Römer 5, 1-11

Römer 5, 1-11

„Unendliche Verantwortung ruiniert einen Menschen, weil er nur Mensch
ist und nicht Gott. Ich denke, es ist das Lachen, das zwischen der Unbegrenztheit
der Aufgabe und der Begrenztheit der Kräfte vermitteln kann.“ Noch
einmal: es ist das Lachen, das zwischen der Unbegrenztheit der Aufgabe
und der Begrenztheit der Kräfte vermitteln kann.

Dieser Satz des Theologen Jürgen Moltmann, liebe Gemeinde, geht
mir nach! Und er könnte quasi als Motto für meine Predigt dienen,
weil er eine ganze Menge von dem enthält, was unseren eben gehörten
heutigen Predigttext auszeichnet.

Trotzdem will ich nun nicht damit beginnen, sondern
mit einer Jahreszahl: der Zahl 1619! Sie wird Ihnen wahrscheinlich nicht
sehr viel sagen; sie hat auch mir nichts gesagt, bis ich zufällig
durch eine Predigt auf sie aufmerksam gemacht wurde. Diese Zahl markiert
ein Datum, das man eigentlich erinnern sollte: im Jahre 1619 wurden die
ersten Negersklaven in Jamestown, Virginia, von einem holländischen
Schiff aus an Land gebracht. 385 Jahre ist das nun her. Damit das aber
nicht abstrakt bleibt, rasch ein Bild: das Bild eines Sklavenmarktes!
Wie Vieh hat man die Nigger zusammengetrieben, wie Ochsen mit glühenden
Eisen gestempelt; sie müssen sich begaffen und betasten lassen,
müssen ihre Muskeln zeigen oder ihr Gebiss; ein Nigger war, wie
ein Gesetz des Jahres 1787 feststellte, nur zu 3/5 ein Mensch und zu
2/5 ein Tier. Man schlug ihn wie ein Tier, hielt ihn unwissend wie ein
Tier, fütterte ihn, damit er Leistung bringen konnte, trennte ihn
von seinen Angehörigen, weil der das ja sowieso nicht spürte!
Man bot ihn feil, feilschte um ihn und sein Wert stieg oder fiel nach
den Gesetzen des Marktes: etwa 200 Dollar um 1700, zwischen 1000 und
2000 Dollar einhundert Jahre später. Kinder natürlich immer
mit mehr als 50% Ermäßigung!

Ich breche hier ab und frage: Warum empört es uns heute, so etwas
zu hören? Weil das grausam, unmenschlich, unbegreiflich ist? Was
ist daran so unmenschlich? Ich meine, dieses: dass da Menschen auf den
Markt gebracht und eingeschätzt wurden, dass man sie zu Dingen erniedrigte,
deren Wert darin bestand, was sie nützten! Alles andere ergab sich
dann daraus wie von selbst!

Heute ist die Sklaverei aufgehoben. Offiziell schon längst! Inoffiziell
aber gibt es sie noch immer bis in unsere Tage hinein – wenn auf deutschen
Baustellen und in deutscher Schwerindustrie ausländische Arbeiter
verhökert werden oder – wie wir ja immer wieder aus den Nachrichten
hören – wenn Flüchtlinge aus Afghanistan oder anderswoher in
heimlichen Transporten wie Vieh über die Grenzen geschmuggelt werden
sollen.

Vom Unrecht, das solchen Menschen immer wieder widerfährt, ist
ja öfter mal die Rede; davon muss auch immer wieder gesprochen werden.
Aber dennoch wird allzu oft dabei etwas übersehen, das weniger deutlich
in Erscheinung tritt, aber dennoch nicht weniger wichtig ist: ich meine
die Mentalität, die Einstellung des Sklavenmarktes. Sie ist erschreckend
weit verbreitet. Im Grunde findet sie sich ja fast überall – die
Vorstellung von der Ware Mensch, auch an Stellen, wo sie keiner vermutet,
weil sie mit dem Beispiel, von dem ich ausging, scheinbar nichts zu tun
haben. Davon soll nun die Rede sein!

Ein Mensch ist das wert, was er erbringt! Um diese Behauptung geht es!
Und ich fürchte, dass wir alle auf die eine oder andere Weise von
ihr beeinflusst sind! Zur Zeit gibt es furchtbar viel Enttäuschung
und Ermüdung, Resignation unter uns! Das geistige Klima ist von
Müdigkeit und Gefühlen der Minderwertigkeit gekennzeichnet.
Auch davon, dass ganz viele einfach aussteigen aus dem Zwang, etwas leisten
zu müssen. Sie suchen nach dem, was ihnen Spaß macht; nicht
mehr Forderung und Leistung spielen für sie eine Rolle, sondern
Lustgewinn als Reaktion darauf, dass man ständig überfordert
wurde. Übrigens: das gilt auch für die moralische Forderung,
jeder sei für alles verantwortlich. Vielleicht haben wir uns in
der Vergangenheit damit ja tatsächlich zu viel zugemutet. Das Gesetz
tötet, hat Paulus einmal geschrieben; und statt Gesetz könnte
man auch sagen: die Norm, der einer genügen muss, um recht zu sein,
um auf den Märkten dieser Welt etwas zu gelten. Und wer unter diesem
ständigen Zwang lebt, der muss sich entweder belügen über
das, was an ihm selbst der Norm widerspricht, um umso heftiger andere
dabei zu kritisieren; oder er muss mutlos werden, resignieren. Es sei
denn, er würde aufbegehren und sich weigern mitzumachen. Aber wer
schafft das denn schon wirklich?

So etwa, liebe Gemeinde, sind die Gedanken, die Paulus in den Kapiteln
des Römerbriefs vor unserer Textstelle heute behandelt. Und er knüpft
daran an, indem er von einer vierten Möglichkeit spricht: er spricht
davon, dass Menschen aus der Sklaverei des Gesetzes befreit werden können,
weil sie erfahren, dass ihr Wert sich von ganz anderen Maßstäben
her ergibt als sie die geltende Marktordnung vorschreibt; er meint die
Maßstäbe, die in Jesus sichtbar wurden!

Vielleicht erinnern Sie sich: da ist die stadtbekannte Hure, die Jesus
mit ihren Tränen die Füße wascht. Und er jagt sie nicht
davon, als die Pharisäer, jene Bankiers Gottes, darüber murren.
Oder er kehrt in Jericho bei dem mindestens ebenso stadtbekannten Ausbeuter
Zachäus ein; und er tut dies, um deutlich zu machen, dass Gott den
Zusammenhang von Leistung, Lohn und Wert des Menschen sprengt. Und die
Empörung der Rechtschaffenen damals war groß. Sie dürfte
auch heute wohl kaum geringer sein. Was Jesus tat, brachte tatsächlich
die zwischenmenschliche Tarifordnung ins Wanken. Aber genau darum geht
es im Evangelium: dass Gott mit keinem nach seinem Marktwert verkehrt;
vor ihm gelten sie alle! Weil er sie nach der Liebe beurteilt, die darin
sichtbar wurde, dass Jesus bereit war, sein Leben hin zu geben. Wenn
Paulus davon redet, dann gebraucht er – wie in unserem Text – die Worte
Liebe und Gnade. Und nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit meint er in
diesen Worten, dass da einer sich dem anderen zuwendet, weil er ihm etwas
bedeutet über das hinaus, was seine positiven Eigenschaften sind.

Das alles – so fügt der Apostel sofort hinzu – ist freilich keine
Sache bloß der Vergangenheit, sondern es geht um das, was heute
geschieht. „Gott hat die Liebe in unsere Herzen ausgegossen durch seinen
Geist!“ heißt es hier, und was Paulus damit meint, ist, finde ich,
einfach zu verstehen – auch wenn die Worte aus dem Römerbrief zunächst
so beschwerlich klingen. Er meint nämlich, dass Gott sich nicht
nur irgendwann einmal der Menschheit zugewandt hat, sondern er tut dies
immer noch. Und das kann überall dort erfahren werden, wo einer
in den Einflussbereich der noch immer gegenwärtig wirksamen Liebe
Christi gerät. Denn wo das geschieht, das einer merkt, er sei Gott
wirklich recht, da kann er aufatmen und frei sein. Wir erhalten Frieden
mit Gott, sagt der Apostel. Gemeint ist mit diesem Wort freilich keine
bloße Abwesenheit von Streit und ebenso wenig die Behaglichkeit
einer Sofaecke; Friede ist in unserer ganzen Bibel immer die Möglichkeit,
wirklich zu gedeihen. Möglich wird das, wo eine Gemeinschaft wieder
heil geworden ist. Und nun wird sicherlich auch klar, warum Paulus am
Ende unseres Textes von der rühmenden Gewissheit spricht! Denn da
hat dann tatsächlich das Lachen seinen Platz, von dem ich zu Beginn
sprach: das Lachen der Befreiten! Und ich glaube schon, dass wir das
in besonderer Weise brauchen: die lächelnde Zähigkeit und den
freudigen langen Atem des Glaubens! Eines Glaubens, der damit rechnet,
dass nicht unsere Enttäuschungen das letzte Wort haben und nicht
die Unmöglichkeiten, die wir um uns herum erleben, sondern eben
dieser Gott!

Wenn ich recht sehe, dann stehen sich heute in unserer Gesellschaft
zwei Extreme gegenüber: ungeduldiger Aktivismus und dauernder Veränderungswille
auf der einen, resignierende Müdigkeit auf der anderen Seite. Was
fehlt, ist die Fähigkeit, durch zu halten, die Geduld mit Energie
verbindet. Vielleicht haben wir Christen an dieser Stelle eine besondere
Aufgabe! Aber was heißt hier eigentlich „vielleicht“? Ich bin davon überzeugt,
dass wir diese Aufgabe haben und dass dazu die Botschaft der Bibel, der
Glaube, die Hoffnung, die Liebe – dieser unser Text – Wesentliches beiträgt!

Und der Friede Gottes, der oft genug so anders verstanden wird als er
gemeint ist, der bewahre unsere Gedanken und Taten der Liebe in Jesus
Christus, unserem Herrn. Amen.

Lothar Grigat
Pfarrstr. 12
34576 Homberg (Efze)

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