Vollmacht und Anspruch

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Vollmacht und Anspruch

Neujahrstag | 1.1.2021 | Predigt zu Phil 4, 13 | verfasst von Matthias Wolfes |

„Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ (Phil 4, 13)

Liebe Gemeinde,

„alles vermögen“ – ist das wirklich eine Aussage, die wir uns zueigen machen können oder auch nur wollen? Im ersten Moment schrecken wir zurück. Kann es Sinn und Zweck des christlichen Glaubens sein, die, die sich zu ihm bekennen und sich selbst als Christen bezeichnen, mit dem Prädikat der Allmächtigkeit auszustatten?

Doch was sagt der Apostel wirklich? Verstehen wir ihn recht, dann geht es gar nicht um so etwas wie Allmacht oder Allmächtigkeit. Sein Wort bezieht sich darauf, dass alles, was zu tun wir vermögen, aus einer Kraft heraus ermöglicht wird, die außerhalb unserer selbst besteht. Es handelt sich also geradezu um das Gegenteil von Allmacht: Nicht wir ermächtigen uns zu unserem Tun, sondern wir werden dazu in die Lage versetzt. Unser Tun und Handeln – und zwar in seiner ganzen, uns nur zu wohl bekannten Begrenztheit – erwächst von woanders her, und dieses andere ist uns unverfügbar, es steht jenseits unseres Handlungsraumes und ist nicht durch ihn bedingt.

I.

Es kann natürlich kein Zweifel daran bestehen, was oder wer dieses Andere ist. Der ganze Abschnitt des Briefes an die Philipper, aus dem wir unseren heutigen Text entnehmen, ist ein Lobpreis auf die Einheit und Zusammengehörigkeit der Gemeinde „im Herrn“. „Steht fest in dem Herrn“, heißt es dort. „Freuet euch in dem Herrn allerwege, und abermals sage ich: Freuet euch!“ „Eure Güte laßt kund sein allen Menschen!“ Denn „der Herr ist nahe!“

Paulus spricht aus dem Bewusstsein heraus, dass alles, was das Leben des glaubenden Menschen ausmacht, bezogen ist auf Gott. Und damit drückt er nicht weniger aus als das Grundgefühl des Glaubens schlechthin. Über diese Konstellation, dieses Bewusstsein des Glaubens von seinem Grund, haben wir in unseren gottesdienstlichen Überlegungen schon oft nachgedacht, und wir werden uns auch immer weiter damit beschäftigen. Wir sprechen ja dabei stets von Dingen, die uns in unserem Innersten bewegen. Hier schlägt das Herz des Glaubens. Hier geht es um das, was den Glauben eigentlich ausmacht und ihn in seinem Wesen bezeichnet.

Heute aber, an diesem ersten Tag des neuen Jahres, wollen wir einen Schritt zurückgehen und uns mehr mit der Frage beschäftigen, wie wir nun, an diesem Punkt des Zeitenlaufes, dastehen. Es geht um den derzeitigen Ort, im Rückblick auf das abgelaufene Jahr 2020 und im Vorausblick auf die bevorstehende Zeit.

II.

Wir haben soeben das Weihnachtsfest unter besonderen Umständen gefeiert. Auch in diesem Moment des Jahreswechsels stehen wir unter dem Eindruck dieser Umstände. Nun ist allerdings Weihnachten und sind auch Sylvester und Neujahr schon oft „unter besonderen Umständen“ gefeiert und begangen worden. Immer haben sie über alles Schwere, Leidvolle und Bedrängende hinweg Bestand gehabt. So wird es auch jetzt sein. Die Umstände, von denen wir bedrängt werden, sind durch die seit Monaten in unterschiedlich heftigen Graden das Leben beeinträchtigende Corona-Pandemie bedingt.

Diese Pandemie belastet uns. Sehr viele Menschen sind ihr erlegen; noch viel mehr sind erkrankt, auch schwer erkrankt. Aus unserem Land und aus der ganzen Welt erreichen uns schreckliche Nachrichten. Die Hilferufe aus den Krankenhäusern und medizinischen Notfalleinrichtungen, den Pflegeheimen und anderen Orten sind von verzweifelter Dringlichkeit.

Auch das sonst so lebendige Geschehen in den christlichen Gemeinden kann derzeit zumeist nur noch in ganz beschränktem Umfang vor sich gehen. Vielerorts sind sogar die Gottesdienste am Heiligen Abend Stillen Andachten gewichen, in denen wir nicht, wie sonst, mit gemeinsamem Gebet und Gesang, mit Lobpreis und Ansprache sowie den seit Kindertagen vertrauten Liedern, unserer Freude Ausdruck geben konnten. Doch schwerer wiegt, dass zahlreiche Menschen zu einer Einsamkeit verurteilt sind, mit der sie nicht gut zurechtkommen. Die Isolation, die Einschränkung der sozialen Kontakte ist eine der schwerwiegendsten Folgen der momentanen Situation.

Dennoch: Diese schlimme Zeit wird einmal ein Ende haben. Wir werden wieder frei zusammenkommen können, uns die Hand geben, uns umarmen und miteinander – maskenlos – sprechen und leben können.

Was wir heute aber auch bedenken wollen, das ist, dass diese Pandemie uns die Augen öffnen kann. Die Dinge, die in diesem Zusammenhang zu sagen sind, sind in den letzten Wochen und Monaten schon oft gesagt worden. Dennoch sollen sie auch hier noch einmal betont werden.

Mehr wohl als früher ist uns bewusst geworden, wie wichtig für unser gedeihliches Zusammenleben gut funktionierende, arbeitsfähige und belastbare Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens sind. Diese Einsicht hat Konsequenzen: Wir sehen, wie vieles im Argen liegt.

Wir sind besorgt. Mit Sorge sehen wir die Armut und die damit zusammenhängenden Folgen, die sich immer weiter ausbreiten und die in ihren Ursachen auch auf staatliches Handeln zurückgehen. Es sind Fehlentscheidungen getroffen worden – leider auch mit Unterstützung der EKD –, die zu schwerwiegenden Systemmängeln geführt haben.

Wir sind besorgt um den Zustand der Schulen und Hochschulen, des Nah- und Fernverkehrs, der Wasser- und Stromversorgung. Wir wollen, dass die Gerichte und anderen Einrichtungen der Rechtspflege gut ausgestattet sind, ebenso wie die Betreuungsstätten für Jung und Alt, für die Kranken und Pflegebedürftigen, die Kinderspielplätze, Parks und Freizeiteinrichtungen. Die medizinischen Stationen, das Sanitäts- und Gesundheitswesen, die Rathäuser und anderen Verwaltungseinrichtungen, die Wohnungsbaugesellschaften, die Sicherheitsbehörden, insbesondere die Polizei, die Museen, Sammlungen und Bibliotheken, das Straßenwesen, die Abfallentsorgung – und noch so viel anderes mehr –, all dies gewährleistet unser Zusammenleben und macht es überhaupt erst möglich.

Es kann das aber nur dann gelingen, wenn alle diese Einrichtungen so ausgestattet sind, dass sie ihren Aufgaben auch nachkommen können. Doch das ist immer weniger der Fall. Es bedarf des fachlich geschulten Personals in ausreichender Anzahl und mit angemessener Entlohnung. Die Arbeit all derer, die in diesen Bereichen beschäftigt sind und sich den Aufgaben mit ganzer Kraft widmen, ist wichtig für uns alle. Es ist aber klar zutage getreten, dass diese Einsicht in den vergangenen Jahrzehnten nicht den genügenden Rückhalt in der Gesellschaft und der Politik gehabt hat.

Hier ist ein Weg gegangen worden, den wir nicht weiter verfolgen sollten. Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und des Zusammenlebens haben eine Zielsetzung, die nicht allein und nicht einmal primär von wirtschaftlichen Interessen her bestimmt sein darf, und das muss in ihrer gesellschaftlichen Stellung zur Geltung kommen.

Aber auch im Blick auf unser eigenes Leben haben wir manches zu bedenken und wohl auch einiges zu korrigieren. Gut dran ist der, der sich sagen kann: Mein Leben verläuft so, wie ich es im Bewusstsein meiner Verantwortung vor mir selbst und den anderen führen will. Mir ist klar, worum es geht, und dem folge ich.

Vielen Menschen aber, auch solchen unter uns, ist die immer weiter zunehmende Anzahl von „Optionen“ der Lebensgestaltung zum Verhängnis geworden. Was sich als Ausdruck von Freiheit des Einzelnen zu weitgehend unbeschränkter Selbstbestimmung ausgibt, ist in Wahrheit eine Nötigung zu ständiger Neuorientierung und damit zu Selbstverlust. Wir haben es nicht gelernt, der Macht der Zerstreuung, die wahrhaft dämonisch ist, energisch zu widerstehen. Zur Ruhe zu kommen, ist für viele zu einer anspruchsvollen Kunst geworden.

Die Beschränkungen, die uns im ablaufenden Jahr aufgenötigt worden sind, können in dieser Hinsicht durchaus auch eine heilsame Wirkung haben. Es ist dies eine Chance, die wir über alle einschränkenden Verordnungen hinaus nutzen können.

III.

Denn das Leben des Glaubens, das christliche Leben, so wie wir es führen wollen, ist ein Leben in Entschlossenheit. Wir sind dazu entschlossen, uns nicht an Nichtiges zu verlieren, und schon gar nicht beugen wir uns den herabdrückenden Mächten all des Widrigen und Finsteren, von denen die Welt so voll ist. Vielmehr setzen wir geradezu unseren Ehrgeiz daran, ein klares, in sich festes, vernünftiges Leben zu führen. Unser Dasein soll hell, es soll freundlich sein; so wie auch wir selbst freundlich sein wollen zu uns selbst und zum Leben.

In dieser Forderung an uns selbst kommt genau dasjenige Lebensgefühl zum Ausdruck, dass den Worten des Apostels Paulus entspricht, wenn er sagt: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ Gott ist es, der uns zu unserem Handeln in die Lage versetzt. Und gerade deshalb sehen wir das Leben, das wir zu führen entschlossen sind, als einen Auftrag an.

Der christliche Glaube, das Zutrauen zu Gott, kann uns die Kraft zu solcher Entschlossenheit geben. Dem festen und unerschütterlichen Vertrauen auf Gott entspricht eine Haltung des Trotzdem. Lassen Sie uns den momentanen Bedrängungen und Einschränkungen, aber auch aller immer drohenden Entäußerung an das Belanglose ein entschiedenes „Trotzdem“ entgegensetzen.

Als Christen und Christinnen sehen wir unsere Aufgabe darin, an dem Zutrauen zu Gott festzuhalten, es möge geschehen, was wolle. Für die Welt aber wollen wir uns selbst zu Zeichen der Güte Gottes machen. In unserem Leben wollen und sollen wir seine Menschlichkeit zur Anschauung bringen. Das ist ein hoher, sogar ein sehr hoher Anspruch. Es ist dies aber eben nun einmal der Anspruch des christlichen Lebens. Wir bleiben auch im Vorausblick auf das bevorstehende neue Jahr zuversichtlich und mutig genug, um ihn uns selbst gegenüber zu erheben.

Zuversicht und Mut aber beziehen wir daraus, dass wir „alles vermögen durch den, der uns mächtig macht.“

Amen.

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Matthias Wolfes ist Pfarrer der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).

Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes

wolfes@zedat.fu-berlin.de

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