Vergebung

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Vergebung

Vergebung, Pfarrer Birte Andersen, 2009/2011 gehalten


Ist Vergebung möglich? Kann die Erde uns vergeben,
wenn wir unsere Naturgrundlage zerstören? Können Menschen in
der dritten Welt uns vergeben? Können die Opfer in Tschetschenien
dem Westen vergeben? Oder die des Irak? Können wir uns selbst vergeben?

Fragen wie diese dürfen nie aus unserem Bewußtsein verschwinden
und aus unserer Diskussion, und sie dürfen nie verstummen. Aber
wenn wir unter der Last dieser Fragen zusammenbrechen, werden sie zu
einer Falle, die uns lähmt und uns weiter machen läßt
nach dem mehr oder weniger verbreiteten Motto: „Es wird schon gehen“.
Deshalb müssen wir in einer anderen Weise von Vergebung reden.

Und es gehört Mut dazu, sich in dieses Feld zu begeben, denn hier
wird die Rede von der Vergebung dringlich.

Vergebung ist einer der Grundpfeiler des Christentums. Dennoch oder
gerade deshalb ist Vergebung als Begriff so schwer zu fassen und als
Handlung so schwer zu vollziehen. Vieles ist Vergebung genannt worden,
was es nicht war, und vieles, was Vergebung ist, kennt das Wort nicht
– oder will von dem Wort nichts wissen.

Oft hat es als Vergebung gegolten, wenn man, statt einen Konflikt auszutragen,
versucht hat, ihn zu lösen. Man kann zu viel oder zu früh vergeben.

Vergebung ist schwer genug. Wo es wirklich um Vergebung und nichts
anderes geht, da ist es wichtig, daß man ein Gespür dafür
hat, was Vergebung ist, und was nicht, um vergeben zu können.

Diese großen Rede, die Jesus für das Volk hält, ist
fast eine Programmrede für das sehr alternative Bild von Gott, das
er in sich trägt und hier seinen Landsleuten vorträgt. Hier
stellt er die üblichen Bilder auf den Kopf.

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“, und Verurteilung der bösen
Tat um der Gerechtigkeit willen und der Wiederaufrichtung des Friedens.
So dachte man in der damaligen Zeit und der damaligen Gesellschaft. Begründet
wurde das in den alttestamentlichen Familiengesetzen, aber das ist vielen
Kulturen in der ganzen Welt gemeinsam. Das ist die Ordnung, wo der Stärkste
sein Recht behauptet. Wo das Recht und das Eigentum des Starken mit Macht
behauptet wird und wo die Hackordnung Aufruhr und Unruhe unterbindet.
Diese ganze allzu bekannte Existenz, die sich heute kräftig wieder
zurückmeldet, wo der Atem der Vergebung erlischt. Das ist wirklich
eine andere Weltordnung, die Jesus einführt, wenn er den Gekränkten
darum bittet, zu vergeben.

Vielleicht sollen wir uns einen Zusammenhang vorstellen, wo die Anhänger
Jesu nicht richtig wußten, worüber er sprach, wenn er von
Vergebung sprach. Für sie würde Vergebung das Gesetz und die
Ordnung der Gesellschaft außer Kraft setzen, so daß die Gesellschaft
zerfällt – wie wir das auf z.B. auf dem Balkan erlebt haben. Das,
wovon die Politiker reden, wenn sie die großen Worte gebrauchen,
liegt daran, daß wir – im Unterschied zu den Zuhörern Jesu
sehr wohl wissen, was Vergebung ist. Oder es bis vor kurzem gewußt
haben. Man muß es laut sich selber und einander sagen, um die Herausforderung
bestehen zu können, die die Vergebung ist. In der Praxis wird Vergebung
oft durch Verdrängung ersetzt, vielleicht gar durch Verleugnung.
Wenn man versucht, sich selbst zu verändern und seinen Zorn zu dämpfen,
statt sich zu ihm zu bekennen. Oder wo Vergebung dazu benutzt wird, den
Unterschied zwischen Gut und Böse zu verwischen.

Ich kenne eine Familie, wo die Frau so große Luxusansprüche
hatte, daß der Mann Unterschlagung beging, um ihre Bedürfnisse
zu befriedigen. Das wurde entdeckt, er erhielt eine Gefängnisstrafe,
und als er aus dem Gefängnis kam, weigerte sich die Frau, jemals
von dem zu reden, was geschehen war – sie hatte ihm ja vergeben!

Der offenbarste Fehler ist der, daß man glaubt, die Vergebung
beseitige die Schuld. Jemand hat sich vergangen und damit Schuld auf
sich geladen. Vergebung ist dann folglich die Beseitigung von Schuld,
heißt diese Logik. Aber das ist nicht Vergebung!

Vergebung ist vielmehr, der vollen Wahrheit in die Augen zu sehen:
die ganze Schuld, meine eigene, deine, die der Welt und auch die Schuld
Gottes dazu – und dann imstande zu sein, diese Wahrheit zu ertragen,
weil Gott sich in diese Welt eingemischt hat.

Die Vergebung befreit uns davon, die Schuld zu unterdrücken. Wir
werden dazu befreit, schuldig zu sein. Und diese Freiheit entstammt dem
Grundmuster des Lebens, von dem geschrieben wurde, als Jesus sich selbst
dafür einsetzte, das Grundmuster zu ändern von dem Gesetz der
Hackordnung in das der Gnade. Eine Ordnung, wo Liebe wichtiger ist als
Gerechtigkeit.

Mit großen Worten sagen wir, daß wir Bürger in einer
Welt der Vergebung sind. Daß wir frei gemacht worden sind, schuldig
zu sein, heißt Verantwortung zu übernehmen und den anderen
verantwortlich zu machen. Das heißt, es geht hier um nichts weniger
als die Menschenwürde. Nur mit dem, der verantwortlich gemacht wird,
kann man rechnen. Nur der, der keine Fähigkeiten hat oder gelähmt
ist, ist ohne Schuld – aus ganz verschiedenen Gründen.

Den Weg der Vergebung zum andern zu gehen, der sich an mir schuldig
gemacht hat, bedeutet, an dem festzuhalten, auf den ich zornig bin. Zu
dem zu stehen, was zwischen uns ist. Vergebung heißt nicht, daß ich
meinem Zorn entsage, bevor der Zorn seine Zeit gehabt hat. Vergebung
heißt, daß ich mich in Gemeinschaft begebe mit dem, dem ich
vergebe. Eben der ihm bzw. die, auf den bzw. die ich zornig bin, gehört
in meine Welt. Die Vergangenheit ist nicht vergessen, was geschehen ist,
ist geschehen und Teil meiner und deiner Geschichte geworden. Aber wir
können uns beide auf einen Weg begeben, wo das, was zwischen uns
steht, so ist, als wäre es vergessen.

Das bedeutet, daß eine Brücke geschlagen wird über den Abgrund
von bestehender Schuld. „Ich weiß, daß du schuldig bist, und
du weißt es, dennoch gehören wir zusammen in der Form des Lebens,
wo man für einander da ist und einander braucht“ (Bent Falk). Deshalb
heißt Vergebung auch nicht, die Vergangenheit zu vergessen. Vergeben
heißt, das Geschehene das bedeuten zu lassen, was es bedeutet, aber es
nicht die Zukunft bestimmen zu lassen.

Warum dann vergeben, wenn da viel ist, über das man zornig sein
muß? Ja darum, daß nicht nur der andere, sondern auch ich
Mensch bleiben kann. Weil Vergebung heißt, das weiterzugeben, was
du empfangen hast.

Und wenn du nicht an dem festhalten kannst, der dir Unrecht getan hat,
kannst du auch nicht spüren, wie Gott an dir festhält. Nicht
du schaffst den Raum der Vergebung, den schuf er, der diese Worte gesprochen
hat. Aber die Vergebung deiner Schuld wird in dem Augenblick aktiviert,
wo du ihm vergibst, der sich an dir und den deinen schuldig gemacht hat.
Gott ist am Werk, wenn wir vergeben. Die Liebe, die Leben will über
Recht und Gerechtigkeit hinaus.

Wenn wir von Vergebung reden, reden wir oft über Wiederaufrichtung.
Und meinen oder hoffen vielleicht – unbewußt – daß Wiederaufrichtung
bedeutet, daß das Verhältnis ist wie vorher. Was es nicht
sein kann – wo ein ernsthaftes Vergehen passiert ist. Der Schuldige fühlt
sich ausgeschlossen, aus der Bahn geworfen, gelähmt, im Zweifel über
die Orientierung seines Lebens, isoliert. Und träumt von einer Heimkehr.

Aber es gibt kein Land, keine Heimat oder einen Gott, zu dem man heimkehren
könnte. Das Verlorene ist tot, Rückkehr unmöglich. Vergebung
aber heißt, daß neues Leben entsteht, an einer anderen Stelle,
in einer fremden Welt. Vergebung ist nicht Heimkehr, sondern Ruf der
Freiheit. Die bist wieder auf der Bahn, du bist da, wo du sein sollst
– wenn vielleicht auch in einem fremden Land. Du sollst etwas, was wichtiger
ist als deine Schuld.

Kann ein Blinder einen Blinden führen, fragt Jesus, um es ganz
deutlich zu machen. Ja, kraft des Reiches der Vergebung, da kann ein
Blinder einen Blinden führen! Ja, seit Jesus die Welt verändert
hat, gibt es eine Gestalt, die der Blinde Wegweiser heißt.

Der, der Vergebung empfängt, hört einen Ruf, der macht, daß er
sich in den unbekannten Gefilden bewegen kann – auch wenn er blind ist.
Gott gegenüber sind wir alle blind, und keiner ist im fremden land
und unbekannten Gefilden gewesen.

Aber diese unbekannten Gefilde zu durchwandern und zu wissen, daß wir
dort sein sollen, zeigt, daß wir gerufen sind. Ein Ruf, der dazu
genügt, uns am Leben zu erhalten und den Weg zu weisen. Amen.


Pfarrer Birte Andersen
Emdrupvej 42
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Tel.: ++ 45 – 39 18 30 39
e-mail: bia@km.dk

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