Römer 2,1-11

Römer 2,1-11

Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Buß- und Bettag
Datum: 18.11.1998
Text: Römer 2,1-11
Verfasser: Dr. Christian-Erdmann Schott


Predigt zum Buß- und Bettag 18. 11. 1998
Text: Röm. 2,1-11

Liebe Gemeinde!

Es ist überall das gleiche. Wo ich auch hinkomme, ich begegne Menschen,
die sich über den Geist unserer Zeit beklagen: Werteverfall, Egoismus,
Vandalismus, Kriminalität heißen die Kritikpunkte. Demgegenüber
wird die Forderung nach Wiederbelebung verlorener Werte wie Solidarität,
Toleranz laut.

Diese Unzufriedenheit zeitigt allerdings kaum realistische Wirkungen. Es werden
Ausschüsse eingesetzt, die die Ursachen beispielsweise von Gewalt an den
Schulen untersuchen sollen. Es werden hier und da Konfliktberater oder
Psychologen eingestellt, die helfen sollen. Mehr geschieht kaum.
Mehr kann auch nicht geschehen, wenn wir nicht den Mut haben, die tieferen
Ursachen dieser negativen Zeiterscheinungen offenzulegen. Sie liegen letztlich
in dem Unbehütetsein so vieler Menschen, oder: in dem Gefühl, dem
Leben schutzlos, ohne die Behütung und Begleitung Gottes ausgeliefert zu
sein. Viele gute Möglichkeiten und Anlagen kommen so nicht zur Ausbildung
oder zum Zuge. Sie brauchen, um sich entwickeln zu können, einen
Schutzraum, Geborgenheit, Ermutigung.

Es ist leicht, sich darüber zu entrüsten oder den Menschen
Vorwürfe zu machen. Der Apostel Paulus tut gut, wenn er uns davon
abrät: „Richtet nicht“. Nicht, weil es den Menschen nicht hilft
und nichts ändert. Er rät uns ab, weil es uns schadet. Es macht uns
leicht ungerecht. Wir verlangen etwas von anderen, das sie nun einmal nicht
haben können. Wir vergessen, daß uns selbst „ohn unser
Verdienst und Würdigkeit“ (M. Luther) manche böse Umstände,
Erfahrungen, manche Verletzungen erspart geblieben sind; daß es eine
große Gnade ist, wenn man in seinem Leben die Behütung durch Gott
hat erfahren dürfen.

Statt Entrüstung sollte unser Beitrag zu unserer Zeit sein, daß wir
versuchen, Gott im Leben der Menschen sichtbar zu machen. Ich weiß,
daß das viel Liebe, Geduld, Gebet braucht und vor allem auch die
Möglichkeit dazu gegeben sein muß. Wo kann ich schon mit jemandem so
persönliche Gespräche führen? Aber vielleicht wissen wir doch
von dem einen oder anderen, dem das eine Hilfe werden könnte.
Dabei kommt es nicht darauf an, anderen meine Glaubenserfahrungen
aufzudrängen. Es geht gar nicht um uns selbst. Es geht darum, beizutragen,
daß andere Menschen Gott in ihrem Leben finden und sehen lernen. Er hat
sich ja doch nicht unbezeugt gelassen. Er ist ja da. Aber wir sehen es oft
nicht.

Es ist wichtig, daß die Menschen wieder spüren, wir sind nicht so
verlassen und schutzlos, wie wir meinen; wir haben Gott ganz nahe, auch wenn
wir es nicht wußten.

In meiner pfarramtlichen Praxis habe ich viele Menschen kennengelernt, die mit
Kirche, Bibel, Christentum nichts anfangen konnten, aber bekannten, daß
sie „gläubige Menschen“ sind. Ich denke auch, daß sie das
sind. Ihre Schwierigkeit ist, Herz und Wissen, Glauben und Tradition
zusammenzubringen. Hier liegen große Aufgaben für uns alle.
Den Menschen zu helfen, zum Glauben zu finden, sollte unser Beitrag sein. Hier
haben wir zu wenig getan in den Familien und Kirchen. Die
Sprachunfähigkeit in unserer Gesellschaft in diesen Dingen ist enorm. Aber
das Bedürfnis ist da. Die Esoterikwellen zeigen es.

Wenn wir hier helfen, leisten wir den Beitrag, den nur die Christen leisten
können. Im Grunde handelt es sich um eine Anwendung und Fortsetzung des
Werkes Christi in unserer Zeit. Wenn die Menschen mit Gott wieder ins reine
kommen, wird sich ihre Lebenseinstellung ändern. Den Anfang aber
müssen wir machen. Das am Buß- und Bettag zu bedenken, steht der
Gemeinde Gottes gut an.

Man kann es bedauern, daß dieser Tag zu einem nicht arbeitsfreien
Feiertag gemacht worden ist. Es ist vor allem zu bedauern, weil im Zeitalter
der Massenmedien die Themen „Buße“ und „Gebet“ schon
jetzt weit weniger beachtet werden. Ein Feiertag sichert die Beachtung, wenn
man nur an die Schulen denkt, stärker. Jetzt wird der Buß- und
Bettag nur noch von denen beachtet, die sich der Kirche verbunden fühlen.
Aber das kann auch gut sein. Denn wenn sich in unserer Gesellschaft im Blick
auf den Glauben etwas ändern soll, müssen zuerst wir in den Kirchen
Buße tun und Gott bitten, daß er uns für diese guten Werke,
die wir tun müssen, ausrüstet.

Daß Gott dahinter steht, können wir glauben. „Daß alle
Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (I. Tim. 2,4), ist das Ziel
der Sendung Christi. Er wird auch uns fragen, wie wir es mit diesem guten Werk
gehalten haben. Er wird es an das Licht ziehen, wenn er sein Gericht hält.
Er wird es auszeichnen durch seine Nähe, durch „Preis und Ehre und
unvergängliches Wesen“ (V. 7; 10).

Die, bei denen nichts zu finden ist, will er dann allerdings nicht in seiner
Nähe haben. „Ungnade und Zorn“ sind ihnen angedroht. Die
Zänkischen und Verleumder werden dabei besonders genannt – aber nicht, um
sie als endgültig abgeschrieben hinzustellen, sondern um zu warnen und
aufzufordern, sich zu ändern und Buße zu tun. Noch ist das
möglich.

Wir haben in diesem Jahr die Erinnerung an die Anfänge der Diakonie 1848
begangen. Damals war es die „Soziale Frage“, die Wichern, Fliedner,
Kottwitz und viele andere auf den Plan gerufen hat. Heute ist die soziale Not
finanziell zumindest abgefedert. Die seelische Not und Verwahrlosung ist die
größere. Wir stehen vor dieser großen Aufgabe. Wenn wir unsere
Grenzen erkennen und Gott um Hilfe bitten, werden wir auch etwas zu Wege
bringen.
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Dr. Christian-Erdmann Schott, Elsa-Brandström-Str. 21, 55124 Mainz

 

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