“O Mensch, bewein dein Sünde groß

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“O Mensch, bewein dein Sünde groß

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


(Zur Übersicht der
Predigtreihe)

Predigtreihe „Passion im Lied“ – Karfreitag 13. April
2001

“O Mensch, bewein
dein Sünde groß“ (EG 76), Elisabeth Tobaben


Liebe Gemeinde!

Seit ein paar Wochen steht auf
dem Moringer Friedhof weithin sichtbar ein neues großes helles Holzkreuz.

Ich bin seitdem oft darauf angesprochen worden. Viele haben gesagt:
wie gut, dass dieses Kreuz jetzt da steht, dass es alles überragt und
gleich den Blick einfängt, wenn man vom Eingang her den Hauptweg
heruntergeht,
es hat sowas Beruhigendes.
Ein
Hoffnungszeichen!
So tragen wir es vielleicht als
Schmuckstück um den Hals, als Hoffnunsgzeichen.
Aber Kreuze werden von
den allermeisten Menschen vorwiegend als Todeszeichen erlebt.
Kreuze
stehen  am Straßenrand, wo ein tödlicher Unfall geschehen
ist;
Wir finden sie über Trauenanzeigen in der Zeitung oder auf
Grabsteinen.
Und so haben sie  für manche und manchen ganz schnell
etwas Bedrohliches.
Sie erinnern an Tod und Sterben, an den Schmerz des
Abschieds und die Tränen.

Und nun: Karfreitag.
Weil
es diesen Tag gegeben hat, weil Jesus an so einem Kreuz
hingerichtet  worden ist, deswegen  haben wir
überhaupt dieses Symbol des Kreuzes.
“Christus…trüg unsrer
Sünden schwere Bürd wohl an dem Kreuze lange“
So heißt es
in dem Passionslied “O Mensch, bewein ein Sünde groß“ (EG 76) –
darüber  wollen wir heute morgen gemeinsam nachdenken –
und jetzt
zuerst die 1. Strophe singen:

O Mensch, bewein dein
Sünde groß,
darum Christus seins Vaters
Schoß
äußertŒ und kam auf Erden.
von einer Jungfrau
rein und zart
für uns er hier geboren ward,
er wollt der Mittler
werden.
Den Toten er das Leben gab
und legt dabei all Krankheit
ab,
bis sich die Zeit herdrange,
dass er fürSünden schwere
Bürd
wohl an dem Kreuze lange.

Es hat eine lange
Vorgeschichte, dieses Lied: im Mittelalter war es üblich, an 4 aufeinander
folgenden Tagen der Karwoche die Passionsgeschichte nach den 4 Evangelisten zu
lesen.
Das geschah zuerst in verteilten Rollen, später dann gesungen
auf den sogannten Passionstönen.
Daraus entwickelten sich die
großen Passionsmusiken, wie wir sie kennen, von Schütz oder Bach
z.B.
“O Mensch, bewein dein Sünde groß“ ist der
Versuch der Reformationszeit, das für die Gemeinde mitvollziehbar zu
machen, was sonst vorgetragen wurde, gesungen oder gesprochen: -die gesamte
Passionsgeschichte.
In der eigenen Muttersprache singen und sich aneignen
zu können und zu dürfen, was man bislang nie richtig hatte verstehen
können – das muß für viele zur der Zeit wirklich schlichtweg
die Erleuchtung gewesen sein.
Wie vielen Menschen wohl dieses
oder andere Lieder die Augen geöffnet haben dafür, daß
“ …uns Gott¹s Wort so helle scheint“, für die Erfahrung
des Evangeliums?

So ganz viel ist in unserer Gesangbuchfasung ja
nicht übriggeblieben von “O Mensch bewein dein Sünde groß“
!
Von von den ursprünglich 23  Strophen sind uns
bloß noch zwei erhalten, die  ursprünglich erste und die
letzte
Das sind genau die Verse, in denen es auch darum geht, wie
 wir uns denn zum Tod Jesu stellen, wie wir seinen Lebens-
und Leidensweg in Verbindung bringen wollen mit uns selbst, unserem Leben und
Glauben.
“Für-uns“ – sagt der Dichter- “er hier
geopfert würd…“.
Dazwischen hat es einmal all jene bekannten
Stationen seines Leidensweges gegeben, angefangen bei der Salbung in Bethanien,
über Abendmahl und krähenden Hahn bis hin sogar zu
Ostern.

“O Mensch…“, stöhnen wir wohl, wenn das Gefühl
haben, daß es so gar nicht weitergeht, wir uns überhaupt
nicht verständlich machen können mit dem, was wir wollen.
“O,
Mensch…!“
Es muß wohl auch an diesem Seufzer und an dem
schwerlastigen Thema liegen, daß dieses Lied oft so
äußerst langsam und getragen und schwerfällig gesungen
wird.
Die singende Gemeinde scheint förmlich zusammenzubrechen unter
der Last der Tränen und der Sünde,  traurig klingt es eben, fast
depressiv.

kurz reinhörenen:
J.S.
Bach, Mathäuspassion Nr. 34 Schluß und 35

So
klingt das, wenn J.S. Bach das Lied in die Finger kriegt.
Er stellt den
Choral an den Schluß des 1. Teils seiner Matthäuspassion.
Und mit
ganz wenigen Tönen und sparsamen musikalischen Mitteln gelingt es ihm,
meine Distanz aufzuheben .
Fast unfreiwillig stehe ich doch plötzlich
mitten drin im Geschehen.
Der Evangelist singt : “Da verließen
ihn alle Jünger – und flohen!“ und als atemloser Chorsängerin (oder
Zuhörerin) ist mir fast zwangsläufig an dieser Stelle noch das
vollmundige Petrusbekenntnis im Ohr: “…und wenn ich mit dir sterben
müßte…“ und der lapidare Kommentar: Desgleichen sagten auch alle
Jünger.“
Jetzt, jetzt, als es wirklich ernst wird, da fliehen
sie.
Alle!
Und kaum hat der Evangelist geendet, da setzt
eine hastige sich fast überstürzend vorwärts eilende
Achtelnoten-Bewegung des Orchesters ein, die mich einfach mit hineinreißt
in diese Flucht!
Ich kann nicht anders, unweigerlich frage ich mich:
“Herr, bin ich¹s?
Fliehe ich denn vielleicht auch?
Und
wovor?
– Vor der Wahrnehmung der Sünde, die ich eigentlich beweinen
soll?
– Vor dem Geschehen der Passion?
– Oder holt mich schlicht
die “Unfähigkeit zu trauern“ ein und läßt mich
Begriffe wie Sünde, Kreuz, Opfer und Tränen lieber ganz
schnellverdrängen ?
Und das funktioniert ja meist ziemlich gut,
zumindest solange es mir gutgeht.
– Ich fliehe und glaube immer noch, es
sein “alles nicht so schlimm“, leicht zu lösen durch die Kraft
positiven Denkens, mit erhöhter Anstrengung oder anderen
Selbstrettungsmethoden.
Ich weiche der  Unfähigkeit aus, dem
standzuhalten, was die Passionsgeschichte mit mir zu tun hat?
Ich merke,
daß ich gar nicht so weit entfernt bin von dem Mißverständnis,
gegen das schon der Lieddichter Sebald Heydn kämpft, als er sein
Passionsepos verfaßt.
Damals -und das ist heute kaum noch vorstellbar-
galt es  als ganz besonders fromm, das Leiden Jesu zu beklagen und
zu beweinen das eigene aber völlig draußen  zu lassen, sich
selbst auszuklammern und völlig zurückzunehmen.
Nichts anderes ist
doch eigentlich auch meine Flucht in die faszinierenden Gedankengebäude
der Theologie, in die Musik als Kulturereignis oder sogar in die
Frömmigkeit.
Und genau dagegen setzt Heyden den Anstoß
“O Mensch, bewein dein Sünde groß…“
Als Ermutigung
sagt er das: Du darfst getrost an dich denken, die eigenen Fragen
und Zweifel zum Thema machen, dein Scheitern und Verletztsein, das Gefühl,
du würdest permanent das Leben verfehlen – all das hat sehr wohl mit Jesus
und seinem Leidensweg zu tun!
Natürlich!
Was denn sonst?
Sie sind
es wert, ernstgenommen zu werden; so ernst wie sie Jesus genommen hat, denn in
genau diese tiefte Entfremdung begibt er sich hinein, hält sie aus und
geht daran zu Grunde.
Für uns.: “darum Christus
seins Vaters Schoß äußert und kam auf Erden,“ sagt Sebald
Heyden.
“Für uns“ – ChristInnen aller Zeiten haben versucht, dies
“für uns“ zu deuten und zu erklären.
Dieses Lied greift
einen Erklärungsversuch auf, dessen Wurzeln weit zurückreichen
in die Geschichte Israels.
Da gibt es die Symbolhandlung des
Versöhnungsfestes: einem einjährigen, möglichst vollkommenen
Schafbock werden dabei mit Gesten und Gebeten die Sünden des ganzen Volkes
aufgepackt, und er wird in die Wüste geschickt, wo er stellvertretend
sterben muß für die Menschen. Ein Opfer. (3. Mose 16, wer das
nachlesen möchte).
“Für uns er hier geopfert würd,
trüg unsrer Sünden schwere Bürd…“ konnte man vor dieser
Tradition darum auch von Jesus sagen.
Wir haben bei uns -in
Südniedersachsen- solche Tradition nicht, kennen diese
Sitte
nicht.
Und darum müssen wir aufpassen, dass wir nicht ein neues
Mißverständnis aufbauen und aus dieser Versöhnungsvorstellung
ein ganz problematisches Bild von Gott ableiten.
So, als sei der Vater Jesu
Christi ein kleinlicher Rachegott, der erst zufrieden wäre, wenn Blut
fließt.
Das erinnert mich immer an den Aberglauben, mit dem der
Deichgraf Hauke Haien in Theodor Storms Novelle “Der Schimmereiter“ zu tun
hat.
Als er an die Baustelle kommt für den neuen  und umstrittenen
Deich, den er entworfen hat, da werfen die Bauarbeiter gerade einen lebendigen
kleinen Hund in die Grube!
Und als Hauke  entsetzt reagiert und das
Tier retten will, da sagen sie bloß verbissen: “Dor mutt watt Levend
rin“ – “da muß was Lebendiges rein“, sonst hält der Deich
nicht.
Ein Opfer.
Jesus  wird geopfert von
einer wütenden und aufgepeitschten Menge, die nicht begreifen kann, dass
da einer die Liebe Gottes in diese Welt bringen will.
In eine
Welt voller Gesetze und Vorschriften, in eine Welt der mißbrauchten
Religion und der leidenden Menschen.
Das durfte nicht sein!
Uns so
mußte er weg!
Ans Kreuz!

“Da verließen ihn alle
Jünger – und flohen“, (sagt Matthäus.)
Ich finde es schwer, heute
– am Karfreitag nicht sofort von Ostern zu reden, sondern mit den weinenden
Faruen stehenzubleiben unter dem Kreuz;
mich nicht in diesen Sog
hineinziehen zu lassen und zu fliehen wie “alle Jünger“.
Aber
genau hier, unter diesem Kreuz kann die Hoffnung wachsen,
die Hoffnung, dass
die Hände Gottes, in die Jesus sich fallen läßt, auch uns
tragen werden.
Amen.Pastorin Elisabeth Tobaben
E-Mail:
elisabethtobaben@t-online.de


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