1. Korinther 13, 9-12

1. Korinther 13, 9-12

Liebe Gemeinde,

unser Wissen ist Stückwerk, unser prophetisches Reden ist Stückwerk,
… wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild
, schreibt
hier Paulus ganz negativ. Es ist alles Stückwerk, es ist alles
so beschränkt. Unser Wissen ist so beschränkt; unser Glaube,
unsere Religion ist so beschränkt; unsere Ethik, unsere Moral
ist so beschränkt – Stückwerk eben. Ja, auch Paulus, dieser
kluge Kopf, der seitenweise gelehrte Briefe schreiben kann, gibt sich
mit diesen Worten erstaunlicherweise selbst als ein Beschränkter
zu erkennen. Weil auch er nur Stückwerk hervorbringt. Weil auch
er nur ein dunkles Bild von der Wirklichkeit sieht.

Es ist alles Stückwerk, es ist alles so beschränkt. Und das
gilt auch für uns. Auch wir sind so beschränkt. Beschränkt
durch die vielen, vielen Schranken, die unser Leben begrenzen. Beschränkt
durch die Schranken unserer Kultur und unserer Traditionen; beschränkt
durch die Schranken unserer Sitten und Gewohnheiten; beschränkt
durch die Schranken unserer Sprache und unseres Lebensumfeldes; beschränkt
durch die Schranken von Parteigrenzen und Vereinen, durch die Schranken
von größeren oder kleineren gesellschaftlichen Gruppierungen
und vielem anderen mehr. Ob wir es glauben mögen oder nicht.

Wir sehen von der Wirklichkeit nur ein dunkles Bild. Wir haben ein ungenaues,
verschwommenes Wissen. Und doch halten wir dieses verschwommene Wissen
immer wieder für die Wahrheit selbst. Weil wir es nur ungern hören
wollen, daß alles so beschränkt ist. Statt dessen halten wir
uns lieber für klug und vernünftig oder für besonders
fromme oder besonders moralische Menschen. Statt uns einzugestehen, daß alles,
was wir sind und tun, Stückwerk ist, bruchstückhaft ist, beschränkt
eben – stattdessen tun wir dann gerne so, als wären Weisheit oder
Frömmigkeit oder Moral ausgerechnet und ganz besonders bei uns zu
finden und bei den anderen eher nicht. Und die anderen behaupten von
sich genau dasselbe mit umgekehrten Vorzeichen.

Sehen Sie sich nur einmal die Politik an: Da hat jede Partei die Vernunft
für sich gepachtet. Oder sehen Sie sich einmal die vielen verschiedenen
Kirchen an – von den nichtchristlichen Religionen ganz zu schweigen:
Da hat jede den wahren Glauben für sich gepachtet. Dagegen sagt
Paulus: Beschränkt ist das. Weil alles beschränkt ist durch
alle möglichen Schranken und auch wir.

II.

Nun war Paulus, als er diesen Brief an die Korinther schrieb, gewiß schon
klar, daß solch wenig schmeichelhaften Aussagen nicht nur Gefallen
finden würden. Daß es da nicht wenige Leute geben würde,
die auf so etwas entrüstet entgegnen würden: „Was, wir sollen
beschränkt sein? Nein, wir sind es doch, die den Durchblick haben;
wir sind es doch, die wirklich wissen, was richtig und was falsch ist;
wir sind es doch, die wirklich wissen, was zu tun ist!“

Gut, sagt Paulus dazu. Stellen wir uns einfach einmal vor, es wäre
tatsächlich so. Stellen wir uns einfach einmal vor, ihr könntet
reden wie die Englein selbst. Stellen wir uns einfach einmal vor, ihr
wüßtet alle Geheimnisse dieser Welt und jenseits dieser Welt.
Stellen wir uns einfach einmal vor, ihr hättet die Weisheit mit
Löffeln gegessen, einen Glauben der Berge versetzen könnte
und eure Ethik und Moral wäre derart, daß ihr für eure
Nächsten alles geben würdet, selbst euer Leben! Es ist nicht
so, aber stellen wir uns einfach einmal vor, es wäre tatsächlich
so. Wenn es so wäre, und ihr hättet die Liebe nicht – ihr wärt
nach wie vor beschränkt. Und noch schlimmer: ohne die Liebe ist
all das, was ihr macht, was ihr könnt und leistet – nichts!

Ohne die Liebe ist das alles nichts. Das heißt nicht: Denkt doch
hin und wieder auch mal an die Liebe. Versucht doch mal die Liebe nicht
ganz außer acht zu lassen. Das heißt nicht: Die Liebe ist
ein wichtiger Wertmaßstab, den ihr nicht vergessen sollt. Das alles
mag seine Richtigkeit haben, aber Paulus sagt hier viel, viel mehr als
das: Ohne Liebe ist alles, wirklich alles andere nichts.

Ohne die Liebe ist euer Reden, egal ob mit Menschen- oder mit Engelszungen
nur leeres Wortgeklingel. Und wenn euer Wissen, euer Glauben und eure
Moral auch zur Höchstform aufgelaufen wären – ohne die Liebe
ist das alles nichts.

Paulus, so stelle ich mir vor, wenn man ihm heute ein bißchen
von unserer Welt erzählen könnte, Paulus würde angesichts
unserer Art und Weise zu leben immer wieder nachfragen, wie das denn
bei uns so mit der Liebe ist. Die Kinder zu fleißigen und anständigen
Menschen erziehen… Ist schon recht, würde Paulus wohl sagen; aber
wie haltet ihr es da mit der Liebe? Regelmäßige Gottesdienstbesuche,
regelmäßiges Beten und Einsatz für die Kirchengemeinde,
für das Dorf, für die Allgemeinheit… Ist schon recht, aber
wie haltet ihr es da mit der Liebe? Tolerant sein gegenüber Menschen,
die anders leben und denken wie wir, anderen Menschen keinen Schaden
zufügen… Schön und gut, aber wie ist es da bei euch um die
Liebe bestellt? So würde Paulus heute wohl fragen. Und darauf pochen:
Ohne die Liebe bleiben eure wirklichen oder vermeintlichen Leistungen,
ohne die Liebe bleiben eure wirklichen oder vermeintlichen Wohltaten
ganz und gar hohl und leer.

III.

Es ist alles so beschränkt, sagt Paulus. Und kommt dann nicht von
ungefähr auf die Liebe zu sprechen. Weil alleine die Liebe schrankenlos
ist. Weil alleine die Liebe grenzenlos ist und ohne Ende: Die Liebe
hört niemals auf
, schreibt Paulus, sie erträgt alles,
sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles
. Das tut die
Liebe und noch mehr, von dem Paulus hier in unserem Text zu berichten
weiß.

Paulus spricht hier von der Liebe als von einer Macht. Von der Liebe
als einer Macht, die einen packt, die einen ergreift und mitnimmt, mitzieht.
Paulus spricht hier von der Liebe als einer Macht, die wir nicht steuern
können, sondern die statt dessen uns und den Lauf unseres Lebens
lenken kann. Und schließlich: Paulus spricht hier von der Liebe
als einer Macht, die zuletzt allem standhält.

Was die Liebe nicht alles tut! Daß alles so beschränkt ist,
weiß die Liebe und regt sich trotzdem nicht darüber auf. Die
Liebe wird trotz aller Beschränktheit auf dieser Welt nicht fanatisch,
sondern die Liebe hat stets Geduld. Die Liebe ist nie und nimmer schadenfroh,
sie spottet nicht, sondern sie bleibt freundlich und verzeiht Unvollkommenheiten.
Wo auch immer etwas schieflaufen mag: die Liebe hält das aus. Und
wo alles so beschränkt ist, da öffnet die Liebe Schranken.
Da schlägt die Liebe Brücken und zeigt neue Wege. Das alles
tut die Liebe und noch mehr. Weil die Liebe grenzenlos ist und ohne Ende.

Die Liebe hört niemals auf. Weil dieser Gott, der die Liebe ist,
niemals aufhört. Und so ist die Liebe ein Vorgeschmack des Vollkommenen,
sie ist das göttliche Geheimnis des Guten. Die Liebe ist Gottes
Wille und die Erfüllung seines Willens zugleich.

IV.

Wir Menschen, wir Christen sind alles andere als vollkommen. Wir können
gar nicht vollkommen sein, denn wir sind ja nicht Gott, sondern nur beschränkte
Wesen. Aber wir müssen auch gar nicht vollkommen sein. Wo Gott uns
mit Augen der Liebe ansieht – oder der Partner/die Partnerin oder irgendein
anderer Mensch – wo wir mit Augen der Liebe gesehen werden, da sind unsere
Fehler verziehen, da sind unsere Unvollkommenheiten nebensächlich,
da sind wir trotz aller Beschränktheit in unserem Leben, die ja
auch da ist, mehr als akzeptiert.

Wir Menschen brauchen viel in unserem Leben, um zumindest halbwegs unbeschränkt – „frei“ sagen
wir dann – leben zu können: Arbeit und Geld; Technik und Kultur;
Gesundheit vor allen Dingen; Gerechtigkeit und vieles andere mehr.

Wichtige Dinge sind das alles, würde Paulus sagen – aber bedenkt:
Ohne die Liebe ist das alles nichts. Und deshalb solltet ihr zuerst und
vor allem die Liebe brauchen. Ihr habt sie nicht in der Hand, die Liebe,
so wie ihr vielleicht die vielen anderen Dinge in der Hand haben mögt.
Und ihr könnt sie auch nicht herstellen, die Liebe. Aber es gibt
sie. Und sie berührt auch euer Leben immer wieder. Ohne Ende. Dem
Gott, der die Liebe ist, sei Dank.

Michael Fragner
fragner@michelrieth.de

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