Sommer-Gesang

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Sommer-Gesang

Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
Sommer-Gesang,
Predigt verfasst von Ulrike Voigt


Liest oder hört man eines der Sonette von dem vielleicht berühmtesten Dichter des Barock, Andreas Gryphius, bemerkt man häufig sofort, daß es sich um eine religiöse Thematik mit biblischen Texten im Hintergrund handelt. Trotz vieler nicht mehr unmittelbar verständlicher Bilder empfindet man diese Texte als beeindruckend. Aber sind sie geistliche Gedichte? Sonette können schwerlich zum Kirchenlied werden. Schon deshalb, weil sich ein Sonett wegen seiner unterschiedlichen Strophenlängen (2×4, 2×3 Verse) nicht leicht für den Gemeindegesang vertonen ließe. Zudem ist die Sprache dieser Gedichte doch sehr zeitgebunden und anspruchsvoll, sowohl vom Satzbau als auch von den verwendeten Bildern und Vokabeln her.

„Geistliche Dichtung“, zu der auch das Kirchenlied gehört, unterscheidet sich von religiöser Lyrik durch ihre Funktion im kirchlichen Bereich und im geistlichen Leben. Deshalb ist sie diesem Zweck angepasst, z.B. mit verständlicher Sprache, Singbarkeit, Reimen und auch speziellen Inhalten, die sich an den Festen und dem Ablauf des Kirchenjahres orientieren. Dies ist der entscheidende Unterschied zur Kunstdichtung. Geistliche Lyrik ist Gebrauchsdichtung. Die dichterische Qualität des geistlichen Liedes ist der theologischen Absicht untergeordnet.

Glücklicherweise waren die Schöpfer vieler Gesangbuchlieder sowohl gute Theologen als auch gute Dichter. Dass die ästhetischen Ansprüche der Funktion untergeordnet sind, heißt also nicht, den Anspruch auf poetische Qualität aufzugeben. Ein Musterbeispiel für die gelungene Verbindung von hoher Dichtkunst, auch im Sinne eines beherrschten Handwerks, und bis heute sing- und verstehbarer Liedschöpfung sind die Gesangbuchlieder von Paul Gerhardt.

Als Gerhardt den „Sommer-Gesang“ dichtete (1653 zum erstenmal in Crügers Gesangbuch gedruckt), war der 30-jährige Krieg noch nicht lange vorüber. Beschädigte Städte und Dörfer, verwüstete Ländereien gab es noch überall und vor allem die Entbehrungen und die Grauen des Krieges hatten in den Herzen der Überlebenden tiefe Spuren hinterlassen. Paul Gerhardt ermuntert die Menschen mit seinem „Sommer-Gesang“ auf seelsorgerliche Weise, sich in diesen schwierigen Zeiten nicht der Lethargie und Resignation hinzugeben, sondern hinauszugehen und Freude zu suchen, die Gaben Gottes in der Schönheit der Natur zu entdecken und darüber Gott zu loben. Nach dem Chaos des Krieges bringt die Erde wieder Schönes hervor, neues Leben ist entstanden.

SOMMER-GESANG

Strophe 1 (Exordium) Anfang:

Das Thema wird angeschlagen, das in Str. 2-8 ausgeführt wird.

Der Dichter fordert das eigene Herz auf, sich zu freuen: „Suche Freud“ wird erläutert durch „schau an“ und „sieh“, d.h. die Freude besteht in der Betrachtung.

Die sommerliche (der Sommer schloss damals auch den Frühling ein) Natur zeigt die Welt als Zier- und Nutzgarten. Ihre Schönheit ist eine Gabe Gottes an alle Menschen.

Diese Aussage wird in zwei Satzbögen entfaltet:

1. Teil allgemein („schau an“), 2. Teil variiert und präzisiert („siehe“).

Diese Form ist an den Parallelismus membrorum der Psalmen angelehnt, schon die Einleitung erinnert daran, dass das Vorbild der Kirchenlied-Dichtung zu allen Zeiten auch alttest. Psalmdichtung war (hier besonders Ps 104).

Die Anrede an das Herz ist ein geläufiger Topos, besonders beliebt im 17. Jh., vor allem als Einleitungsformel. Wie in den Psalmen ist das Herz personifiziert, wird damit das Zentrum der Person angesprochen. Es soll hier mit der Anrede des Herzens deutlich gemacht werden, dass existentielle Dinge zur Sprache kommen.

Der sog. „affectus cordis“, (leidenschaftliches Ergriffenwerden des Herzens bzw. der Person) ist nach altprotestantischer Dogmatik das Ziel aller Theologie.

Das reflexive „sich ausgeschmücket haben“ ist ein biblisches Passiv (pass. divinum), das ausdrückt, dass Gott hier handelt – die Natur ist nicht ein autonomer Bereich, sondern Gottes Gabe und Schöpfung.

„mir und dir“ – eine der zahllosen zweigliedrigen Formeln Gerhardts – wie z.B. „kund und wissend“,  „Fried und Freud“ etc., die seine Texte auch gut einprägbar machen. „Mir und dir“ meint den den Menschen überhaupt, es sind alle angesprochen.

Strophe 2-7:

Hier wird das angekündigte Thema entfaltet, wird aufgezählt, was angeschaut werden soll: die Perspektive wechselt vom „Ich“ zum „Es“. An die Stelle des Anredens tritt das Benennen vom Gesehenen.

Der Abschnitt ist als barocke Bildreihe angelegt (Enumeratio partium).

Der Dichter führt die „schöne Garten-Zier“ vor: in epischer Breite malt er liebevoll ein „irdisches Paradies“ aus. Es sind 14 gereimte Aussagen nach dem Schema:

Subjekt („die Bäume“), Prädikat („stehen“), Ergänzungen („voller Laub“).

Drohende Monotonie in dieser langen Aufzählung vermeidet der Dichter, indem er wechselt zwischen einfachen („Baum“) und doppelten („Narzissen und die Tulipan“) Subjekten sowie Subjekten ohne und mit Attribut („die Glucke“ – „der schnelle Hirsch“, „das schlanke Reh“).

Die Sätze dieser Beschreibung strecken sich über 1, 2 oder 2 Verse, es gibt leichte und schwere Zeilensprünge (Strophe 6).

Der naheliegende Einschnitt jeweils nach dem dritten Vers, der Mitte einer Strophe, wird eingehalten, nie folgen aber zwei syntaktisch völlig gleich gebaute Halbstrophen aufeinander, das macht die Sache abwechslungsreich und vermeidet alle Eintönigkeit. Der rhythmische Verlauf ist glatt.

Dem harmonischen Inhalt entspricht die harmonische Form. Es geht hier nicht um einen naiven, blinden Realismus, dies ist kein „Erlebnisgedicht“, denn der Dichter schildert, wie er sich Landschaft ausmalt. So gab es z.B. in Mitteleuropa keine Myrten, in Brandenburg keinen Wein!

Das hier geschilderte Naturbild ist der literararischen Idyllen-Tradition entnommen. Gerhardt dichtet ganz im Sinne der Vorstellungswelt, nach der man seit dem Altertum bis ins 18. Jh. hinein Landschaft dichtete und malte. Diese literarische Tradition hat er mit eigenen Details aufgefüllt: die Glucke mit ihren Küken, der Weizen als Nutzpflanze…

„Narzissen und die Tulipan“: damit knüpft Gerhardt zum einen an Mt 6,28f an (Salomo), zum anderen war die Tulpe damals in Europa nicht nur die Lieblingsblume der Barockdichter, sondern die modernste und kostbarste Blume. Ihre Zwiebeln wurden so hoch gehandelt wie heute Aktien (der Preis einer Tulpenzwiebel entsprach auf dem Höhepunkt der „Tulpomanie“ dem eines Hauses in bester Lage in Amsterdam!).

„Erdreich“ und „Staub“ erinnern an die Vergänglichkeit des Menschen, aber nun ist alles mit „grünem Laub“ überzogen, Gott lässt den Menschen auf einer „grünen Aue“ (Ps. 23) wohnen. Die Natur verweist auf den Schöpfer und das Paradies.

 

Strophe 7:

Die Schilderung der Natur wird abgeschlossen mit den Menschen, die sich am Wachsen des Weizens freuen. Der Weizen steht hier als Exemplum für die Güte Gottes, der „überflüssig“, also im Überfluss, gibt. Die Kreatur, Pflanzen, Tiere etc., preisen Gott unbewusst durch ihr Dasein, der Mensch aber soll den Geber bewusst preisen und loben.

Der Weinstock und der Weizen (Strophe 6 und 7) lassen das Abendmahl anklingen. Gott und Mensch sind innig verbunden („süßer Gott“, Str. 11).

Die Nennung Gottes erfolgt hier als Antonomasie, d.h. anstelle des Namens steht eine Umschreibung in zwei Attributsätzen: „des, der so ….“

Dieser Kunstgriff wird benutzt, damit die Attribute noch einmal angeführt werden können, die für den Sachzusammenhang funktionale Bedeutung haben: das soll der Mensch beim Anschauen der Natur erkennen! Zweck der Schöpfung ist die Manifestation Gottes!

Strophe 7 führt von der Naturbetrachtung, die für sich noch keinen Sinn hat, zum Lob des Schöpfers. Strophe 1 geht dagegen von der Kenntnis Gottes als des Schöpfers zur bestätigenden Betrachtung der Natur aus (hermeneutischer Zirkel).

Strophe 8:

Der Dichter wechselt wieder zur Ich-Perspektive.

Immer wieder wurde in Str. 2-7 auch auf akustische Phänomene aufmerksam gemacht (Vogelgesang, Lustgeschrei der Hirten). Die Welt ist eine klingende Welt, folgerichtig wird nun in dieser Strophe das Singen thematisiert, als eine Bewegung, die das Leben in Gang bringt, in der Emotionen und Erkenntnis zusammengehören.

Das Einstimmen wird als selbstverständliche Reaktion dargestellt: wer das Leben der Natur, ihre Schönheit und ihren Nutzen gesehen hat, der kann gar nicht anders, als ihren und seinen Schöpfer zu preisen! „Kann und mag nicht ruh’n“ zeigt an, dass das Lob gleichzeitig äußerer Notwendigkeit wie innerer Zustimmung entspringt. Wieder eine der einprägsamen Zweierformeln.

Somit wird wieder auf die 1. Strophe verwiesen: es erfolgt eine Antwort auf die Aufforderung, anzuschauen, indem eingestimmt wird in das Lob Gottes. Der zum Schauen aufgeforderte Mensch soll die Taten Gottes wahrnehmen und mit Zustimmung antworten. Damit sind zwei wichtige Begriffen der damaligen Theologie, „notitia“ (Strophe 1, Kenntnis, Wahrnehmung) und „assensus“ (Str. 8; Zustimmung), aufgegriffen.

Der „affectus cordis“, der in der ersten Strophe gefordert wurde und als Ziel der Theologie gilt, hat in der 8. Strophe stattgefunden, wenn es heißt: „des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen!“ Hier liegt auch eine Offenbarungstheologie zugrunde: die durch die Natur geoffenbarte Gotteserkenntnis ermöglicht die Aussagen des Gedichtes. : „Itzt sehen wir die Creaturen gar recht an, … beginnen von Gottes Gnaden seine herrlichen Werk und Wunder auch aus den Blümlin zu erkennen, wenn wir bedenken, wie allmächtig und gütig Gott sey; darum loben und preisen wir ihn, und danken ihm.“ (Martin Luther, zitiert nach Gedichte und Interpret. s.u.). In diesem Sinne schrieb auch später Johann Arndt in seinen zu Gerhardts Zeit sehr verbreiteten Andachtsbüchern, zu denen es zahlreiche Anklänge im Lied gibt.

Strophe 9-12:

Nach Strophe 8 kommt ein inhaltlicher Einschnitt, es wird ein neuer Vorstellungskreis entfaltet: das Jenseits. Der irdische Garten ist das Abbild des himmlischen Gartens, irdische Schönheit und irdisches Wohlergehen lassen himmlische Schönheit und himmlisches Wohlergehen erahnen.

„Ach, denk ich…“: Die persönliche Anrede Gottes beginnt und wird bis zum Schluss durchgehalten. Das Ich wendet sich von der Natur weg Gott zu. Ein meditativer Charakter des Gedichtes setzt sich durch, ein inneres Sprechen, Erwägen, Hoffen, angezeigt durch viele Modalverben wie „will“, „kann“, „muss“… – man weiß ja noch nichts Gewisses über das Jenseits!

Überraschend vielleicht jetzt die plötzliche Rede von der „armen Erden“, die durch das „reiche Himmelszelt“ überboten wird. Es ist ein Analogieschluss: wenn es schon hier im Diesseits so schön ist, dann erst recht, noch mehr, im Jenseits.

Aber warum wird die Erde nun als „arm“ bezeichnet? Typisch für Gerhardt und auch seine Zeitgenossen ist die vor allem durch den erlebten Krieg und persönliches Leid bestimmte Grundaussage, dass Schönheit, Freude, Ordnung immer vor dem Hintergrund von Grauen, Leid und Chaos stehen.

 

Strophe 10:

Von der Erde wendet sich der Dichter fragend dem reichen Himmelszelt zu. Vom irdischen Gesang (Str. 7) kommt er zum himmlischen (Str. 10): wie muss es da wohl erst klingen! Auch hier ist wieder von Singen und Musik die Rede. Das Wort „Lust“ kommt ursprünglich aus der Botanik und bezeichnete das sprießende grüne Laub. Der Dichter bleibt also ganz im Bild der Natur.

Die Antworten, wie es wohl in Christi Garten klingen könnte, werden wieder per Überbietung und Analogie zum Diesseits gegeben. Die einzige direkte Antwort, wie es sein wird, geht auf biblische Bilder zurück, es ist der Gesang der Seraphim (Jes 6,2; Offb. 7,11). Mit Anspielungen, Alliteration und Vokalwechseln wird ein positives Bild erzeugt.

 

Strophe 11:

An die hochgespannte Erwartung, wie es sein wird, schließt sich folgerichtig der Ausdruck der Sehnsucht und des Jenseitsverlangens an „O wär ich da!“ Das ist übrigens die einzige stärker affektive, gefühlsbetonte Aussage in dem sonst wohltemperierten Text.

Wunsch des Glaubenden ist die Aufnahme in den himmlischen Chor Gottes. Dahinter steht die mystische Vorstellung, die einzige Aufgabe der Erlösten sei das Lob Gottes. Diese Vorstellung hat Gerhardt der zeitgenössischen Erbauungsliteratur entnommen, z.B. Johann Arndts Büchern und Schriften, die weit verbreitet waren. Von dort hat er nicht nur die Bilder vom gläubigen Menschen als Bäume und Zweige an Gottes Baum, sondern auch die Metaphern von der Schönheit und Süße Gottes, die auch in „Die güldene Sonne“ verwendet werden.

Strophe 12:

Der Abschluss des gedanklichen Höhenfluges erfolgt, der Dichter kehrt zur Erde zurück. Wieder lässt sich erahnen, dass das irdische Leben weder einfach war noch idealisiert wird. Im Vertrauen auf künftige himmlische Freuden will der Dichter die irdische Mühsal ertragen, dabei Gott loben und anbeten. Diese Strophe verweist wieder auf die 1. Strophe zurück und führt die dort begonnene Schau zu ihrem Ziel:

Str. 1: Aufforderung zur Wahrnehmung der Taten Gottes (notitia)

Str. 8: Zustimmung (assensus)

Str. 12: Vertrauen auf den Erlöser (fiducia).

Diese Begriffe sind nach altprotestantischer Dogmatik die drei Bestandteile des christlichen Glaubens. Das Thema des Liedes ist also die christliche Existenz schlechthin, nicht nur ein Teilaspekt.

Diese drei Strophen (1, 8 12), in denen die theologisch zentralen Begriffe verarbeitet werden, sind nicht zufällig auch diejenigen, wo das Herz logisches Subjekt ist!

Das Leitmotiv des Gedichts: der Mensch soll nicht theoretisch, sondern mit allem, von ganzem Herzen, glaubend zustimmen (tam intellectualis quam affectiva).

Strophe 8. und 12. geben jeweils, nach einem meditativen Komplex, direkte Antwort auf die Aufforderung an das Herz, markieren mit Strophe 1 die Abschnitte und verklammern den ganzen Text.

 

Strophe 13-15:

Auf das Versprechen in Str. 12, Gott weiterhin zu loben, folgt ein Gebet. Jede Strophe enthält 2 Bitten, den Abschluss macht das Gelöbnis, Gott „hier und dort“ zu dienen, auf Erden und im Jenseits. Die Bitten sind parallel gebaut und in allegorischer Aussageweise formuliert. In jeder Bitte werden Einzelheiten des Naturbildes des ersten Teils gleichnishaft auf den Menschen übertragen: Baum, Pflanze, Blume sind Leitbilder der Allegorie.

So wird der letzte Teil wieder mit dem ersten Teil verklammert: der Dichter greift auf biblische Bilder zurück (Ps 1,3; Mt 7,17,; Lk 8,13).

In eindringlicher Rede (peroratio) bittet der Sprecher darum, dass er Frucht bringt („bekleiben“) und so wird, wie der Mensch nach Gottes Willen sein soll.

Der „Sommer-Gesang“, der bei flüchtigem Lesen oder Singen den Eindruck eines locker gereihten, relativ schlicht gebauten Textes erweckt – als Sommerlied findet er sich auch in Volksliederbüchern – erweist sich bei genauem Hinsehen als streng komponiert, mit zahlreichen Verklammerungen zwischen einzelnen Strophen und Teilen, die Bezüge der Bilder sind zahlreich, und der Bereich der Bildlichkeit ist geschlossen (Natur), auch der Wechsel von Ich, Es und Du ist absolut durchdacht.

Die Ausdrucksweise Gerhardts ist glatt, gefällig und gemäßigt, Anmut und Wohlklang sind seine Prinzipien. Sie entspricht damit dem zeitgenössischen Ideal der „elegantia“. Das Kirchenlied soll erbauen und belehren, (delectare et docere), dafür war nach damaliger poetologischer Vorschrift das Genus medium, die mittlere Stilart, angemessen. Wie Paul Gerhardt die theologische Aufgabe stets vor den ästhetischen Aspekt stellte, drückt er in folgendem Gedicht aus:

Unter allen, die da leben, hat ein jeder seinen Fleiß

Und weiß dessen Frucht zu geben;

Doch hat der den Höchsten Preis,

Der dem Höchsten Ehre bringt

Und von Gottes Namen singt.

Unter allen, die da singen

Und mit wohlgefasster Kunst

Ihrem Schöpfer Opfer bringen,

Hat ein jeder seine Gunst;

Doch der ist am besten dran,

Der mit Andacht singen kann.

(1665; in: Gedichte u. Interpret., 298)

Das Lied bewegt sich auf zwei Ebenen, einer erzählenden, bildhaften, und einer deutenden.

Das Gedicht ist damit nicht nur ein kleines Sprachkunstwerk, sondern greift mit seiner Bildebene und der Ausdeutung auch noch eine im Barock sehr populäre Bildstruktur auf, das Emblem. Ziel der Embleme, die vor allem in Büchern verbreitet wurden (eines der berühmtesten zeitgenöss. Emblembücher ist das „Emblematum liber“ von Andrea Alciati von 1532), aber auch z.B. in Kirchen und Schlössern aufgemalt sind (Emblemzyklen an Decken und Emporen etc.), ist es, unanschauliche Sachverhalte durch ein Bild anschaulich zu machen. Dies geschieht in einer Dreier-Struktur:

Die Überschrift (Inscriptio, Lemma, Motto) gibt das Thema an (z.B. „Lieb gegen seine Kinder“), darunter folgt die Pictura, das Bild, z.B. ein Vogel auf dem Nest, und zwar eine Ringeltaube; drittens erfolgt eine Auflösung des Bildes, das oft rätselhaft scheint und sehr verschlüsselt ist. Die Auflösung des „Rätsels“ erfolgt durch das Epigramm bzw. die Subscriptio, z.B. wird dargestellt, wie eine Ringeltaube in winterlicher Zeit brütet (Kahler Baum). Weil sie sich die Federn ausrupft, um ihre Jungen zu wärmen, und dabei selbst friert, ist sie ein Beispiel für wahre Mutterliebe.

Das Sommerlied von Gerhardt hat eine emblematische, dreigeteilte Struktur: Strophe 1 ist die Inscriptio, gibt das Thema an, Strophe 2-7 ist das Bild, die Schilderung der Natur, Strophe 8-11 und 12-15 sind zwei verschiedene Epigramme/ subscriptiones, Ausdeutungen des Bildes.

„Geh aus, mein Herz“ zeigt, wie wie kunstvolle Sprache zugleich schlicht, verständlich und dabei theologisch sehr dicht sein kann. Dieses im besten Sinne erbauliche Lied hat seine Wirkung und Bedeutung nicht verloren. Es spricht Herz und Verstand an, es vermittelt auf anschauliche Weise nebenher Theologie, es versetzt den Mensch in ein freudiges Staunen, umfasst aber gleichzeitig auch das Ende des Lebens und die Hoffnung auf das ewige Leben, es ermöglicht die persönliche Identifikation mit dem Inhalt. Seine schönen Bilder können bis heute „das Herz erheben“ und machen es zu einem der populärsten Lieder des Gesangbuches. Mit seiner Lyrik hat Paul Gerhardt auch spätere Dichter nachhaltig beeinflusst (Matthias Claudius, Gerhard Tersteegen).


Dr. phil. Ulrike Voigt
Stuttgart
E-Mail: dr.u.voigt@web.de


Weiterführende Literatur:
Lothar Schmidt: Hertz- und Garten-Zier. Paul Gerhardts Sommer-Gesang. In: Gedichte und Interpretationen 1. Renaissance und Barock, Hrsg. von Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 281-302 (mit weiteren Literaturangaben);
Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. Hrsg. von Hansjakob Becker, Ansgar Franz, Jürgen Henkys u.a., München 2001, S. 262-274;
Christian Bunners, Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung. Göttingen 2006, S. 128-134.
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