Predigt

Predigt

Gottesdienst am dritten Sonntag nach Trinitatis in St. Albani Göttingen | Predigt über Micha 7, 18-20 | Antje Roggenkamp |

 

18 Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! 19 Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. 20 Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

 

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an den Sonntag vor 8 Wochen? Wir waren froh, dass die Zeit der großen Schließung ein Ende hatte, und dass wenigsten ein klein wenig Normalität wieder bei uns Einzug hielt. Das Einerlei der gleichförmigen Wochen, in denen Werk- und Feiertage durcheinander rutschten, hatte ein Ende. Der Sonntag fühlte sich nicht länger genauso an wie all die anderen Tage der Woche. Am Sonntag Kantate haben wir nach dem großen Lockdown unsere Gottesdienste hier in Albani wieder aufgenommen.

Neu empfundene Dankbarkeit

Einige von uns haben damals berichtet, wie es ihnen in der Zwischenzeit ergangen war. Inmitten des werktäglichen Einerlei hatte es – trotz „social distancing“ – auch schöne Momente gegeben. Fast verschollen geglaubte Freundinnen und Freunde hatten sich telefonisch gemeldet, in manchen Familien waren die bereits ausgezogenen Sprösslinge ins elterliche Heim zurück gekehrt. Die Natur rund um Göttingen wurde auf langen Spaziergängen und einsamen Radtouren neu entdeckt.

Es gab wenig Klagen, sondern eigentlich eher Dankbarkeit. Dankbarkeit darüber, dass die nationale Wegschließung doch einigermaßen glimpflich verlaufen war. Die sozialen Sicherungssysteme hatten mit Kurzarbeitgeld und kurzfristigen Investitionszuschüssen weitgehend funktioniert. Das deutsche Gesundheitssystem war besser durch die Krise hindurchgekommen als es die erschütternden Berichte und Bilder aus einigen südeuropäischen Staaten erwarten ließen.Und dennoch:

Erfahrungen von Unwohlsein

In den Schilderungen des Alltäglichen zeigte sich fast überall auch noch eine andere Dimension. Es war ganz einfach so, dass sich die meisten von uns auch irgendwie unwohl fühlten. Daran war weniger jene apokalyptische Grundstimmung der sich erst allmählich wieder füllenden Straßen und Plätze schuld als vielmehr die bedrückende Einsicht, dass es Anderen durchaus anders ergangen war.

Und so ähnlich stelle ich mir die Situation jener Menschen vor, an die Micha seine Worte richtete. Denn auch die Menschen in Israel hatten um 515 vor Christus eine Krise hinter sich. Es war vielleicht die schlimmste, seitdem das Volk der Israeliten in Kanaan sesshaft geworden war. Zuerst assyrische, später babylonische Truppen hatten dafür gesorgt, dass sich das einst große Volk erheblich dezimiert hatte. Einige Personen verharrten zwar in Israel, viele Menschen, darunter fast die ganze Oberschicht, wurden 587 nach Babylon verschleppt. Ein halbes Jahrhundert später kehrte nur eine kleine Anzahl nach Jerusalem zurück.

Dieser kleine Erbteil, der winzige Rest, der nach dem Exil von Israel übrig geblieben war, fühlte sich verunsichert. Zwar hatte Gott sie an Leib und Leben verschont. Ihrer kleinen Gruppe blieb erspart, was anderen widerfuhr. Aber, war Gottes Handeln fair? Und vor allem, wo blieb seine Gerechtigkeit?

Ungerechtigkeiten

Und wie ist es mit uns? Die Wegschließung hat Ungerechtigkeiten offenbar gemacht: Beamte und Beschäftigte im öffentlichen Dienst müssen sich im Gegensatz zu Angestellten in der freien Wirtschaft keine finanziellen Sorgen machen. Das Home Office gestaltet sich ohne schulpflichtige Kinder weitaus entspannter als das Leben von Eltern mit kleinen Kindern. Arbeitende Paare oder Alleinstehende ohne Kinder sind schlichtweg besser gestellt.

Es scheint als habe das Virus eine Zweiteilung unserer Gesellschaft sichtbar gemacht. Dabei denke ich noch gar nicht an die Bewohner jener Hochhäuser, die in den letzten Wochen überregional Schlagzeilen machten, sondern ganz konkret an jene, für die ein Wegschließen oder Aussperren das Abkappen  der sozialen Beziehungen bedeutet. Ich denke an die vielen allein stehenden Personen, und auch an die Schul- und Kindergartenkinder, die sich so auf die erneuten Begegnungen gefreut hatten und die nun wahrnehmen müssen, dass alles doch ganz anders ist. Ganz abgesehen von der Erfahrung, dass von einem auf den anderen Tag wiederum ein Lockdown angeordnet werden kann.

Stimmen der Ohnmacht

Wenn ich mich umhöre, nehme ich vielfältige Äußerungen wahr. Stimmen der Wut von Schüler*innen, Stimmen der Verzweiflung von Eltern, Stimmen der Furcht von Risikopatient*innen und Stimmen der Angst von vielen jungen Menschen, die nicht wissen, wohin sie ihr Leben mit Corona führt. Mehrheitlich sind diese Stimmen nicht Ausdruck jenes ersten Unwohlseins, sondern Symptome einer diffusen Ohnmacht im Angesicht von nicht berechenbaren Widerfahrnissen.

Krisenstimmung

Im Nachhinein wird den Menschen in Israel klar, dass ihre Vorfahren auf Vorboten der Katastrophe hätten achten können. Wie in einem Spiegel führen die einzelnen Kapitel des Micha Buches vor Augen, dass sich das Volk in Israel auch anders hätten verhalten können. Die Menschen hatten von der wirtschaftlichen Ausbeutung anderer Völker profitiert. Sie waren auch Nutznießer von politischer Unterdrückung geworden. Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen waren zerrüttet und last, but not least hatten sie sich Gott entfremdet. All dies wird den Nachkommen der Verschleppten im Namen Gottes von Micha vor Augen geführt.

Und auch für uns scheint nicht schwer, Ursachen für die Katastrophen zu benennen. Bereits der Blick in die täglich erscheinenden Medien klärt uns darüber auf, dass Klimawandel und Pandemien fast immer von Menschen verursacht sind. Schmelzende Gletscher, steigende Meeresspiegel, brennende Regenwälder, aber auch Wuhan, New York, Bergamo. Räume, in denen Menschen durch Menschen zu Schaden kommen. Allerdings: Es gibt keine einzelne Person, keinen Patienten „Null“, die wir anklagen könnten. Präzise anzugeben, wer eigentlich wann und wo versäumt hat, genauer hinzusehen, ist uns nicht vergönnt.

Klagendes Fragen

Die Israeliten wenden sich an Micha, nicht an Micha aus Moreschet, sondern an jenen, dessen Name übersetzt lautet: Wer ist Gott. Und dies geschieht nicht, weil er ihnen das frühere Verhalten des eigenen Volkes vor Augen geführt hatte, sondern weil sie ahnen, dass sie von Micha Antworten auf ihre Klagen erhalten können: Wer ist Gott? Ist das Böse von Gott herauf geführt? Kann es wirklich sein, dass der, der ewige Treue geschworen hatte, sich gegen sein eigenes Volk gerichtet hat? Ist Gott für oder gegen sie? Hat sein Handeln einen spezifischen Sinn? Und allmählich, ganz allmählich merken die Israeliten, dass sich ihr klagendes Fragen verändert: Wo bist du, Gott?

In unserem Text ist etwas mit den Menschen geschehen. Sie beklagen nicht länger ihr eigenes Schicksal, sondern erkennen, dass es sich lohnt, ein diffuses Gefühl in Worte zu fassen. Ihr Klagen macht ihnen ihre eigene Situation durchsichtig, so dass sie sich am Ende direkt an Gott selbst wenden können: Wo bist du Gott? Und sie begreifen, dass Gott zornig ist, aber anders als sie es ursprünglich gedacht hatten.

Und was können wir eigentlich tun? Welche Fragen quälen uns in unserer aktuellen Situation? Für mich persönlich sind es Fragen, die anderen vielleicht als belanglos erscheinen. Warum nur habe ich der unter Quarantäne stehenden Nachbarin nicht von mir aus angeboten, ihre Einkäufe zu übernehmen? Warum habe ich ihr zugemutet, zur Bittstellerin zu werden? Vielleicht aber denken wir an auch Vorgänge, die uns schon seit längerem belasten. Ist es wirklich richtig, dass ich immer wieder wegsehe, wenn mir konkrete Armut begegnet, wenn ich an einem Haus vorüber fahre, aus dessen Fenstern Wäscheleinen hängen? Warum setze ich mich nicht tatkräftig für die Ärmsten der Armen ein? Und indem ich über unterlassene Hilfeleistungen, fehlendes Engagement oder Versprechen, deren Umsetzung ich aus Bequemlichkeit unterlassen habe, mit einem Anderen ins Gespräch komme, merke ich, wie gut mir dies eigentlich tut. Wer bist du Gott?

Wir können uns nicht mehr an Micha wenden, aber an den, auf den Micha verweist: Und indem wir uns im Gespräch mit ihm über unsere eigene Situation Klarheit verschaffen, wird es uns möglich, unsere eigene Ohnmacht besser auszuhalten. Und wir verstehen dann auch, was die Menschen in Israel offenkundig begriffen hatten: Gottes Zorn  trifft nicht einzelne Menschen, sondern Menschen gemachte Ungerechtigkeiten.

Wo ist ein solcher Gott wie Du?

Und Micha? Micha hat die Seiten gewechselt. Micha klagt nicht länger an, sondern er rühmt den, der „an seinem Zorn nicht ewig fest hält, denn er hat Gefallen an Gnade“. Micha preist den, der versprochen hat, sich an seine Zusagen gegenüber Jakob und Abraham zu halten. Sein Gott steht zu seinen Versprechungen und entzieht seine Zuneigung nicht. Nicht, weil die Menschheit plötzlich vollkommen anders oder besser geworden wäre, sondern weil er erkennt, dass sich einzelne Menschen im Gespräch mit Gott verändern.

Und Micha stimmt an in ein Lob, ein Lob über jenen Gott, der die Schuld, die die Menschen auf sich laden, um der Menschen willen, auf sich nehmen wird: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist?“ Denn, um sie zu vergeben, wird er sie auf sich nehmen. Bis es soweit ist, führt uns Micha drastische Bilder vor Augen: Gott „wird unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ In die Tiefen des Meeres, aus denen Schuld und Sünde dereinst nicht mehr zurückkehren können.

Michas hymnischer Text lädt auch uns ein, den Umgang mit unseren Erfahrungen in einen Lobpreis zu verwandeln. Ein Gott, der fähig ist, Sünde und Schuld in das Herz des Meeres zu versenken, ein solcher Gott wird auch in der Corona-Krise nicht von uns lassen, sondern zu seinen Verheißungen stehen. Und deswegen erinnern wir uns an sein Versprechen, die Menschheit  nicht im Stich zu lassen. Ganz abgesehen davon, dass Gott, vor den wir im Gespräch immer wieder unsere Bedrückungen bringen, uns immer schon aus der Tiefe unseres Klagens herausgeholt hat: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und die Schuld erlässt“.

Amen

 

Lieder

EG 316 Lobet den Herren

EG 333 Danket dem Herrn

EG 184, 1-5 Wir glauben Gott im höchsten Thron

EG 585 Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt

EG 342 Es ist das Heil uns kommen her

EG 171 Bewahre uns Gott

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