1. Johannes 4,11-21

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1. Johannes 4,11-21

You’ve got mail | 1. Sonntag nach Trinitatis | 11.6.2023 | 1.Joh 4,11-21 | Nadja Papis |

Erhalten Sie auch so gerne Briefe? Also nicht diese Geschäftsbriefe, Rechnungen oder Bettelschreiben, nein, die anderen. Heute Morgen finde ich im Briefkasten eines dieser seltenen Exemplare – von Hand angeschrieben in einem schön farbigen Couvert. Verheissungsvoll! Eine persönliche Mitteilung! Was wohl darin steht? Ist es eine Geburtsanzeige oder eine persönliche Einladung zum Fest? Oder gar ein richtiger Brief, so wie in alten Zeiten, wo jemand mir über das Leben oder die momentane Gefühlslage schreibt? Die Neugierde ist fast nicht auszuhalten, aber ich zügle sie, schliesslich will ich die Vorfreude geniessen, so selten ist solche Post heutzutage.

Ich finde die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten enorm praktisch, vor allem da ich nicht gerne telefoniere. Da schreib ich lieber kurz oder schick schnell was oder häng auch einfach ein Emoji an. Werbung kann schnell gepostet werden, der Rückblick auf ein tolles Projekt auch, auf dem gemeinsamen Server ist alles für alle zugänglich, da braucht’s nicht mal mehr viele Emails. Und auch die News hole ich mir lieber online statt aus der Post.

Aber ich liebe den altmodischen Brauch handgeschriebener Briefe und Postkarten im privaten Bereich. So wünsche ich mir seit Jahren zum Geburtstag keine Geschenke mehr, sondern liebe Worte auf einer passend ausgesuchten Karte oder gar einen langen Brief. Oft bringe ich meine Liebsten damit in grössere Schwierigkeiten als mit der Auswahl eines sinnvollen Geschenkes. Was schreibt man denn in so einem Brief heute noch? Bisher bin ich immer sehr beschenkt worden durch die Worte, welche Familienmitglieder und Freundinnen gefunden haben, jedes auf seine Art, im je individuellen Stil.

Persönliche Briefe und handbeschriebene Karten sind für mich ein Ausdruck der Verbundenheit, ein Zeichen der Liebe.

Und um die geht es auch im heutigen Predigttext:

Lesung 1Joh 4,11 – 21

«Ihr Lieben…», so könnte ein Brief anfangen, aber der 1. Johannesbrief ist mehr ein Traktat, er wirkt gar wie ein Auszug aus einem Gespräch über den gemeinschaftlichen Glauben. Wie glauben wir? Was glauben wir? Das Thema wird umkreist ohne den Anspruch, es abschliessend zu behandeln. Das finde ich inspirierend und motivierend: Ich darf Teil dieses weitergehenden Gesprächs werden und mich mit meinen Erfahrungen und Gedanken einreihen. So stelle ich mir grundsätzlich die Glaubensgemeinschaft in der Kirche vor: ein fortlaufendes Gespräch über den gemeinsamen Glauben, manchmal harmonisch, manchmal ringend, manchmal heftig diskutierend, manchmal freudig sprudelnd. Das ist ein Kirchenbild, das mir gefällt. Und Ihnen?

Das ist ja nicht selbstverständlich, dieses Kirchenbild. Viele Menschen wünschen sich eine profiliertere Kirche, die sagt, wo’s lang geht, die fest in ihren Glaubensgrundsätzen steht und ein Bekenntnis für alle vorgibt. Einer meiner Professoren meinte einmal in der Diskussion über Sekten: Nicht alle können mit der Freiheit umgehen, die heute in unseren Kirchen herrscht; manche brauchen klare Leitfäden und moralische Wegweiser.

Mir entspricht diese Freiheit und Selbstverantwortung, die ich in meiner Kirche finde, mir gefällt es, im Gespräch mit anderen zum Beispiel in der Seelsorge oder auch in Hauskreisen oder mit Kindern und Jugendlichen im Unterricht meinen Glauben zu reflektieren und zu entwickeln. Religiös sein heisst für mich zuerst einmal zu fragen, ja, sich den grossen Fragen des Lebens zu stellen und sich auf die Suche nach möglichen Antworten für mein Hier und Jetzt zu begeben.

«Ihr Lieben…» – zurück zum Text!

Er kreist um die Liebe – die Liebe als Möglichkeit, das Göttliche zu erfahren, ja, noch mehr, mit dem Göttlichen verbunden zu sein, in ihm zu leben, zu wirken und zu vertrauen.

Spannend – die Liebe als Anknüpfungspunkt für den Glauben, als Ort der Gotteserfahrung, als Möglichkeit, Menschliches und Göttliches zu verbinden. Das können wir doch auch heute nachvollziehen!

Liebeserfahrungen sind etwas sehr Tiefgehendes, etwas Elementares, eine Urerfahrung und auch etwas sehr Erschütterndes, im positiven wie auch negativen Sinn.

Als Kind wächst das Urvertrauen im Geliebtsein durch die Eltern und andere Bezugspersonen. Fehlt die Zuwendung, fehlt auch dieser feste Boden fürs Leben. Geliebt-Werden und Lieben sind auch im späteren Leben enorm wichtige Faktoren für Zufriedenheit und Erfüllung, vielleicht sogar die wichtigsten. Und das Alleinsein ist heute zwar ein Megatrend, aber auch eine der grössten Herausforderungen. Beziehungen, die brechen, erschüttern nachhaltig.

Gott ist Liebe; und wer in der Liebe lebt, ist mit dem Göttlichen verbunden und das Göttliche mit ihm/ihr.

Das ist mein absoluter Lieblingsvers in der ganzen Bibel! Mein Herz geht auf, wenn ich ihn höre oder lese. Unzählige Gedanken und Gefühle schiessen durch mich hindurch, Momentaufnahmen, Gesichter, Liebesbegegnungen meines Lebens. Er kommt mir vor wie ein persönlich an mich geschriebener Brief. Denn ich glaube an die Liebe, ja, ich glaube an die Urkraft der Verbundenheit zwischen Menschen. Und ich erlebe immer wieder, wie mich das Göttliche berührt, wenn ich liebe, wenn ich mit anderen verbunden bin, wenn ich mich einlasse auf andere.

Kürzlich fragte mich jemand, wie sich das denn anfühle, diese Gotteserfahrungen. Ich fand keine Worte und ich finde sie wohl auch jetzt nicht annähernd. Es ist, wie wenn in der menschlichen Berührung eine andere Berührung mitschwingt. Es ist, wie wenn mir in den geliebten Augen noch etwas anderes entgegenschaut. Es ist, wie wenn in der Hand, die segnet, noch eine andere Kraft mitwirkt. Es ist, wie wenn im Gesang des Chores noch eine andere Stimme mitsingt. Die Verbundenheit bekommt einen besonderen Glanz, eine besondere Tiefe, eine andere Dimension. Ich scheitere an den Worten und ich scheitere am Nachempfinden, denn solche Erfahrungen lassen sich nicht festhalten, bei mir jedenfalls nicht. Und darum brauche ich diese alten und doch aktuellen Worte: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe lebt, ist mit dem Göttlichen verbunden und das Göttliche mit ihm/ihr.

In unserem Text ist die Liebe universal gemeint, sie umfasst die ganze Schöpfung, alles Lebende. Jesus Christus wurde zur Versöhnung der ganzen Welt gesandt, nicht nur der Menschen oder einiger weniger Auserwählter. Liebe ist die Macht, welche alles einbindet, alles berührt und bewegt. Auch das eine moderner und sehr aktueller Gedanke: Im Lieben geht es nicht nur um die, die mir grad am nächsten sind, sondern um alles Leben. Mit allem Lebenden bin ich verbunden, weil alles Lebende geliebt ist von der einen Kraft, die das Leben erschaffen hat. Für mich ist das eine wichtige Glaubenserkenntnis, die mich immer wieder neu motiviert, das Leben in dieser Welt zu schützen, meinen Anteil an der Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu leisten, obwohl es manchmal so viel bequemer wäre auf dem Sofa die restliche Welt zu vergessen. Und es führt mich an einen anderen Ort der Gotteserfahrung, den viele Menschen heute teilen: in die Natur. Von vielen weiss ich, dass sie eher auf einem Berggipfel oder in einem stillen Wald ihre Religiosität erleben als in der Kirche. Ich kann es nachvollziehen, auch wenn ich das «entweder-oder» bedauere. Es schliesst sich doch nicht aus, so wie die Liebe nicht nur an einem Ort zu finden ist, nicht einmal nur an einen Menschen gebunden ist, so muss es doch die Gotteserfahrung auch nicht sein. Ich glaube, die göttliche Stimme sucht sich verschiedene Töne, die göttliche Botschaft verschiedene Kanäle und die göttliche Wirkkraft verschiedene Orte aus, um uns zu erreichen, uns alle, alles Lebende, ob Kirche oder Wald, Einsamkeit oder Gemeinschaft, Worte oder Berührungen.

Heute, am ersten Sonntag nach Trinitatis, ist ja genau das Thema: Die göttliche Stimme in der Welt. Wie hören wir sie inmitten all der anderen Stimmen? Wie und wo erfahren wir heute die göttliche Botschaft, die Frohe Botschaft, christlich gesprochen? Ich kann nur wiederholen, was die Verfassenden des 1. Johannesbriefes wohl auch erfahren haben: in der Liebe und durch die Liebe.

Amen

Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.

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