Triage

Predigt zu Joh 11,48-52; 15,13 | verfasst von Jochen Riepe |

 

I

Das rohe Holz des Kreuzes. Der bloße Körper des Mannes. Tot ist tot – seht nach, ob noch Leben in ihm ist. ‚… einer der Soldaten stieß mit dem Speer in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus‘(19,34).

II

Plötzlich sind Fragen und Probleme aus der Katastrophen- und Intensivmedizin in den Zeitungen und Medien präsent, über die wir Laien bisher wenig oder gar nicht nachgedacht haben: Wen beatmen wir?  Wen lohnt es, aufwändig und kostspielig  zu behandeln? Wer kann es schaffen? Wen müssen wir aufgeben, um einen anderen zu retten?

‚Triage‘ – nennt man das. Der Begriff stammt wohl aus den Kriegen der napoleonischen Zeit: Wenn die Ärzte nach dem Kampf ein Schlachtfeld ‚sichteten‘, wurden die Verletzten ‚sortiert‘ bzw. eingestuft, französisch ‚trier‘.  Die Zeit, zu behandeln, ist knapp, die Ressourcen sind knapp, und wir müssen im Auftrag des Souveräns sehr unangenehme Entscheidungen treffen. ‚Der kann liegen bleiben. Wir werden den Leichnam abholen lassen. Der kann es schaffen und bekommt die notwendige Behandlung‘. Welche letzten oder eben vorletzten Gedanken mögen die gehabt haben, die dort lagen?

III

Ein Mediziner im Schutzanzug. Ein Patient am Beatmungsschlauch. Intensivstation. Die Corona-Krise, die Zeit von Covid -19, macht das alte Wort der Militärärzte schmerzlich aktuell: Triage- Sortieren, Aussortieren von Kranken. Aus Italien kamen die ersten Berichte. Ärzte klagten und klagen über den Mangel an Sicherheitskleidung und besonders an Beatmungsgeräten. Angesichts vieler schwer- und schwersterkrankter Patienten müssen sie, die doch prinzipiell ‚jeden‘ Erkrankten heilen wollen, Entscheidungen über Tod und Leben treffen – soz. ‚Gott spielen‘ oder eben ‚Biopolitik‘ betreiben, wer ‚im Namen des Volkes‘ buchstäblich Luft bekommen soll und wer nicht.

Italien war der Anfang, Frankreich folgte, vielleicht bald auch die Schweiz und Deutschland. In der Straßburger Universitätsklinik heißt es: ‚Über 8o Jährige werden nicht mehr behandelt. Sie bekommen eine Sterbebegleitung‘.* Eine Ethikkommission berät jeden Einzelfall und urteilt dann, welcher Patient beatmet wird und welcher zum Tod begleitet wird. Welche letzten oder eben vorletzten Gedanken mögen die haben, die dort liegen?

IV

Nach dem Evangelium des Johannes sind die Vertreter der Jerusalemer Behörden versammelt und machen sich ebenfalls Gedanken; Gedanken, in denen stadtpolitisch-pragmatische Aspekte, die der Fall des prophetischen, dem ‚Ewigen‘ verpflichteten, Volksgenossen Jesus von Nazareth aufwirft, erörtert werden. Johannes, der sonst so wortreich-symbolisch, ja: ‚erhebend-abgehoben‘, schreibt, er legt dem Hohenpriester Kaiphas nüchtern-kalkulierende Worte in den Mund: ‚Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als daß das ganze Volk verderbe‘. Als  gleichsam reichspolitische Hintergrundüberlegung hören wir mit: Bevor ‚dieser Mensch‘(11,47) im Volk ‚Glauben‘ findet, Unruhe stiftet und die ‚römischen Legionen anrücken‘(H. Thyen), wir also abdanken können, den Tempel und die Selbstverwaltung gänzlich verlieren, müssen wir handeln.

Kaiphas spricht es dann aus, was alle denken: Hier steht das politische ‚Über-Leben‘ des ganzen Volkes, sein ‚nacktes Leben‘(G. Agamben), auf dem Spiel, und das rechtfertigt unser Vorgehen, ihm den Prozeß zu machen und ihn – auszuräumen. ‚Wir müssen vernünftig sein und darum gewichten, sortieren‘. Ja, diese Bilder gilt es zu ertragen: Ein Mensch, verspottet, verhöhnt, gefoltert, ans Kreuz geschlagen‚ dem ‚Souverän‘, der dunklen Seite des Staates und seinen Institutionen ausgeliefert.

V

Das rohe Holz des Kreuzes. Der nackte Körper des Mannes. Seht nach, ob noch Leben in ihm ist: ‚… einer der Soldaten stieß mit dem Speer in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus‘.

Natürlich: Johannes wäre nicht Johannes, wenn nicht von Anfang an der kühle behördliche ‚Tötungsbeschluß‘, soz. die behördliche Triage in einer außergewöhnlichen Gefahr,  von einer Gegenbewegung des ‚aussortierten‘ Lebens selbst korrigiert würde: ‚Ströme lebendigen Wassers‘(7,38) fließen auch hier, und Jesus gibt ja gleich in seinen ‚Abschiedsreden‘ verschiedene Deutungen und Verständnismöglichkeiten seines Weges, die die österliche Gemeinde in der Kraft des Geistes nachvollziehen kann**. Eindrücklich für alle Zeiten, allerdings auch mißbraucht zu allen Zeiten, ist sicherlich sein, ja: blutvolles Wort: ‚ Niemand hat eine größere Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde‘(15,13).

Der Körper, der längst zum Objekt von fremden Entscheidungen gemacht wurde, der ‚aufgegeben‘ und bald der Folter ‚übergeben‘ wird, er bäumt sich in seiner Lebendigkeit auf. Er reklamiert ‚Gott‘ und darin seine Deutungshoheit, seine Liebesfähigkeit, seine Wärme und seine Sozialität. Es ist das letzte Abendmahl des Jüngerkreises, ein Freundschaftsmahl, und anscheinend liegt in dieser Gemeinschaft der Freunde die Kraft, die Regeln der Biopolitik, die Preisgabe eines Leibes an den Souverän, zu durchbrechen. Die Menschlichkeit ‚dieses Menschen‘, der in der Verfügungsgewalt anderer vernichtet zu werden droht, sie bekommt etwas Eigenes und Persönliches: Seine ‚Wahrheit‘ strahlt sozusagen in diesem Wort auf.

VI

Stellt sich dieser evangelische, gottbezogene Wärmestrom gegen die interne politische Überlebens-Logik auch in unserer heutigen Situation ein oder strömt er soz. daran vorbei? Wie erschütternd sind die Berichte*** über das einsame Sterben in den Krankenhäusern von Bergamo! Wie schmerzlich die Sehnsucht und die Bitten der Sterbenden, die nicht mehr behandelt werden können, nach einem letzten Kontakt zu ihren Angehörigen! Hier ist keine Freiheit, hier ist nur – Sterben.

Ist es aber ein ‚fake‘, eine erfundene oder jedenfalls überzogene Nachricht, auf unser Trostbedürfnis schielend, wenn wir verwundert, verblüfft, aufgeschreckt den Bericht von dem Priester von Lovere lesen. Er, Guiseppe Beradelli, habe darauf verzichtet, beatmet zu werden, und verlangt, statt seiner  einen jüngeren, ihm gänzlich unbekannten,  Mann an die Apparate anzuschließen. Die Ärzte willigten ein. Der Priester verstarb, aber wurde als ‚Held‘ in den sozialen Medien gefeiert. Wer bringt dieses soz. priesterliche Selbstopfer nicht sofort in Verbindung mit dem Freundschaftsdienst Jesu, der sein Leben für die Seinen läßt, damit die ihm Anvertrauten ‚Frucht bringen‘(15,16) können!

Es ist eine (fast) verbotene, aber eine sich ganz von selbst einstellende Frage: Für wen, für welchen ‚Freund‘ könnte ich auf mein Beatmungsgerät verzichten? Für meine Angehörigen, für meine Mitchristen, für einen gänzlich Unbekannten?

VII

Biopolitik – plötzlich stehen wir oder vorsichtiger: könnten wir vor Fragen stehen wie die Menschen in Bergamo oder in Straßburg oder einst die Militärärzte auf den Schlachtfeldern. Die Ärzte! Dieser Berufsstand, dem wir viel verdanken, von dem wir abhängig sind, auf den wir darum so oft schimpfen. Besonders die Pneumologen und die Intensivmediziner sind es ja, die in Corona-Not-Zeiten,  ja, menschliches Leben in gewisser Weise bewerten und entscheiden, welche medizinischen Ressourcen und welche Behandlung einem Patienten zukommen kann. Triage!

Noch ist bei uns diese ‚biopolitische Situation‘ nicht eingetreten und vielleicht bleibt sie uns erspart. In Erwartung künftiger Notsituationen auf den Intensivstationen hat man aber Kriterien benannt, anhand derer Entscheidungen getroffen werden können: Daß dabei der Schweregrad der Erkrankung, die Dringlichkeit, aber auch die Erfolgsaussicht einer Behandlung, also die Überlebenschance eines Patienten, wichtige Aspekte darstellen – das klingt kühl und hart, ist aber der schwierigen Situation, insbesondere auch dem jetzigen Mangel an Intensivpflegekräften, geschuldet.

Beklemmende Frage: Wird Gott mir -so ausgeliefert, vielleicht sogar aufgegeben und verlassen-, das Vertrauen lassen?  Es kann, wie man sagt, jeden treffen, und so uns Gott diesen Weg ‚aus der Welt in das Reich‘***** zumutet,  so mögen wir im Gebet des Gekreuzigten,  in seinen  ‚Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen‘(Hebr 5,7), Trost finden.

VIII

Und die Ärzte, die Schwestern und Pfleger? Die ‚Sortierer‘ auf den heutigen Schlachtfeldern? Sie, die ja selbst vielfach gefährdet oder schon längst erkrankt sind? Natürlich, sie können es dem Kaiphas ähnlich politisch-pragmatisch sehen: ‚Es ist besser, daß ein Mensch sterbe…‘, und damit ihrem Handeln einen rationalen, entlastenden Rahmen geben. Sie werden auch ihre Fachlichkeit und Professionalität in gewisser Weise als Schutzmantel tragen müssen.

Sie können aber, begrenzt und tastend wie wir alle, als mitleidende Mitchristen, als ‚Freunde‘ Jesu, aus den Sachzwängen heraustreten – sein ‚Reich ist nicht von dieser Welt‘(18,36)-, am Bett des Kranken Anrede und Fürbitte halten: ‚Befiehl du deine Wege‘(eg 361), und damit –anders als damals in Jerusalem-  die erste Aufgabe des Staates und seiner Einrichtungen erfüllen, nämlich ein Schutzraum der Lebenden und der Sterbenden zu sein.

Sterbebegleitung. Ein Mediziner in Schutzkleidung. Ein Patient an Apparaten. Das rohe Holz. Der hinfällige Leib. Das Wasser und der Geist, das Blut – ‚der wahre Trank‘(6,55).

 

(Gebet nach der Predigt: ) Herr Jesus Christus, wir bitten für uns, die wir in diesen Tagen von Krankheit, Angst und Not betroffen sind: Stärke uns und gib uns Zuversicht! Wir bitten für alle, die sterben müssen, daß sie nicht verzweifeln, sondern in Frieden den Weg zu dir gehen können. Wir bitten besonders für Ärzte, Schwestern, Pfleger und Angehörige: Daß sie den Kranken und Sterbenden treue Begleiter sind und sich selbst begleitet, unterstützt und in unserer Fürbitte gehalten wissen.

Liedvorschläge: Befiehl du deine Wege (eg 361,8-10), O Haupt voll Blut und Wunden (eg 85,9.10)

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* https://www.baden.fm/nachrichten/dramatische-lage-an-uniklinik-strassburg-623043/**C. Hoegen- Rohls, Der nachösterliche Johannes: Die Abschiedsreden Jesu als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, 1996***https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-03/krankenversorgung-italien-totenversorgung-bestattung-mailand-lombardei https://www.welt.online (25.3.20)****https://www.zeit.de/2020/13/michael-de-ridder-rettungsmedizin-coronavirus-ausnahmezustandhttps://www.businessinsider.de/wissenschaft/gesundheit/mit-diesem-verfahren-entscheiden-aerzte-im-corona-notfall-welche-patienten-behandelt-werden-und-welche-nicht/*****M.Josuttis, Heiligung des Lebens. Zur Wirkungslogik religiöser Erfahrungen, 2004,S.79 (‚Katastrophen‘)

Pfr. i.R. J. Riepe   Dortmund   email: Jochen.Riepe@gmx.net

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