1 Kor 2, 12-16

1 Kor 2, 12-16

Nicht aus menschlicher Weisheit, sondern aus Gottes Geist | Pfingstsonntag | 1 Kor 2, 12-16 | Ulrich Nembach |

Liebe Gemeinde,

heute Morgen soll uns nicht die Erzählung vom ersten Pfingstfest der christlichen Gemeinde in Jerusalem beschäftigen, wie sie in der Apostelgeschichte des Lukas (Acta 2) überliefert ist – in Anlehnung an die christliche Ikonographie sprechen wir oft auch von der ‚Ausgießung des Heiligen Geistes‘. Der für den heutigen Pfingstsonntag vorgeschlagene Predigttext steht im ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth. Er handelt von unserem Leben, er handelt von Gottes Geist. Ich lese 1 Kor. 2, 12-16:

12 Wir haben nicht empfangen den Geist der Welt,sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können,was uns von Gott geschenkt ist.

13 Und davon reden wir auch nicht mit Worten,wie sie menschliche Weisheit lehren kann,sondern mit Worten, die der Geist lehrt,und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen.

14 Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden!

15 Der geistliche Mensch aber beurteilt allesund wird doch selbst von niemandem beurteilt.

16 Denn „wer hat des Herrn Sinn erkannt,oder wer will ihn unterweisen“ (Jesaja 40,13)?Wir aber haben Christi Sinn.

Was für ein Text! Aufregend. Ein anregender Text! Er ruft zur Sache, zur Ordnung (wie John Bercow einst im englischen Parlament, „Order, order!“). Paulus geht ans Eingemachte, und zwar aus gutem Grund.

In Korinth gibt es Probleme: Spaltungen innerhalb der Gemeinde, Konflikte zwischen der Gemeinde und Paulus, der sie wenige Jahre zuvor gegründet hatte. Paulus nimmt die Situation als so kritisch wahr, dass er grundsätzlich wird. Er argumentiert, indem er an das erinnert, was „uns“, die Christen – die christliche Gemeinde damals in Korinth und heute in aller Welt –, ausmacht.

Was das ist, ist insofern keine Frage. Zur Debatte steht unsere Orientierung, präziser und im Wortsinn: unser ‚Ausgerichtet-sein‘. Man könnte auch sagen, es geht um unseren inneren Kompass oder die Richtschnur, von der unser Denken, unser Reden und Tun bestimmt wird. Wir haben sie uns nicht selber gegeben, wir haben sie bekommen, sie ist Gottes Geschenk. Sein Geist ist in der Welt. Darauf kommt es an. Mit ihm erhält unser Leben Richtung und Ziel.

2.

Diese Orientierung ist nicht selbstverständlich, sie ist etwas Besonderes. Gott selbst garantiert ihre Qualität. Er steht für sie ein. Unverkennbar, das ist einzigartig! Aber es ist auch eigenartig. Dem „natürlichen Menschen eine Torheit“, sagt Paulus. „Nicht normal!“, „Das ist doch verrückt!“, sagen wir heute. Für den römischen Historiker Tacitus waren die Christen Anhänger eines „verderblichen Aberglaubens“ (Annalen 15, 44). Sein jüngerer Zeitgenosse Sueton urteilte ebenfalls knapp: „eine Sekte, die sich einem neuen gemeingefährlichen Aberglauben ergeben hatte“ (Nero 16,2) – von der Christentumskritik, die die moderne Welt fasziniert, ganz zu schweigen.

Solche Stimmen freilich sind nicht unser Problem. Paulus stellt fest: „Der geistliche Mensch beurteilt alles und wird doch selbst von niemandem beurteilt.“ Auch das ist begründet im Heiligen Geist. Paulus redet nicht von ihm oder über ihn, er redet in seinem Horizont, „mit Worten, die der Geist lehrt“, „geistlich“, als „geistlicher Mensch“. Gottes Geist ist in der Welt, in ihr auf geht er nicht. Er übersteigt unseren Verstand, ist „höher denn alle Vernunft“ (Phil 4, 7). Er ist anders. Gegebenenfalls sehr anders als das, was die Männer und Frauen von Welt – „der natürliche Mensch“, wie Paulus generalisierend sagt – für das Gegebene halten oder für richtig befinden.

Von uns aus nämlich begreifen wir Menschen nicht, was es mit Gottes Geist auf sich hat. Es liegt nicht an uns, es liegt in der Natur der Sache. Der „natürliche Mensch“ kann Gott nicht verstehen. Er bringt die Voraussetzungen dafür einfach nicht mit. Wir aber, so Paulus, wir können begreifen. Unser Geist (er)kennt Gottes Geist. Wir, Christen, haben „Christi Sinn“.

3.

Was das bedeutet, muss wiederum nicht groß erläutert werden. Wir wissen es. Wer, wenn nicht wir?! Wir können erkennen dank Christi Sinn, und das hat Folgen. Die erste: Es gilt die Geister zu prüfen. Implizit fordert Paulus einen jeden und eine jede von uns dazu auf: „Prüft alles (1 Thess 5, 21)!“ „Prüft die Geister, ob sie von Gott sind“, mahnt an anderem Ort, zu anderer Zeit ausdrücklich der erste Johannesbrief (1. Joh. 4, 1).

Zugleich schneidet, zweitens, Christi Sinn zu haben Spekulationen aller Art den Weg ab: Grübeleien, intellektuellen Höhenflügen und Gedankenspielen, spirituellen Ausschweifungen, der Gnosis, religiöser Überspanntheit, esoterischem Gebaren etc. „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war…“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Philippi (Phil 2, 1ff, wiedergegeben hier in Luthers alter Übersetzung). Damit ist jede Form von Anmaßung ausgeschlossen.

4.

Leben wir heute so? Geistlich, in Christi Sinn, mit Gottes Geist? Die Frage ist so aktuell wie eh und je. Ich will nur wenige Beispiele anführen.

Die Katholische Kirche in Deutschland begann 2019, sich ihrem Versagen im Umgang mit den Opfern sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu stellen. Sie rief den sog. Synodalen Weg ins Leben, das Forum für eine „geistige und geistliche Auseinandersetzung“. Jahrzehntelang hatten Priester, Diakone und Ordensleute sich einschlägig schuldig gemacht. Vorgesetzten, die davon erfuhren, war nur an einem gelegen: Stillschweigen zu bewahren und zu vertuschen. Sie taten, was andere Männer auch tun; sie handelten als ‚natürliche Menschen‘. Der Synodale Weg fragt nach einer Kirche aus der „Kraft des Heiligen Geistes“ (https://www.synodalerweg.de/was-ist-der-synodale-weg/).

Ich erinnere an Oskar Brüsewitz, jenen Pfarrer in Sachsen-Anhalt, der faktisch im Alleingang öffentlich gegen die Unterdrückung der Kirche in der DDR aufbegehrte. Mit der Anbringung eines Kreuzes aus Leuchtstoffröhren am Turm seiner Kirche setzte er ein vielbeachtetes Zeichen. Mit seiner Selbsttötung (im August 1976) wurde er zu einem Wegbereiter der friedlichen Revolution von 1989. Da sich die Tat nicht lange verschweigen ließ, begann das SED-Regime sogleich, sie als Verirrung eines Psychopathen zu diskreditieren. Die Kirchenleitung verwahrte sich im Gegenzug gegen die Verleumdungskampagne. Mit einer klaren Positionierung hielt sie sich zurück. Brüsewitz als Person war nicht unangefochten, sein Lebensweg war schwierig. Er stammte aus sehr einfachen Verhältnissen und war nach einer Ausbildung zum Schuster auf Umwegen Pfarrer geworden. Allein, sein Protest gegen die repressive, kirchenfeindliche Staatsmacht verdankte sich einem klaren Urteil.

Dass ein solches weder von der Herkunft abhängt noch von der intellektuellen Begabung, ist mit den Händen zu greifen. 1933 etwa begrüßten Intellektuelle, darunter Gelehrte von Rang, die Ideologie des Nationalsozialismus begeistert; manch ein Professor der Theologie war dabei (– das bis heute verstörendste Beispiel: der Göttinger Emanuel Hirsch). Auf der anderen Seite, ein junger Mann aus dem Ruhrgebiet: Zunächst Bergmann wie sein Vater, später in der Katholischen Arbeiterbewegung aktiv, erkannte Nikolaus Groß (geb. 1898) bereits Jahre vor der sogenannten Machtergreifung die Unvereinbarkeit dieses Denkens mit dem christlichen Glauben. Ende Januar 1945 wurde er wegen seiner Verbindung zum Widerstand im Eilverfahren in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

5.

Doch nochmals zu uns, in unsere Gegenwart! Woran orientieren wir uns? Was treibt uns an? Wie gehen wir mit unserem Wissen um, dem Wissen der Welt und dem Geist aus Gott? Ich versuche eine Antwort anhand eines weiteren Beispiels.

1968 erschütterte uns die Nachricht von der Sprengung der Universitätskirche in Leipzig. Sie war nicht die erste Kirche und nicht die letzte, die in der DDR gesprengt worden ist. Der Abriss dieser Kirche jedoch erschien besonders perfide. 1240 geweiht, hatte sie alle Kriege überdauert und selbst die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs fast unversehrt überlebt. Nun aber musste sie der Vision einer sozialistischen Vorzeigestadt weichen. Darin waren sich Universitätsverwaltung und Stadtverordnete einig. Einer eilends gegründeten Initiative gelang es immerhin, einen Teil der wertvollen Innenausstattung zu bergen.

Nach der Wende von 1989 und der Wiedervereinigung wurden bald erste Forderungen nach einem Wiederaufbau laut. Sie fanden Unterstützer, wurden aber auch strikt zurückgewiesen. Nach langen Debatten verständigte man sich schließlich auf einen Neubau, der gleichermaßen als Aula wie als Kirche genutzt werden kann. Die Integration des Inventars aus der alten Kirche gibt dem Raum (s)einen eigenen Charakter.

Das ist den Verfechtern der Idee eines Wiederaufbaus nach historischem Vorbild zu wenig. Der von ihnen gegründete Verein hadert bis heute mit dem so erreichten Erscheinungsbild. Auf der anderen Seite ist die wissenschaftliche Theologie seit 2019 an einem groß angelegten Forschungsprojekt beteiligt. Am Beispiel des 2017 fertiggestellten Paulinums, kultursoziologisch gesehen, ein „hybrider Raum“, soll die „Sakralraumtransformation im säkularen Kontext“ kartiert, analysiert und ausgewertet werden. Eine Reihe von Fachleuten verschiedener Disziplinen – aus den Geisteswissenschaften, aus Bauwesen und Architektur, Sozial- und Verhaltenswissenschaften –, hat sich zu einer Forschungsgruppe zusammengeschlossen, um Kriterien für eine „praxisrelevante ‚Theorie des sakralen Raumes‘ im 21. Jahrhundert“ zu erarbeiten. Kirchenschließungen, Umnutzungen, Verkauf und Abriss sind bei uns vielerorts zu einem Moment des Alltags geworden (vgl. https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/387623040).

Ich erwähne das Paulinum heute Morgen schlicht mit Freude und Dankbarkeit. Zur Stunde wird dort in Leipzig wie an jedem Sonntagmorgen, nunmehr im sechsten Jahr, Gottesdienst gefeiert. Jahrzehntelang ist das nicht möglich gewesen; kaum jemand hat diese Entwicklung für naheliegend oder auch nur wahrscheinlich gehalten. Der Heilige Geist lehrt das mutmaßlich Undenkbare zu denken – nebenbei, nicht nur im Hinblick auf die Zukunft. Er leitet uns ebenso an, bislang Unerkanntes zu erkennen, und er erhält unsere Lernfähigkeit.

Amen


Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach, Göttingen

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