Vaterunser

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Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Predigtreihe zum Vaterunser

4. Teil (21. Juni 1998): „Unser täglich Brot gib uns heute“

Verfasser: Prof. Dr. Ulrich Nembach


Liebe Gemeinde,

ein Brot liegt auf dem festlich gedeckten Tisch. Unter all den schönen,
leckeren Sachen, die es zu essen gibt, liegt ein Brot. Meine Eltern legten wert
darauf, daß ein Brot gerade an diesem Tag auf dem Tisch liegt. Wir Kinder
hatten ganz andere Dinge im Kopf. Die Speisen dufteten, sahen wunderschön aus. Wir hatten Sorgen, ob wir nachher noch Platz für den Nachtisch haben werden. Vielleicht gerade, weil das Brot dort deplaziert lag, ist es mir noch heute in Erinnerung.

Die Absicht meiner Eltern war: Das Brot soll uns daran erinnern, daß
wir von ihm leben und dankbar gegenüber dem Geber sein sollen.

1. Brot ist mehr als zu Mehl gemahlenes und anschließend gebackenes
Korn. Brot meint, was wir zum Leben brauchen, nötig haben, unbedingte
Voraussetzung ist, damit wir leben können. Kuchen sieht lecker aus, reizt
den Gaumen, wenn wir ihn nur sehen. Kuchen läßt uns das Wasser im
Munde zusammenlaufen. Aber ohne Kuchen können wir leben. Manche mögen Kuchen gar nicht besonders, sondern essen lieber einen Schweinebraten. Aber auch von ihnen gilt, wenn es ernst wird, auf den Schweinebraten können wir verzichten, aber nicht auf das Brot, das Wasser, die Arbeit.

Brot meint alles, was wir zum Leben brauchen. Luther zählt in seiner
Erklärung der 4. Bitte alles auf, was ein Mensch im Wittenberg seiner Tage
zum Leben braucht. Das Haus, die Partner, die Kinder, die Kleidung usw. Die lange Aufzählung ist nicht langweilig. Wer sie liest, denkt automatisch:
recht hat Luther. Heute müssen wir noch einige Dinge hinzufügen. Die
Welt hat sich geändert. Der Arbeitsplatz ist nicht sicher, dabei brauchen
wir ihn. Zu trinken ist lebensnotwendig. Das Wasser ist in Deutschland in seiner Reinheit bedroht, und weltweit wird es knapp.

2. Weil das so ist, sind die Probleme groß, wenn es Probleme mit dem
Brot gibt. Zwei Beispiele sollen die Schwere der Probleme zeigen.

Luther rechnet zum Brot die Partnerschaft. Frau und Mann, Eltern und
Kinder. Sie alle leben miteinander und möglichst gut miteinander. Seit
Luther hat sich viel bei uns geändert. Die Partnerschaft ist davon
besonders betroffen. Für die Partnerschaft ist vieles getan worden. Jungen
und Mädchen werden nicht mehr lange voneinander ferngehalten. WGs sind
entstanden. Paare leben mit oder ohne Trauschein zusammen. Scheidungen sind so umgestaltet worden, daß sie ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden können. Alle diese Möglichkeiten haben nur den einen Zweck,
Partnerschaft zu verschönern, wenigstens zu erleichtern. Tatsache ist aber,
daß Probleme aus dem Beziehungsbereich ganz oben stehen auf der Liste
menschlicher Schwierigkeiten. Paare beschimpfen sich, laufen schon nach kurzer Zeit auseinander, obwohl sie vor kurzem sich noch nach Gemeinsamkeit gesehnt, sie geradezu herbei gewünscht haben. In einer solchen Situation hilft auch nicht mehr die Erinnerung an schöne gemeinsame Tage. Das Paar hat heute Hunger, braucht heute das Brot.

Genauso liegen die Dinge in einem anderen Bereich. Luther zählt auch
ihn zum Brot. Es geht um die schon erwähnte Arbeit. Vor wenigen Jahren
hatten wir Arbeit, die im Osten und die im Westen. Arbeit zu schaffen, war nicht leicht in den Jahren nach 1945. Das Land war in West und Ost zerstört. Dennoch gelang es, Arbeit zu schaffen. Im Westen gelang das so gut, daß die im Osten am Westen teilhaben wollten. Die Basis der Arbeitsbeschaffung war die soziale Marktwirtschaft. Der Markt war frei, jede und jeder konnte kaufen und verkaufen, aber die Grenze des Marktes war der Andere. Über all dem Geschäftlichen wurde nicht vergessen der Mensch, seine Bedürfnisse, sein „Würde“, wie es das Grundgesetz nennt. So wurde die biblische Frage nach dem Nächsten aktuell übersetzt und praktiziert.
Die soziale Marktwirtschaft hat ihre Wurzel im biblischen Befund. Heute haben wir auf der einen Seite Arbeitslose und auf der anderen Seite gut, sehr gut Verdienende. An die Stelle der sozialen Marktwirtschaft ist das Denken in Values für Shareholder getreten. Nur noch der Gewinn zählt. – Mir scheint, wir haben vergessen, das B r o t auf den festlich gedeckten Tisch zu legen.

3. Gott in der Situation zu bitten, fällt manchen nicht ein. Anderen fällt
gerade Gott ein. Dabei haben wir es nicht weit gebracht. Hunger herrscht in der Welt, während manche Länder nicht wissen, wohin sie mit ihren riesigen Getreidevorräten hin sollen. In Göttingen wie anderswo müssen
Menschen bekocht werden, damit sie nicht verhungern. Arbeitslosengeld,
Sozialhilfe reichen nicht aus.

Wer selbst nicht weiter weiß, wendet sich an Fachleute. Ärzte
werden konsultiert. Fernsehprogramme laufen mit Ratgebern für die
Gesundheit. Wer Ärger mit seinem Arbeitgeber bekommt, wendet sich Rat und Hilfe suchend an die Gewerkschaft oder einen Rechtsanwalt.

Gott zu bitten, fällt besonders schwer den Menschen in Westeuropa.
Schon in den USA ist es anders, mit denen uns soviel in Wirtschaft und
Wissenschaft verbindet. Dort ist das Gebet ein fester Bestandteil im Leben der Menschen, des Staates. Die Befragungsergebnisse sprechen eine sehr deutliche Sprache und zwar schon seit Jahren. Eine überzeugende Erklärung für den Unterschied wurde bislang nicht gefunden. Wie sollen wir auch erklären können, warum Menschen nach nur wenigen Jahren vergessen haben, den Nachbarn, sein Brot? Wie sollen wir erklären können, daß
Politiker und Manager innerhalb weniger Jahrzehnte vergessen haben, wie sie Elend und Not nach 1945 überwunden haben?

Was ist passiert, wenn Mütter in Belgrad auf die Straße gehen müssen,
um ihre Söhne heimzuholen, die in den Kosvo geschickt wurden. Eine Mutter sagte, ich habe doch nicht meinen Sohn erzogen, damit er zum Mörder wird und nachher selbst erschossen wird. Schon vorher waren Mütter in Rußland nach Tschechenien gefahren, um ihre Söhne heimzuholen. Davor hatten Mütter in Buenos Aires Klarheit wegen ihrer verschollenen Söhne verlangt. Immer ergriffen Frauen die Initiative und wehrten sich gegen die Mächtigen. Diese übersahen über aller ihrer Macht, ihrem Wohlstand, daß andere sterben. Es geht jedesmal ums Leben. „Unser täglich Brot gib uns heute.“

Wir müssen uns schon an Gott selbst wenden. Er ist der Schöpfer
der Welt, und er erhält sie. Gott begnügte sich nicht damit, einmal
das System Weltall mit einem großen Knall zu starten, um sich anschließend
zurückzuziehen. Die Theologen sprechen von der Schöpfung aus dem
Nichts und der Fortdauer der Schöpfung. Die Fachtermini sind creatio ex
nihilo und creatio continua.. Luther mit seiner Sprachkraft sagte schlicht: Gott schuf uns und erhält uns.

Die 4. Bitte, „unser täglich Brot“, richtet sich darum an
Gott, an ihn selbst.

4. Wir bitten ihn und zwar als unseren Vater! Mit der Anrede „Unser-Vater“
will uns Gott locken, damit wir zu ihm wie Kinder zu ihrem Vater, zu ihrer
Mutter kommen. Kinder wenden sich ganz selbstverständlich an ihre Eltern,
wenn sie Hilfe brauchen. Im Alten und im neuen Testament ist oft von Frauen die
Rede, die sich um andere kümmern. Einer der ältesten Teile der Bibel,
wohl der älteste überhaupt, handelt von einer Frau. Im Neuen Testament
findet sich die Geschichte von einem alten Vater. In jüngeren Jahren war
einer seiner beiden Söhne zu ihm gekommen und hatte Geld verlangt, er
wollte sein Erbteil. Der Vater gab ihm das Geld. Der Sohn nutzte das Geld nicht,
gab alles aus, kam bettelarm zurück. Er konnte sich nicht mehr Brot kaufen.
Der Vater nahm ihn trotzdem auf.

Ich denke, wir sollen nicht über jenen Sohn gleich die Nase rümpfen.
Der biblische Text tut das jedenfalls nicht. Der wenig hoffnungsvolle Sohn wird kommentarlos vorgestellt. Ich denke, das ist gut, sogar sehr gut. Wir gleichen jenem Sohn. Es ist geradezu aberwitzig, wie sehr wir jenem Sohn gleichen. Wir produzieren zuviel Korn in unserem Land. Die EU weiß nicht, wie sie mit den Agraüberschüssen fertig werden soll. Sie zahlt zig Milliarden dafür und schafft es nicht, die Überschüsse die Überschüsse zu reduzieren. Gleichzeitig hungern Menschen in unserer Stadt. In dieser Situation ist es beruhigend, sehr beruhigend, daß wir einen Vater haben. Wir können zu ihm kommen. Wir können ihn um das tägliche Brot bitten. Dieser Vater weiß um unsere Probleme. Wir brauchen nicht lange Untersuchungen anzufertigen, gelehrte und zudem komplizierte Abhandlungen zu schreiben. Wir können
ihm einfach 6 Wörter sagen: unser täglich Brot gibt uns heute.

Trostvoll ist ferner, daß, obwohl viele nicht beim täglichen
Brot an Gott denken, viele gerade an Gott denken. Das „Vater-unser“
wird bei ganz unterschiedlichen Anlässen gesprochen, in unseren
Gottesdiensten, am Grabe, bei Unfällen auf Landstraßen und
Bahnstrecken. Keine und keiner braucht sich zu schämen, wenn sie, wenn er
zum Vater als Kind kommt, das nicht weiter weiß. Kinder genieren sich
nicht, zu ihren Eltern zu gehen, sie zu bitten.

Vielleicht sollten wir öfters ein Brot auf den Tisch legen – auch und
gerade dann, wenn wir uns anschicken, Köstlichkeiten zu verspeisen, wenn
das Büfett reichlich gedeckt ist. Meine Eltern begannen das Essen der schönen Speisen mit dem Brot mittendrin, indem sie ein Gebet sprachen.

Übrigens, meine Eltern legten nur e i n Brot auf den Tisch. Das Fest
veranlaßte sie nicht, auch beim Brot üppig zu werden, vielleicht zwei
oder drei hinzulegen oder gar eine Brotpyramide zu bauen.

„Vater, unser täglich Brot gib uns heute.“

Amen

___

Ulrich Nembach, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen,

e-mail: unembac@gwdg.de

Martin Luther und Ernst Lohmeyer leiteten die Überlegungen einerseits
und die christliche Soziallehre andererseits. Das Bort ist die Verknüpfung
beider Bereiche. Luthers Aufzählung biette dafür die Basis.

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