ist deshalb
gesagt, weil wir sagen können: „Gott vergilt nicht Böses
mit Bösem.“ Das ist das, warum wir christliche Gemeinde sind:
Gott handelt nicht mit uns so, wie es unserem Handeln zukäme. Die
Bibel beschreibt den Menschen realistisch. Es heißt nicht: „Wir
müssen den Menschen bewundern!“, sondern es heißt von
Anfang der Bibel an, dass der Mensch sich nicht so verhält, wie er
es soll, wie es gut wäre. Und es wird auch keine Ausnahme gemacht:
alle Menschen sind solche, die es Gott nicht recht machen. Und wir wissen
es ja, was dann in der Bibel geschieht. Anstatt dass Gott die Bosheit
der Menschen bestraft, nimmt er die Schuld auf sich. Gott vergilt Böses
mit Gutem. Wo wir uns gegen Gott richten, wendet er sich uns trotzdem
zu. Davon leben wir. Gott wendet uns in Jesus Christus sein freundliches
Angesicht zu und lässt sich hinrichten an unserer Stelle. Gott ist
aufs Gute bedacht, nicht aufs Böse. Wir haben einen menschenfreundlichen
Gott, der uns zugute Mensch wird. Der Friede zwischen Gott und Mensch,
den der Mensch in seiner Sünde gebrochen hat, wird von Gott wiederhergestellt.
Gott macht Frieden zwischen sich und uns. „Christus“ist unser
Friede!“, so heißt es in der Bibel an anderer Stelle. Und Gottes
Reaktion auf unsere Schuld ist nicht, dass er einfach weggucken würde;
er übernimmt sie. Und wenn dann unsere Verse dazu auffordern, die
hungernden und dürstenden Feinde zu speisen und zu tränken –
dann ist ja genau das der Inhalt des Abendmahls. Wir sind Gäste am
Tische Jesu Christi. Wir dürfen essen und trinken, auch wenn wir
eine Einladung nicht verdient haben. Gott lädt uns ein zu seinem
fest. Gott hat das Böse überwunden.

Unsere Verse – sie reden zuerst und eigentlich von Gott. Er hat das Böse
überwunden. Er ist Mensch geworden, uns zugute. Er ist am Kreuz gestorben
– uns zugute. Und er ist auferstanden – uns zugute. Gott hat Böses
nicht mit Bösem vergolten, sondern hat uns reich beschenkt. Das ist
die Mitte unseres Glaubens, davon kommen wir her. Immer wieder neu. Und
das bekennen wir in unserem Gottesdienst, dafür loben wir Gott.

III

Der Römerbrief, dem unsere Verse entstammen, hat elf Kapitel lang
von Gottes Handeln gesprochen. Gott hat uns lieb. Trotz unserer Schuld.
Und dann kommt das zwölfte Kapitel im Römerbrief. Hier fragt
Paulus jetzt danach, wie wir uns denn diesem uns reich machenden Gott
entsprechend verhalten. Wie passt unser Leben als Christenmenschen zu
dem, was Gott für uns tut? Und Paulus hat dann eine ganze Menge Ermahnungen
an der Hand. Unsere Verse sind nur ein Ausschnitt. Ich will mit Ihnen
jetzt nicht alle Aussagen durchgehen. Wir könnten Beispiele finden,
die passen, oder auch solche, die nicht passen. Es geht auch nicht um
einen Katalog an Geboten, den wir erfüllen müssten, und wo wir
dann selbstzufrieden sagen könnten: „Jetzt ist es gut. Jetzt
sind wir gut.“ Es geht darum, wer wir sind und wie wir uns verstehen.

„Vergeltet nicht Böses mit Bösem.“ Warum tun Menschen
das, dass sie Böses mit Bösem vergelten. Denn das geschieht
ja immer und überall. Im Kindergarten und in der Schule ist das der
Alltag: Wenn ein Kind getreten wird, tritt es zurück. Und bei uns
Erwachsenen ist es ja nicht anders, nur oft subtiler. Wir bedienen uns
anderer Mittel, wir treten nicht, aber wir reagieren schon. Wer uns weh
tut, dem zeigen wir, was eine Harke ist. „Der kann schon noch was
erleben.“ Ob es im Beruf ist, unter Freunden oder auch innerhalb
von Familien: Wir sorgen schon dafür, dass wir zu unserem Recht kommen.
Denn das ist ja scheinbar unser Recht: zurück treten, wenn wir getreten
worden sind. Wir setzen unser Recht durch, vielleicht weil wir sonst den
Eindruck haben, dass uns das immer wieder passiert. Vielleicht, weil wir
einfach sauer darüber sind, dass jemand anderes sich so etwas herausnimmt.
Warum aber machen wir so etwas? Ist es ein Zeichen von Schwäche,
nicht zu reagieren? Nicht zurückzuschlagen? So bekommen wir es immer
wieder gesagt. „Wehr dich ruhig! Die anderen müssen Dich respektieren,
und das tun sie dann, wenn sie wissen, dass Du Dich wehren kannst.“
Nun reden unsere Verse nicht vom Verzicht auf Selbstverteidigung. Sie
reden nicht davon, dass wir denjenigen, der Böses tut, nicht daran
hindern sollen, dieses Böse zu tun. Aber unsere Verse reden wohl
davon, dass wir einen Kreislauf von Gewalt nicht fördern sollen.
Gewalt erzeugt Gegengewalt, Böses erzeugt wieder Böses. Daraus
kann schnell eine Spirale des Hasses entstehen.

Warum sollen Christenmenschen hier bei dieser Gewaltspirale nicht mitmachen?
Warum sollen sie der Gewalt der Faust die Geste der offenen Hand gegenüberstellen.
Warum sollen sie Frieden stiften und nicht Krieg verursachen? Weil Christen
darum wissen und darauf vertrauen dürfen, dass Gott ihnen beisteht
und selber Friedensstifter ist. „Der Herr ist meine Stärke“,
heißt es immer wieder in der Bibel. „Ich brauche nicht meine
Fäuste gebrauchen. Weder im wörtlichen noch im übertragenen
Sinne. Ich brauche meine Fäuste nicht zu gebrauchen, um meine Stärke
zu demonstrieren, um vor anderen etwas zu gelten. Ich definiere mich nicht
über meine Bosheiten.“ Der Herr ist meine Stärke. Der Herr,
der den Weg in die Niedrigkeit gegangen ist, der verspottet worden ist
und getötet, der ist meine Stärke. Der Herr, der getötet
wurde, dann aber auferweckt, der ist meine Stärke. Der Herr, der
die Kirche und seine Glieder nicht im Stich lässt, sondern ihnen
beisteht, der Herr, der die Welt regiert, auch wenn es nicht so ausseht.
Der Herr, der meine persönliche Zukunft ist und auch die der ganzen
Welt, der ist meine Stärke, auf die ich vertrauen kann – im Leben
und im Sterben.

Weil Christenmenschen von diesem Herrn herkommen, wissen sie um den Kreislauf
des Bösen, wissen sie um die Spirale der Gewalt. Wir brauchen nicht
zu meinen, als wäre eine besonders hoch getragene Nase ein Ausdruck
von Stärke oder besonderer Wichtigkeit. Das ist sie nicht, sondern
nur ein Ausdruck von Schwäche und Wichtigtuerei. Wer nicht die Angst
hat, ständig zu kurz zu kommen, kann sein Herz öffnen für
die Nöte derjenigen Menschen um ihn oder sie herum. Christenmenschen
kommen nicht zu kurz, sie sind reich. Reich Beschenkte. Und darum können
sie die Nähe Gottes weitergeben. Können sie Frieden stiften,
Gutes tun, Menschen, die Speise nötig haben, mit Nahrung versorgen.
Das kann „Brot für die Welt“ sein. Und auch ein gutes Wort
für den, der nach Achtung verlangt. Menschen haben Durst. Nach Wasser.
Und nach anderem. Christenmenschen brauchen nicht nur die Sorge zu haben,
selber genügend zu bekommen, sondern sind in der Lage, andere zu
tränken. Denn sie haben, so heißt es an anderer Stelle in der
Bibel, „das Wasser des Lebens“ zu trinken bekommen. Christen
können das Böse mit Gutem überwinden, weil sie selber überwunden
worden sind.

IV

Diese Bewegung vom Bösen hin zum Guten sieht Paulus als Weg der
Christenmenschen vor. Nicht, weil sie bessere Menschen wären. Sondern
weil sie herkommen vom menschenfreundlichen Gott. Sie sind keine Wundertäter
und auch keine Welterneuerer, sondern, so hat Karl Barth es einmal genannt:
„unentbehrliche kleine Laufburschen und Laufmädchen mit dem
Auftrag, jetzt da, jetzt dort, jetzt so, jetzt anders zu bestellen, was
ihnen anvertraut und anbefohlen ist“. Christenmenschen sind keine
Welterneuerer, sondern Laufburschen und Laufmädchen, die herkommend
von Gottes Güte selber diese Güte weitertragen. Und zwar, indem
sie selber so handeln, wie Gott es ihnen vorgemacht hat. Laufburschen
und Laufmädchen nehmen sich dabei nicht zu wichtig. Sie bringen nicht
die Güte in die Welt, sie leben ja selber davon. Und weil sie das
wissen, wissen sie auch um ihre Schwäche. Das ist ihre Stärke,
um ihre Schwäche zu wissen.

Und wer um seine eigenen Schwächen weiß, kann auch über
sich selber lachen. Wenn Christentum heißt, was man nicht darf,
dann ist die Konsequenz eine schlimme Angelegenheit, die von der Freude
über Gottes Güte wenig ausstrahlt. Davon kommen wir her. Nicht
immer strahlen wir Christenmenschen das aus, oft gerade anderes. Und deshalb
hat Karl Barth schon Recht mit einer Frage, die doch mehr als eine Frage
ist:

„Wie kommt es, dass so viele Kirchenmänner, insbesondere Theologen
aller Konfessionen und Kirchen, mit so grämlichen Gesichtern herumlaufen:
als ob sie im Grunde nur Kummer, als ob ihnen die Hühner das Brot
weggefressen hätten? Warum können sie höchsten über
andere – und darum immer ein bisschen gallig – lachen, statt, wie es sich
gehört, damit anzufangen, allen Ernstes über sich selbst zu
lachen oder doch zu lächeln?“

Amen.

PD Dr. Georg Plasger, Göttingen
E-Mail: gplasge@gwdg.de

 

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