Römer 8,1-11

Römer 8,1-11

Das Leben im Geist, eine Gratwanderung | Pfingstsonntag | 05.06.22 | Röm 8,1-11 | Thomas Muggli-Stokholm |

Der Pfingstbericht aus der Apostelgeschichte schildert die Ankunft des Heiligen Geistes mit starken Bildern: Ein Brausen fährt vom Himmel herab auf die Schar der Jüngerinnen und Jünger. Wie ein heftiger Sturm erfüllt der Heilige Geist das ganze Haus. Feuerzungen teilen sich, lassen sich nieder auf jede und jeden. Und erfüllt vom Heiligen Geist können alle auf einmal in Sprachen reden, die ihnen bisher fremd waren.

Ganz anders verhält es sich mit unserem Predigttext. Paulus beschreibt das Leben im Geist mit einer Fülle an theologischen Begriffen und komplexen, verschachtelten Sätzen. Beim ersten Hören sind wir ähnlich verwirrt wie die Zeuginnen und Zeugen des Pfingstwunders.

Ich gehe den Überlegungen von Paulus deshalb Vers für Vers nach und versuche, sie zu entschlüsseln, auch im Hinblick auf die Frage, wie seine Hauptaussagen mit der Pfingstgeschichte zusammenhängen. Paulus schreibt:

Es gibt jetzt also keine Verurteilung für die, die in Christus Jesus sind.

Als Erstes zündet Paulus das helle Licht der Gnade an: Sind wir in Christus, müssen wir kein Urteil, keine Strafe und keine Verdammnis fürchten. Wir können befreit durchatmen, angstfrei zu leben beginnen. Und das ist uns einfach so geschenkt, ohne Vorbedingungen. Jeder Mensch, der dazu bereit ist, kann in Christus, in seiner Nähe, in inniger Verbindung mit ihm leben.

Was Paulus schreibt, steht nicht im leeren Raum. Es ist begründet und verknüpft mit dem Leben und der Verkündigung Christi. So sagt Jesus im Matthäusevangelium: Kommt zu mir, all ihr Geplagten und Beladenen: Ich will euch erquicken (Mt 11,28). Und im Johannes-evangelium sagt er von sich: Ich bin die Tür. Wenn jemand durch mich hineingeht, wird er gerettet werden und wird ein- und ausgehen und eine Weide finden (Joh 10,9).

Paulus lädt uns ein, das Angebot Gottes anzunehmen und aus der Welt, wo wir ständig Meinungen, Bewertungen, Urteilen und Verurteilungen ausgesetzt sind, in die Gegenwart Christi zu treten, wo es keine Verurteilung gibt, wo wir begnadigt und angenommen werden, so, wie wir sind. In den folgenden Versen vergleicht Paulus diesen Übergang mit einem Wechsel der Gerichtsbarkeit:

Das Gesetz des Geistes, der in Christus Jesus Leben spendet, hat dich befreit vom Gesetz der Sünde und des Todes. Denn was dem Gesetz nicht möglich war, was es mit Hilfe des Fleisches nicht schaffte, das tat Gott: Er sandte seinen eigenen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verurteilte die Sünde im Fleisch. So sollte der Rechtsanspruch des Gesetzes erfüllt werden unter uns.

Das Gesetz der Sünde und des Todes erhält in diesem Abschnitt eine mehrschichtige Bedeutung. Zum einen hat Paulus die Tora, das alttestamentliche Gesetz, im Blick. Die Tora an sich kann nicht schlecht sein, wurde sie doch Mose am Sinai von Gott selbst übergeben. Und ihre Gebote wollen die Menschen nicht knechten und bedrohen, sondern im Gegenteil ein Zusammenleben in Gerechtigkeit und Frieden ermöglichen.

Dass Paulus dennoch vom Gesetz der Sünde und des Todes spricht, ist in seiner realistischen Sicht der menschlichen Natur begründet: Alle Menschen sündigen. Das ist nicht moralisch gemeint, im Sinn einzelner Übertretungen oder Verstösse gegen das, was gut und recht ist. Mit Sünde meint Paulus grundsätzlich den Ungehorsam und die Selbstliebe, die zur Trennung von Gott und damit einem geistlosen Dasein führen. Paulus spricht in diesem Zusammenhang drastisch vom «Fleisch» – im Gegensatz zum Geist. Wie wir am Ende sehen werden, will er damit das Leibliche und Materielle keineswegs abwerten. Wer sich nach dem «Fleisch» ausrichtet, führt gemäss Paulus ein Dasein, welches sich auf das beschränkt, was menschenmöglich ist. Auch ein Mensch, der in diesem Sinn nach den Dingen des Fleisches sinnt, kann überaus feinsinnig, intellektuell und geistreich auftreten. Gerade damit überspielt ein solcher Mensch die Wahrheit, dass ein Leben im Fleisch am Ende zwingend in Trostlosigkeit und Verzweiflung führt. Alles Irdische, alles Fleischliche, bleibt dem Gesetz unterworfen, das unsere vermeintliche Freiheit zum leeren Schein macht: Wir alle müssen sterben. Es gibt in der Perspektive des «Fleisches» keine Hoffnung, keine andere Aussicht als die der Verwesung.

Gemäss Paulus hilft uns da auch die Tora nicht weiter. Der Sünde des Menschen wegen ist es ihr unmöglich, ihren ursprünglichen Sinn zu erfüllen und den Menschen zu einem Gott wohlgefälligen Dasein, zum Freispruch von der Sünde, zu Leben und Frieden zu führen.

Diesem trostlosen Befund stellt Paulus die Tat Gottes entgegen, die möglich macht, was dem Menschen unmöglich scheint (vgl. Lk 1,37; Mk 10,27).

Gott sendet seinen eigenen Sohn «in der Gestalt des sündigen Fleischs», sprich: als Menschen durch und durch. Indem Gott Mensch wird, überwindet er den unendlichen Abstand zwischen Himmel und Erde. Jesus stirbt am Kreuz, als einziger Mensch ohne Sünde. Damit ist das endgültige Urteil über die Sünde im Fleisch gefällt. Das Konzept eines Daseins, das alleine auf die menschlichen Möglichkeiten baut, entlarvt sich durch die Barbarei der Kreuzigung selbst als Holzweg.

So fallen im Kreuz Gericht und Gnade zusammen: Zum einen wird die Sünde als Lebensmöglichkeit endgültig als Lüge entlarvt und verurteilt. Andererseits nimmt Jesus mit seinem Tod das Urteil auf sich, das eigentlich uns Adamskindern gilt und befreit uns damit aus der Knechtschaft von Sünde und Tod.

Damit sind wir am Ende des Gnadenteils unseres Predigttextes, der Ouvertüre, die uns die Türe zum Leben und zum Frieden weit öffnet. Wir alle, ausnahmslos alle, sind herzlich eingeladen, einzutreten, den Raum von Sünde und Tod zu verlassen und uns ganz dem Geist Gottes zu öffnen, der Leben spendet.

Es wäre jetzt aber illusorisch zu glauben, wir könnten einfach so in diesem neuen Lebensraum verweilen und sorglos das Glück der Erlösung geniessen. Wir bleiben zum einen auch im Haus der Gnade die alten Adamskinder mit dem Drang, unser Herz an das «Fleisch» zu hängen. Wir möchten wissen, was wir haben, uns unser Glück selbst schmieden, unser Leben im Griff behalten.

Zum andern ist das Leben im Geist kein ständiges Pfingstfest, wo wir freudig und dem Alltag entrückt Gott feiern. Das erfuhren schon die ersten Christinnen und Christen, die sich bald nach Pfingsten äusseren und inneren Bedrohungen ausgesetzt sahen: Sie wurden verfolgt. Und früh schon bedrohten Meinungsverschiedenheiten und Spannungen ihre Einigkeit.

Nein, das Leben im Geist führt entrückt uns nicht aus der Welt. Jesus selbst wurde mitten in diese Welt hinein geboren. Wollen wir ihm nachfolgen, müssen wir uns dem Alltag mit seinen Lasten stellen. Wie herausfordernd das ist, macht Paulus im nächsten Abschnitt unseres Textes mit einer Reihe von Gegensätzen deutlich:

Wir gehen unseren Weg nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist. Die nämlich auf das Fleisch ausgerichtet sind, sinnen den Dingen des Fleisches nach, die aber auf den Geist ausgerichtet sind, den Dingen des Geistes. Das Sinnen des Fleisches ist Tod, das Sinnen des Geistes aber ist Leben und Frieden; das Sinnen und Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, denn es unterzieht sich dem Gesetz Gottes nicht, es vermag es nicht.

Die aber vom Fleisch bestimmt sind, können Gott nicht gefallen. Ihr aber lasst euch nicht vom Fleisch bestimmen, sondern vom Geist, wenn wirklich der Geist Gottes in euch wohnt. Wer aber den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm.

Wenn wir unser Leben auf den Geist ausrichten, begeben wir uns auf eine Gratwanderung: Zum einen können wir den Alltag wie erwähnt nicht ausblenden. Wir müssen uns ihm stellen. Zum andern bleiben wir gerade dabei stets in Gefahr, uns in kleinlichen Plänen und Sorgen zu verfangen, unser Herz daran zu verlieren und so unser Trachten und Sinnen vom Fleisch bestimmen zu lassen. Dies beginnt bei ganz alltäglichen Dingen. Wie oft geschieht es mir selbst, dass ich den Tag mit der Betrachtung einer schönen Bibelstelle und einem innigen Gebet beginne – und mich wenig später dermassen ärgere über einen Nächsten, dass ich ihn ins Pfefferland wünsche. Da bin ich gefragt, ob mein Ärger dem Trachten und Sinnen des Geistes entspringt – oder nicht viel eher jenem des Fleisches.

Existentiell wird diese Frage in Bezug auf die drängenden Probleme wie dem wachsenden Unrecht in der Welt und der sich anbahnenden Klimakatastrophe: Wie weit sind wir Christinnen und Christen bereit, zugunsten der Bewahrung der Schöpfung auf Wohlstand und Bequemlichkeit zu verzichten? Geht das zusammen: Gott preisen für seine Liebe und Güte und ihm danken, dass er uns durch Jesus Christus vergibt und ein Leben aus der Kraft des Heiligen Geistes schenkt – und zugleich bedenkenlos alle Vorzüge und allen Luxus der Welt geniessen, ohne Rücksicht auf die Folgen?

Liebe Gemeinde, ich will Euch mit diesen Fragen nicht abkanzeln. Ich stelle sie auch und vor allem mir selbst. Bin ich nämlich ehrlich zu mir, muss ich einsehen, dass ich auch als spiritueller Mensch ein Adamskind bleibe und nur zu rasch Kompromisse eingehe und nach dem Fleisch lebe, wenn das Sinnen nach dem Geist mühsam wird. Paulus hält uns die Alternative zwischen Geist und Fleisch darum mit gutem Grund in allen Varianten vor Augen:

Wollen wir unseren Weg ernsthaft nach dem Geist gehen, sind wir Schritt für Schritt herausgefordert, genau hinzuschauen auf unser Sinnen und Trachten, zu unterscheiden, ob es auf das Fleisch oder den Geist ausgerichtet ist und zu entscheiden, in welche Richtung wir unsere Schritte lenken.

Das klingt mühsam und scheint dem Schwung und der Euphorie von Pfingsten zu widersprechen. Doch für Paulus ist klar, dass das Leben aus dem Geist nicht von uns alleine abhängt. Dann würden wir uns selbst wieder unter das Gesetz stellen, mit trostlosen Aussichten, weil wir als Sünderinnen und Sünder niemals imstande sind, ein vollkommenes Leben zu führen.

Wir leben aus einer grossartigen Vorgabe, an die Paulus gegen Ende des mittleren Abschnittes erinnert: Wir müssen den Geist Gottes nicht herbeizwingen. Er ist immer schon da. Und er kommt über uns und nimmt Wohnung in uns, wenn wir uns ihm öffnen.

Und so kehrt Paulus am Ende wieder zu den Zusagen des Anfangs zurück:

Wenn Christus in euch ist, dann ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen.

Der Text beginnt mit dem unendlichen Vorschuss der Gnade, und er endet damit. Christus ist in euch – eine grossartigere Zusage ist nicht denkbar. Wir sind herausgefordert, sie wahrzunehmen und anzunehmen:  Christus will in uns sein, in uns wohnen und uns das Leben schenken. Wir müssen dafür keine Vorleistungen bringen und keine Vorbereitungen treffen. Wir müssen nur bereit sein, uns seiner Gegenwart zu öffnen und ihn in uns wirken zu lassen. Unser Leib bleibt zwar tot – als Teil dieser vergänglichen, von Gott um der Sünde willen noch getrennten Welt.

Der Geist aber, unser Wesenskern, unsere Persönlichkeit, ist Leben, um der Gerechtigkeit Gottes willen, die sich am Kreuz vollkommen zeigt als Zuspruch und Erbarmen, als Gerechtigkeit, die Sünderinnen und Sünder rechtfertigt. Auf dieser Grundlage endet unser Text mit dem Paukenschlag der Hoffnung – der deutlich macht, dass die komplexen Ausführungen von Paulus mehr mit dem Pfingstereignis zu tun haben, als man zuerst denkt:

Wenn der Geist dessen in euch wohnt, der Jesus von den Toten auferweckt hat, dann wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch euren sterblichen Leib lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

Jesus wurde ganz und gar Mensch. Wenn Gott ihn von den Toten auferweckt, macht er kein Gespenst aus seinem Sohn. Die Auferstehung ist leiblich, nicht im medizinischen, sondern im geistlichen Sinn: Gott auferweckt Jesus als ganzen Menschen, mit Leib, Seele und Geist. Erlösung und ewiges Leben sind damit kein spiritistischer Hokuspokus, sondern die ganzheitliche Neuschöpfung des Menschen und der Welt.

Lassen wir den Geist Gottes in uns wohnen, leben wir in dieser Hoffnung: Der Gott, welcher Jesus von den Toten auferweckte, wird die Sünde und den Tod endgültig besiegen und mit seinem Geist alles, was ist, bewohnen und beleben.

In den Augenblicken, wo wir es wagen, uns und unser Sinnen und Trachten auf den Geist auszurichten und so auf unserem Weg Jesus nachzufolgen, scheint Auferstehung auf und lässt unsere Hoffnung handfest werden. Amen.

Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm

Wolfhausen

E-Mail: thomas.muggli@zhref.ch

Thomas Muggli-Stokholm, geb. 1962, Pfarrer der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, bis Ende 2021 Pfarrer in Bubikon, ab 1. Januar 2022 in Fehraltorf, daneben seit 2020 Koordinator der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der Deutschschweiz (LGBK).

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