1. Petrus 2, 2-10

1. Petrus 2, 2-10

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


6. Sonntag nach
Trinitatis, 7. Juli 2002
Predigt über 1. Petrus 2, 2-10, verfaßt von Werner Zager


EIN HAUS AUS LEBENDIGEN STEINEN
Universitätsgottesdienst in der Apostelkirche zu Bochum-Querenburg

Predigttext: I Petr 2,2-10
Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen
Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil,
da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist.
Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen
ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar.
Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und
zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig
sind durch Jesus Christus.
Darum steht in der Schrift (Jes 28,16): „Siehe, ich lege in Zion
einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der
soll nicht zuschanden werden.“
Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen
aber ist „der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum
Eckstein geworden ist,
ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses“ (Ps
118,22; Jes 8,14); sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das
Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind.
Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft,
das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt
die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem
wunderbaren Licht; die ihr einst „nicht ein Volk“ wart, nun
aber „Gottes Volk“ seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun
aber in Gnaden seid (Hos 2,25).

I. Ein Haus

Liebe Gemeinde!
Wer ein Haus bauen will, braucht vor allen Dingen eines: Steine.
Er braucht tragfähige Steine für das Fundament, bruchfeste Steine
für Türstürze und Fensterrahmen, schön anzusehende
Steine für das sichtbare Mauerwerk, hitzebeständige Steine für
den Kamin, Ziegelsteine für ein regendichtes Dach. Ohne Steine wird
kein solides Haus. Denn nur mit Holz oder Wellblech oder Kunststoffen
gebaut, wird jedes Haus zur Hütte.

Wer aber will schon in einer Hütte wohnen? In einem Zelt oder einer
Wellblechbaracke? Zuhause und sicher fühlen wir uns nur in einem
richtigen Haus. Hinter soliden Mauern fühlen wir uns erst so richtig
geborgen, geschützt vor Regen und Frost genauso wie vor der sengenden
Hitze der Sonne, abgeschirmt vor den Augen und Ohren anderer Menschen,
frei, das zu tun und zu lassen, wonach uns der Sinn steht.

„My home is my castle“, sagt der glückliche Hausbesitzer
– oder wie wir gerne aus der deutschen Literatur zitieren: „Hier
bin ich Mensch. Hier darf ich sein.“

„Ein Haus zu bauen“ – damit locken höchst überzeugend
die Bausparkassen – „ein Haus zu bauen, liegt in der Natur des Menschen,
Miete zahlen nicht.“

Und wie ist es mit unserer Kirche? Auch der, der eine Kirche bauen will,
braucht Steine. Ein tragfähiges Fundament, ein dichtes Dach, schmückende
Fassadensteine, bunte Steine für die Fenster. Aber das reicht nicht,
um uns dort geborgen und zuhause zu fühlen. Etwas anderes macht eine
Kirche zu einem Zuhause. Ganz sicher nicht ihre Steine und ihre Mauern.

Gewiss: Ein leerer Kirchenraum kann uns innere Ruhe schenken mit seiner
Kühle und seiner Stille. Eine Kirche kann uns Einkehr schenken mit
ihren leuchtenden Fenstern und den still brennenden Kerzen. Eine Kirche
kann uns aufatmen lassen, weil sie ein Raum ist ohne Zeit- oder Termindruck
und ohne Hetze.

Aber schenkt sie uns Geborgenheit? Ein Zuhause? – Das Kirchengebäude
allein, das aus Steinen gebaute Haus Gottes, kann das nicht. Es kann es
nicht allein. Sondern nur dann, wenn in dieser Kirche auch Leben
ist, Gemeinschaft sich entfaltet, Gemeinde erfahrbar wird.

Und genau darum geht es im 1. Petrusbrief, in unserem Predigttext: Es
geht um die christliche Gemeinde als eine Kirche, die nicht lediglich
aus irgendwelchen Steinen gebaut ist, sondern aus lebendigen Steinen.

II. Steine

Kommen wir noch einmal zurück auf den echten, den „toten“
Stein. Bislang dachte ich immer, Steine seien tot, seien kalt. Steine
sind hart und unbequem, wer sich auf einen Stein setzt, wird spüren,
welche Kälte dieser ausströmt. Steine sind ungenießbar.
Man kann sie nicht essen. Schon in der Bibel finden wir den Stein als
Inbegriff dessen, was lebensfeindlich ist. „Wo gibt es bei euch einen
Menschen, der seinem Sohn, wenn der ihn um ein Brot bittet, stattdessen
einen Stein gibt?“ (Mt 7,9)

Auch im übertragenen Sinne steht der Stein in der Bibel für
das Leblose, das Harte. „Die Menschen haben ein Angesicht, härter
als Stein, und wollen sich nicht bekehren“; so klagt der Prophet
Jeremia (Jer 5,3).

Den Stein als Sinnbild des Todes finden wir in den Worten Jesu, als er
sich für das Leben der Ehebrecherin einsetzt: „Wer unter euch
ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.“ (Joh 8,7) – Oder denken
wir an den Stein, der Jesu Grab verschloss. Unverrückbar, fest, ein
Sinnbild der Leblosigkeit und der Endgültigkeit des Todes.

Bislang dachte ich auch, alle Steine seien eigentlich gleich. Gleich
hart, gleich kalt, und alle eigentlich nur zum Hausbau zu gebrauchen.
Weit gefehlt! Erst eine Architektin hat mich darüber aufgeklärt,
wie vielfältig Steine sein können. Sie haben eine Maserung –
wie Holz. Sie sind in Schichten gewachsen – wie Holz. Und ein Maurer achtet
darauf, ob ein Stein seiner Maserung gemäß beschlagen und ins
Mauerwerk eingesetzt wird. Denn man kann tatsächlich einen Stein
falsch herum einmauern. Und dann verwittert er.

Es gibt warme Steine. Und es gibt kalte Steine. Je nach ihrer Dichte
ziehen sie die Wärme an oder geben sogar Wärme ab.

Es gibt Steine, die klingen. Und Steine, die stumm sind. Klingende Steine
sind intakte Steine – so wie ein Glas ohne Sprung. Und stumme Steine sind
schlechte Steine, sie sind porös oder zerstört, wie eine angeschlagene
Tasse. – Und ein Steinmetz hört allein am Klang seines leichten Klopfens,
an welcher Stelle er einen Stein spalten oder abschlagen kann.

Es gibt also so etwas wie „Leben“ in ganz gewöhnlichen
Steinen.
Umso interessanter wird uns das Bild vom Haus aus lebendigen Steinen!
Unsere Kirche ist ein Haus, aus Steinen gebaut. Und unsere Gemeinde ist
ein Haus, aus Steinen gebaut, die lebendig sind. Aus Steinen, die wachsen
können, die klingen können oder Wärme ausströmen.

III. Der Tempel

Noch etwas klingt mit in diesen Worten aus dem 1. Petrusbrief: das priesterliche
Selbstverständnis der Gemeindeglieder.

Nicht einzelne Priester sind es, die Gott besonders nahe stehen. Sondern
wir alle stehen in Gottes Nähe. Wir sind alle ermächtigt und
verpflichtet, zu tun, was Priestern vorbehalten ist, nämlich Gott
zu dienen. Und dazu sind wir nicht durch die Erfüllung bestimmter
kultischer Gesetze befähigt, sondern durch die Taufe, durch Gottes
Ja zu uns sind wir berufen zu seinem Dienst.

Nicht Opfergaben wie Weihrauch und Widder sind es, die wir Gott darbringen
sollen, sondern Gaben des Herzens wie Dankbarkeit, wie Vertrauen und Gehorsam.

Nicht festgebaute Tempelhäuser sind es, die Gottes Gegenwart verbürgen,
sondern unsere Herzen sind es, in denen Gott Wohnung nehmen möchte.

Hier im 1. Petrusbrief heißt es:
Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause
und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott
wohlgefällig sind durch Jesus Christus.

Und damit wird die Vision eines neuen Tempels gezeichnet – eine Vision,
die bereits jetzt schon in unserer Gegenwart wirklich werden kann und
soll. Der Tempel, in dem Gott erfahrbar sein will, wird nicht aus Steinen
gebaut, sondern aus der Liebe und aus dem Vertrauen derer, die sich von
Gottes Willen leiten lassen. Dort gibt es keine Priesterschaft, die sich
als etwas Besseres fühlt als die normalen Gläubigen. Dort schenkt
man sich als Opfer gegenseitig Liebe, wahrt den Frieden und gewährt
sich gegenseitig Freiheit. So dass jeder Mensch ein menschlicher Mensch
sein darf, vor Gott, vor dem anderen und vor sich selbst.

Fassen wir also zusammen:
I. Ein Haus und auch eine Kirche werden gebaut, um Menschen eine
Zuflucht zu sein. Geborgenheit schenken sie aber nur durch die Menschen,
die darin leben.
II. Steine sind nicht wirklich tot, sondern sind lebendiger, als
wir üblicherweise denken.
III. Und ein Tempel, wie Gott ihn sich wünscht, ist kein Raum
des tötenden Gesetzesbuchstabens, wo nur einige wenige den Ton angeben,
sondern ein Raum der Freiheit, des Lebens und der Liebe für alle.

IV. Wo ist mein Platz? Was kann ich tun?

Liebe Gemeinde, wir feiern unseren Gottesdienst heute in einer Kirche.
Gebaut aus Steinen, Glas und Ziegeln.

Wir sind heute eine Gemeinde, zusammengekommen aus verschiedenen Lebensbereichen
und Lebensaltern, zusammengekommen als Einzelne, und doch heute vereint
beim Hören des Wortes Gottes und später sogar vereint als Abendmahlsgemeinschaft
im großen Kreis rund um den Tisch des Herrn.

Da wird sich jeder von uns der Frage stellen: Wo ist eigentlich mein
Platz in diesem Haus der Gemeinde Gottes? Bin ich ein Stein, der einen
festen Platz hat. Wer steht neben mir und stützt mich? Wer steht
unter mir und hält mich? Und wer steht über mir und verlässt
sich darauf, das ich ihn trage? In einem Mauerwerk sind die Steine aufeinander
angewiesen. Sie tragen und stützen sich gegenseitig. Und jede Mauer
ist nur so stark, wie ihr schwächster Stein. Wo habe ich meinen Platz
in diesem Gebäude, das wir Kirchengemeinde nennen?

Habe ich überhaupt einen Platz in dieser Gemeinde, oder liege ich
am liebsten nutzlos am Rand herum, damit mich keiner gebraucht, vielleicht
sogar belastet?

Vielleicht bin ich aber auch einer von den bedauernswerten Atlanten,
die auf ihren Schultern fast die halbe Last des Gewölbes tragen,
weil ich mich nicht traue oder zu stolz bin, andere um Hilfe zu bitten.

Es gibt solche und solche Steine in unseren Gemeinden: Es gibt solche,
die zögern und am liebsten nur zuschauen, es gibt solche, die ständig
meckern und nörgeln, und solche, die fast die ganze Last der Verantwortung
alleine tragen. Das aber ist nicht das Traumbild einer Kirche, wie Gott
sie sich wünscht. „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr
das Gesetz Christi erfüllen“, so heißt es im Galaterbrief
(6,2). Also, einer stütze den anderen. Die Last werde verteilt auf
viele Schultern. Und so wird auch die Freude aller wachsen, der Zusammenhalt
und die Liebe untereinander zunehmen.

Und ein Weiteres: Was gibt es, das ich einbringen könnte, damit
das Haus unserer Gemeinde Stabilität erlangt? Steine können
klingen, Steine können wachsen, Steine können Wärme speichern
und abgeben, haben wir vorhin erkannt. Was kann ich als Teil unserer Gemeinde
einbringen, als Gabe, an Talent, an Fachwissen?

Ein Mensch, der gut zuhören kann, findet seinen Platz vielleicht
am Bett eines Kranken – und ein Mensch, der gut erzählen kann, findet
seinen Platz als Mitarbeiter oder Mitarbeiterin im Kindergottesdienst.

Ein Mensch, der über großes Fachwissen und Lebenserfahrung
verfügt, sollte sich aufstellen lassen zur Kirchenvorstandswahl –
und ein Mensch, der einfach gerne zupackt, darf beim nächsten Gemeindefest
nicht zuhause bleiben.

Ein Mensch, der gerne in der Stille betet, sollte mit offenen Augen durch
die Gemeinde gehen und die Not, die er sieht, vor Gott bringen – und ein
Mensch, dem dafür die Worte fehlen, der sollte hingehen und helfen.

Ein Mensch, der die Traditionen kennt und liebt, sollte sie behutsam
bewahren und weiter entwickeln helfen – und ein Mensch, der neugierig
ist auf Neues, sollte frischen Wind in unsere Gemeinden bringen.

Ein Haus aus lebendigen Steinen ist nicht nur eine Vision für die
Zukunft – für ein fernes Reich Gottes, liebe Gemeinde. Dieses Haus
aus lebendigen Steinen, das können wir heute schon werden.

Indem wir zulassen, dass unsere schon ganz hart und kalt gewordenen Herzen
mit unserem menschlichen Gegenüber wieder mitempfinden,
dass unsere manchmal schon resigniert verschlossenen Augen sich wieder
füreinander öffnen,
und unsere auf Durchzug gestellten Ohren wieder auf das hören, was
der andere sagt.

Unsere Gemeinde wird wieder lebendig, wenn wir selbst wieder lebendig
werden. Und unsere steinernen Herzen wieder Herzen aus Fleisch und Blut.

V. Und wer hält das Ganze zusammen?

Bleibt eigentlich nur noch eine Frage offen, liebe Gemeinde: Wer hält
letztendlich denn diesen ganzen, lebendigen Bau zusammen?

Mein erster Gedanke war bei der Vorstellung eines Gebäudes aus lebendigen,
sich bewegenden Steinen nämlich der, dass solch ein Gebäude
eigentlich sehr instabil sein müsse. Da wackelt ja alles, war meine
Befürchtung. Das hält doch nie.

Und genau diese Befürchtung, liebe Gemeinde, lähmt auch unsere
Gemeinden! Wenn jetzt jeder das einbringt, was er oder sie kann, die Lustigen
und die Ernsten, die Traditionalisten und die Erneuerer, die Zögernden
und die Forschen, die Frommen und die Freigeister – gibt denn das alles
nicht ein heilloses Durcheinander? Ein instabiles Gebäude, in dem
keiner weiß, wo es langgeht? Und das letztlich in sich zusammenfällt?

Als hätte der Verfasser des 1. Petrusbriefes geahnt, wie ängstlich
wir Menschen doch bei solch einer Vorstellung sind. Er sagt uns:
Kommt zu Jesus Christus als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen
verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Er ist zum Eckstein
geworden.

Zwar haben die „Bauleute“, d.h. die Menschen, die sich ihre
Welt selbst bauen wollen – ohne Rücksicht auf Verluste -, Jesus als
einen für ihren Bau ungeeigneten Stein weggeworfen. Und dies geschieht
bis zum heutigen Tag immer wieder. Aber Gott hat ihn zum Eckstein einer
Gemeinschaft von Menschen gemacht, die zuerst nach seinem Willen fragen
und bereit sind, als verantwortliche Menschen zu leben. Ohne den
Eckstein stürzt alles zusammen. Aber mit diesem Eckstein werden
wir nicht zuschanden werden.

Unsere Kirche, unsere Gemeinde wird bestehen, solange sie sich auf Jesus
Christus gründet. Und solange sie ihn als Herrn anerkennt und keine
anderen Herren neben ihm. Dann werden wir in aller Vielfalt unserer Lebendigkeit
vereint sein – nämlich in einem gemeinsamen Ziel: ein Tempel Gottes
zu werden, so wie Gott selbst ihn will. Ein Haus des Friedens, des Lebens
und der Freiheit. Mit Jesus Christus als Eckstein. Und mit uns als vielen
verschiedenen, einzigartigen und lebendigen Steinen.

Amen.

Prof. Dr. Werner Zager
Ruhr-Universität Bochum
Evangelisch-Theologische Fakultät
D-44780 Bochum
dwzager@t-online.de

 

 

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