Um des Menschen willen

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Um des Menschen willen

Predigt über Markus 2,23-28 | verfasst von Marion Werner |

Gnade sei mit euch und Frieden, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Regeln und Rituale können einem das Leben leichter machen. Es ist anstrengend, wenn man jeden Tag mit den Kindern kämpfen muss, ob es nun Zeit sei mit den Computerspielen aufzuhören oder nicht. Noch mehr Nerven kostet es, am Wochenende mit den Halbwüchsigen zu verhandeln, wann sie denn im Bett sein sollen. Einfacher ist es, wenn man sich auf Regeln verständigt: jeden Tag dürfen sie eine halbe Stunde gamen. Am Wochenende sind sie um 22.00 Uhr im Bett. Über Ausnahmen kann man sicher reden. Aber Regeln machen es leichter für alle Beteiligten, finde ich. Und wenn die Zeit vergeht, die Kinder grösser oder erwachsen geworden sind, dann kann man Regeln anpassen oder weglassen.

Regeln machen das Leben leichter. Natürlich kann man das auch anders sehen. Regeln engen ein, sagen manche. Was für den einen richtig ist, ist einem anderen ein erdrückendes Muss. Die letzten Wochen ist viel über die Maskenpflicht diskutiert worden, aber auch über andere Einschränkungen. Einige Kantone waren da sehr vorsichtig, andere besonders frei in ihrem Tun. Es wurde auf die Solidarität mit den Risikogruppen hingewiesen, auf die Sorge um das überlastete Gesundheitssystem, die NZZ schrieb «die Jugend bezahlt den höchsten Preis», ihr Leben wird am schmerzhaftesten beschränkt. Solche Diskussionen sind sehr anstrengend. Letzten Sonntag beschloss der Bundesrat dann einige einheitliche Regeln, mit denen wir nun alle leben müssen.

Sich an Regeln anzupassen, erst einmal davon auszugehen, dass das sinnvoll sein könnte, was andere schon ausprobiert und geregelt haben, gibt dem Leben eine Art Gerüst, an dem man sich halten kann. Ich glaube, das tut gut, auch wenn es einem manchmal gar nicht ausdrücklich bewusst ist.

Regeln machen es einem nicht nur leichter, sie können auch frei machen. Die Sonntagsregel zum Beispiel. «Du sollst den Feiertag heiligen», das dritte Gebot. Ich versuche mich bewusst daran zu halten. Nehme mir vor, am Sonntag nicht zu arbeiten – ausser ich habe einen Gottesdienst zu halten, was ich immer gerne tue. Aber sonst versuche ich sonntags nichts von dem zu tun, was ich an Werktagen machen kann: nicht waschen, nicht bügeln, nicht einkaufen. Kochen mit meinem Mann geniesse ich und freue mich, wenn wir als Familie gemeinsam essen können. Auch telefonieren ist schön am Sonntag, weil auch andere frei haben und mehr Zeit, oder sich treffen und gemeinsam hinaus gehen. Für mich gehört natürlich am Sonntag auch der Gottesdienst dazu. Lauter Dinge, die den Sonntag zu einem besonderen Tag machen, wo man nichts muss, sondern tun kann, was man möchte.

In unserem Konfirmandenbuch gibt es ein besonderes Foto, das jedes Jahr gut ankommt: in einer Schwimmhalle sind 7 Bahnen zu sehen. Auf 6 Bahnen schwimmen und kämpfen 6 Schwimmer und geben ihr Bestes. Auf der 7. Bahn, mit Aufschrift «Sonntag», liegt ein Schwimmer auf einer Luftmatratze, Getränk in der Hand, Sonne im Gesicht, völlig gechillt. Immer wieder entlockt dies Bild den Satz: «Wie cool, dass wir Pause haben dürfen!»

Ja, wie cool. Gott sei Dank haben wir den Sonntag. Für mich ist es ein Tag der Freiheit. Aber das nur, weil ich eine Regel habe, an die ich mich halte, sonst würde ich an diesem Tag all das machen, was unter der Woche liegen geblieben ist…

Um den jüdischen Sonntag, den Sabbath geht es in unserem Predigttext. Hören wir, was Jesus und seinen Jüngern widerfährt.

Markus 2,23-28

23 Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.

Ja, der Sabbath, die Sonntagsregel ist für den Menschen gemacht. Um des Menschen willen. Damit sie uns guttut, uns aufatmen lässt, uns Freude bereitet, uns auftanken lässt.

Die Jünger von Jesus übertreten in den Augen der Pharisäer, die über dem Gesetz wachten, das dritte Gebot. Sie arbeiten am Sabbath, sie reissen Ähren aus. Und Arbeit ist am Sabbath untersagt. Dass die armen Jünger Hunger hatten, ist den Pharisäern egal. Für sie zählt nur das Einhalten der Gebote.

In einem scheinbar idyllischen Bild laufen die Jünger durch ein reifes Kornfeld im Sonnenschein. Sie haben Hunger und eine Möglichkeit Essen zu bekommen, ist nicht in Sicht. Also brechen sie Ähren ab, reiben sie zwischen den Händen und essen die Körner. Eigentlich traurig. Und dafür werden sie von den Pharisäern zurechtgewiesen.

Jesus antwortet wie immer als ein Kenner der biblischen Schriften. Er erinnert an den grossen König David und den Priester Abimelech. So wie Abimelech die Tradition der Schaubrote ausnahmsweise durchbricht, so durchbricht Jesus die Sabbatruhe im Interesse seiner Jünger.

Das 1. Buch Samuel 21,1-10 erzählt vom Priester Abimelech. Am Sabbath hatte er eine besondere Aufgabe: Er musste aus feinem Mehl zwölf Brote backen. Schaubrote nannte man sie. Sie wurden für Gott, den Herrn, gebacken und in seinem Heiligtum auf den Altar gelegt. Gott sollte sie anschauen und als eine beständige Gabe seines jüdischen Volkes annehmen. Wenn die Woche um war, durften Abimelech und die anderen Priester die Brote essen, die dann durch neue heilige Brote ersetzt wurden. So war es Tradition seit Mose. So war es von den Vorvätern überliefert. Und so wurde es gemacht. Woche für Woche, Sabbat für Sabbat.

Grundsätzlich sollten die Schaubrote, die Abimelech buk und für Gott auf den Altar legte, nur von ihm und den anderen Priestern gegessen werden. Doch plötzlich stand eines Tages David vor dem Heiligtum. David war auf der Flucht. Und David hatte Hunger. Er bat Abimelech: „Hast du nun etwas bei der Hand, etwa fünf Brote oder was sonst vorhanden ist, das gib mir in meine Hand.“ (1. Sam 21,4). Nichts anderes hatte Abimelech anzubieten als die Schaubrote, die heiligen Brote vom Altartisch Gottes. Was tun? Nach kurzer Überlegung entschied sich Abimelech, David von den heiligen Broten zu geben, obwohl er kein Priester war. Gesetz und Tradition waren damit überschritten. Nicht außer Kraft gesetzt, aber überschritten. In diesem besonderen Fall. Um des Menschen David willen.

Jesus und vor ihm Abimelech lassen zu, dass Traditionen, dass Regeln gebrochen werden. Für beide gilt jedoch, natürlich werden die Gebote dadurch nicht ausser Kraft gesetzt. Sie gelten immer noch, auch wenn sie um der Menschen willen in besonderen Notsituationen übertreten worden sind, denn Essen ist lebensnotwendig für Ausgehungerte.

Regeln sind nie kritiklos angenommen oder respektiert worden. Das, worauf Jesus hinweist, ist aber das Entscheidende: Dienen Regeln dem menschlichen Leben oder nicht? Die Sabbatruhe, die Sonntagsruhe dient dem Menschen und hilft ihm. Sie ist ein Gottesgeschenk. Im Falle des Hungers diente den Jüngern und David die Übertretung der Gebote, damit es ihrem Leben wieder gut ging.

Dienen Regeln dem menschlichen Leben oder nicht? Das ist die Frage.

Wie ist das mit der Maskenpflicht und den Corona Einschränkungen? Es wird darüber gestritten ob sie uns dienen oder uns einschränken. Und immer wieder wurde an die Eigenverantwortlichkeit appelliert. Das ist sicher sinnvoll. Das Problem an dem Wort «Eigen-verantwortlichkeit» ist jedoch, dass man sich zuerst für «Eigene» verantwortlich weiss und entsprechend reagiert. Das eigene Interesse steht im Vordergrund, ohne zu bedenken, dass das eigene Interesse vielleicht für die anderen ein Risiko birgt.

Das gilt genauso für Senioren, die zum Beispiel die Regeln nicht einhalten und sagen: «Lieber lebe ich jetzt noch so wie es mir gefällt. Sollte ich ins Spital kommen und sterben, ist das nicht so schlimm, ich hatte ein langes und gutes Leben». Im Spital und in der Pflege arbeiten aber Mütter und Väter, die durch lange Schichten oft fern von ihrer Familie und dem Risiko ausgesetzt sind.

Das gilt ebenso für junge Menschen, die gern noch ihre Partys feiern in dem Wissen, dass sie wahrscheinlich nicht so stark erkranken, sollten sie sich infizieren. Dass sie das Virus aber auch an Menschen mit Vorerkrankung weitergeben können, die dann sehr schwer leiden oder allenfalls sterben, ist nicht im Blick.

Den Schritt von der Eigenverantwortung hin zur Fremdverantwortung, den gehen nicht alle Menschen. Doch Eigenverantwortung und Fremdverantwortung gehören zusammen, wie die zwei Seiten einer Münze.

Mein Wohlergehen ist auch immer an das Wohlergehen der Gesellschaft gebunden, in der ich lebe. Mein Wohlergehen muss den Andern in Blick haben, das Leben des Anderen, die durch mich nicht zu Schaden kommen dürfen. Deshalb sind Regeln nötig in dieser Pandemiezeit. Regeln die für alle gelten und alle im Blick haben.

Ich weiss natürlich, dass Herbst und Winter unter diesen Vorzeichen sehr lang und auch mühsam sein werden. Ich kann mir aber vorstellen, dass es uns hilft, uns daran zu erinnern, wenn uns die Motivation zum Durchhalten fehlt.

Zum Abschluss möchte ich gemeinsam mit uns beten:

«Gott, gib mir die Gelassenheit,

Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Einen Tag nach dem anderen zu leben,

einen Moment nach dem anderen zu genießen.

Entbehrung als einen Weg zum Frieden zu akzeptieren.

Diese sündige Welt anzunehmen, wie Jesus es tat,

und nicht so, wie ich sie gerne hätte.

Zu vertrauen, dass du alles richtig machen wirst,

wenn ich mich deinem Willen hingebe,

sodass ich in diesem Leben ziemlich glücklich sein möge

und im nächsten für immer überglücklich».

Amen.

(Reinhold Niebuhr)

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn. Amen

 

Dr. Marion Werner

Pfarrerin in der evangelisch-lutherischen Kirche Zürich

pfarrerin@luther-zuerich.ch

Kurvenstrasse 39, 8006 Zürich

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