Römer 8, 31-39

Römer 8, 31-39

„31 … Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn
für
uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
33 Wer will die Auserwählten
Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. 34 Wer will verdammen?
Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt
ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. 35 Wer will uns scheiden
von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger
oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? 36 wie geschrieben steht: »Um
deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet
wie Schlachtschafe.« 37 Aber in dem allen überwinden wir weit
durch den, der uns geliebt hat. 38 Denn ich bin gewiß, daß weder
Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges
noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm
Herrn.“

Am letzten Tag des Jahres schauen wir zurück und schauen nach
vorn. Es geht um unser persönliches Leben, aber auch um das Leben
der Gemeinschaften deren Mitglieder wir sind. Beide Blickrichtungen,
die in die Vergangenheit und die in die Zukunft hängen eng zusammen.
Heute machen wir die Bilanz des vergangenen und bereiten die Pläne
für das nächste Jahr. Die Einzelheiten sind bei jedem recht
verschieden.

Es ist aber auch möglich, etwas gemeinsam darüber zu sagen,
etwas, was uns alle betrifft und was für alle wesentlich ist. Es
geht um die Frage, in welcher Optik wir das vergangene Jahr verstanden
und bewältigt haben und das nächste verstehen und gestalten
wollen. Man kann das alles entweder nur isoliert, im Rahmen dieser empirischen
Welt, der Welt unserer Erfahrung tun, oder man kann sein ganzes Leben
in einen rangmässig höheren, ja den höchsten Rahmen hineinsetzen.
Praktische Konsequenzen der einen oder der anderen Wahl für das
Verständnis, Bewältigung, Gestaltung des Lebens sind enorm.

In unserem Text spricht der Apostel darüber, welche Konsequenzen
es hat, wenn der Mensch sich entscheidet, sein Leben in den Rahmen der
Liebe Gottes hineinzusetzen. Er spricht nicht von allen, sondern nur
von den schwierigsten Situationen, in die wir geraten sind oder geraten
können, von den Grenzsituationen. Das hat seine Logik: Wer in den
schwierigsten Situationen besteht, von dem kann man voraussetzen, dass
er auch die weniger schwierigen bewältigt.

Die Fragen drängen sich uns auf: Wie habe ich die schwierigsten
Situationen meines Lebens im vergangenen Jahr bewältigt? Wie habe
ich anderen geholfen, mit ihren Grenzsituationen fertigzuwerden?

Die schwierigen und schwierigsten Situationen erfordern auch konkrete,
praktische Hilfe, aber genauso dringend benötigt man in solchen
Situationen auch innere Hilfe zu ihrer Bewältigung. Die Bibel spricht
von beiden: davon, wie wir in Not einander auch materiell helfen sollen,
aber auch davon, dass wir einander auch zu der inneren Festigkeit verhelfen
sollen. Gerade diesen letztgenannten Dienst erweist uns der Apostel im
heutigen Schriftabschnitt.

In neuen und neuen Variationen ist hier die grosse Gewissheit ausgedrückt:
Es gibt überhaupt keine solche schwierige Situation, die uns von
der Liebe Gottes scheiden könnte – weder in Vergangenheit, in Gegenwart
noch in Zukunft. Solange wir einen solchen Satz nur mit Abstand betrachten,
wird er uns vielleicht nur als eine fromme Phrase erscheinen. Wenn er
aber tief in uns hinein eindringt und unser ganzes Wesen beherrscht,
wird er unser kostbarstes Lebensschatz sein. Wichtig ist für uns
zu wissen, dass Jesus selbst uns – mit anderen Worten – dieselbe Lebensgewissheit
anbietet: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und
sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr
umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater,
der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand
kann sie aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.“

Bei unserem Abschnitt im Römerbrief 8 ist Folgendes besonders bemerkenswert:
In einigen vorangehenden Kapiteln hat er von der Rechtfertigung und ihren
schöpferischen Folgen im theologischen Stil gesprochen, aber jetzt,
am Ende des 8. Kapitels, am Ende eines grossen Gedankenabschnittes, ist
sein Stil auf einmal begeistert, enthusiastisch, triumphal geworden,
und zwar in dem absoluten, keine Ausnahme und keine Einschränkung
zulassenden Sinne. Das zeugt davon, dass er selbst von dieser grossen,
absoluten Gewissheit so stark durchgedrungen und ergriffen geworden war,
dass er sie nicht anders als mit diesem spontanen Jubel ausdrücken
kann.

Diese grosse Lebensgewissheit will er nicht nur für sich allein
behalten, sondern will sie weitergeben, weil er weiss, wie wichtig sie
für alle ist. Auch in dieser Hinsicht könnte er sagen: „Ich
bin ein Schuldner der Griechen und der Nichtgriechen, der Weisen und
der Nichtweisen.“

Nichts h öheres können wir uns für den letzten Tag dieses
und für alle Tage des neuen Jahres wünschen als dass dieselbe
Gewissheit uns genauso durchdringt und ergreift. Gerade das ist auch
das Ziel des Wortes Gottes im verlesenen Abschnitt. Dieses Wort will
an uns arbeiten, uns eine neue Sehensweise schenken, uns bis in die tiefsten
Schichten unseres Wesens überzeugen, dass wir von Gott unbedingt
geliebt sind.

Der Apostel rechnet auch mit Einwänden. Ist das alles nicht zu
schön, um wahr sein zu können? Gibt es in der Welt nicht andere
Kräfte, die destruktiv, die gegen die Liebe Gottes wirken? Sind
meine Sünden nicht ein unüberwindliches Hindernis für
die Liebe Gottes? Sind die Katastrophen in der Welt und meine persönliche
Katastrophen, mein akutes und mein chronisches Leiden und am Ende der
Tod – sind alle diese Sachen nicht ein Gegenbeweis der Behauptung, dass
ich unter allen Umständen von Gott absolut geliebt bin? Der Apostel
nimmt alle diese Einwände ernst, er selbst musste ja zuerst durch
diese Einwände durchgehen, bevor er die absolute Gewissheit von
der Liebe Gottes gewonnen hat.

An mehreren Stellen seiner Briefe sind seine verschiedene Schwierigkeiten
und Leiden genannt, die ihn von seiner Gewissheit abbringen könnten.
Er fasst sie in einem alttestamentlichen Zitat zusammen: »Um deinetwillen
werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.«

In diesem Textabschnitt geht es also nicht um eine theoretische Beweisführung
des Apostels, sondern um etwas, was ganz persönlich in seinem eigenen
Leben erprobt und verankert ist. Theoretische Gedankenkombinationen könnte
man vielleicht bezweifeln, aber was persönlich in schwierigen Situationen
erprobt worden ist und was sich bewährt hat, das kann und muss man
ernst nehmen.

Die einzelnen Sätze in unserem Text sind praktisch die Antworten
des Apostels auf die Einwende, auf die bangen Fragen, auf die Befürchtungen.
Die Antworten, die Schritt für Schritt die Hauptaussage über
die Liebe Gottes bekräftigen.

Man kann besorgt fragen: Wie kann ich mich sicher fühlen, wenn
in dieser Welt so viele Menschen, so viele Sachen gegen mich sind? Das
Wort Gottes antwortet: „ Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ In
Jesus Christus lässt uns Gott sagen, dass er auf unserer Seite ist.
Gott ist grösser und mächtiger als alles, was uns schädigen,
was uns vernichten will.

Die zweifelnden Fragen können weitergehen: Ist die Liebe Gottes
nicht nur eine erwünschte Erfindung für die, die Mut genug
nicht haben, sich der Welt und dem Leben zu stellen. Als bloss subjektive
Erfindung wäre die Liebe Gottes wertlos. Haben wir irgendeinen Beweis,
dass diese Liebe Wirklichkeit ist? Die Antwort lautet: „ Der auch seinen
eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben
– wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? “ Wenn dich der Zweifel
bedroht, kannst du doch immer auf das Symbol des Kreuzes schauen und
es als den Beweis der Liebe Gottes gerade auch für dich betrachten.
Das Kreuz soll ja keine blosse Dekoration sein, sondern umgekehrt: der
Beweis der Liebe Gottes, hauptsächlich in den Situationen, in denen
du einen festen Halt brauchst.

Vielleicht wird mich der Satan bei Gott beschuldigen und ihm alle meine
Sünden vorlegen, wie er einmal den Hiob beschuldigt hat. Werde ich
infolgedessen nicht abgewiesen und verdammt sein? Auch auf diese schwerwiegende
Frage hat das Wort Gottes eine schwerwiegende Antwort: „ Wer will die
Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht.
Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr,
der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.“ Das
Gerichtsverfahren ist schon verlaufen, Christus Jesus ist gestorben,
er ist auch auferweckt, er vertritt mich, ich bin als gerecht deklariert
worden. Obwohl ich unakzeptierbar bin, bin ich akzeptiert worden. Das
ist die unverdiente, überraschende, paradoxe, unerwartete Entscheidung
des höchsten Gottes. Wer könnte gegen die Entscheidung des
höchsten Gerichts etwas einwenden? Alle Ankläger müssen
schweigen. Die unbegreifliche Liebe Gottes siegt über alle feindlichen
Anklagen.

Dann folgt im Text eine Liste der bekannten Schwierigkeiten, die im
menschlichen Leben in verschiedensten Variationen vorkommen. Kann uns
vielleicht etwas davon von der Liebe Gottes scheiden? Die Antwort auf
diese Frage ist eindeutig negativ. Nichts kann uns von der Liebe Gottes
scheiden. „In dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt
hat.“

Aber der Apostel will nichts unerwähnt lassen. Man könnte
nämlich sagen: Vielleicht gibt es schwarze Mächte, die ich überhaupt
nich kenne, die aber für mich desto gefährlicher sind. Könnten
die nicht, mich von der Liebe Gottes scheiden, könnten die nicht,
mir solches Übel verursachen, dass mein Leben total scheitert? Kann
nicht etwas ganz Unvorhergesehenes in Gegenwart oder Zukunft passieren,
was die Liebe Gottes zu mier zerstören würde? Die Antwort des
Wortes Gottes auf diese ausführliche Frage ist ausführlich.
Der Apostel schreibt: „Ich bin gewiß, daß weder Tod noch
Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges
noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm
Herrn.“

Wir hatten die Möglichkeit, das dem Ende sich nähernde Jahr
in dieser Liebe Gottes zu erleben. Heute abend sollten wir auch von
diesem Gesichtspunkt das Jahr einschätzen. Dankbar sind wir für
alle Situationen, in denen wir uns der Liebe Gottes helfen liessen die
Probleme und Schwierigkeiten zu bewältigen. Kritisch sollten wir
auf alle Situationen schauen, in denen wir das Angebot der Liebe Gottes
nicht ernst genug nahmen. – Ein schönes Jahr würde das Jahr
2004 sein, wenn an jedem Tag in ihm die Liebe Gottes in Christus Jesus
die richtunggebende und gestaltende Macht in unserem Leben wäre.
Amen.

Dr. Jan Greso
greso@fevth.uniba.sk

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