1. Petrus 5,1-4

1. Petrus 5,1-4

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


2. Sonntag nach
Ostern, Miserikordias Domini

7.5.2000
1. Petrus 5,1-4


Franz-Heinrich Beyer


Liebe Gemeinde,

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln… und ob ich
schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bis
bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“.

Jahrtausende hindurch haben die Worte und die
Bilder, die in diesem Psalm laut werden, Menschen begleitet bis hinein in die
Gegenwart. In wie vielen Wohnungen begegnen wir diesem Psalmwort – gerahmt, an
der Wand hängend. Und es gibt wohl nur ganz wenige Worte der Bibel, die so
verbreitet sind und die – über manche Distanzen hinweg – so unmittelbar
Menschen anzusprechen vermögen. Konfirmandinnen und Konfirmanden
wählen zum Teil Worte dieses Psalms zu ihrem Konfirmationsspruch; Menschen
in persönlich schweren Situationen erinnern sich an die Psalmworte als
einen Hilfe verheißenden Halt. Und Menschen, die der Kirche, dem
Christentum längst distanziert gegenüberstehen, finden gerade in den
Psalmworten das ihnen Wichtige, das, was sie in Kirche und Gemeinde nicht
anzutreffen meinten. Es scheint so, als sprächen diese Psalmworte das zum
Leben Notwendige in schlichtester Weise unüberbietbar aus: Der Herr ist
mein Hirte. Und es scheint so, als begegnete uns mit dieser Metapher von Hirt
und Herde ein Bild von gleichsam archetypischer Unmittelbarkeit.

Die Rede von Gott als dem Hirten, der für
seine Herde für die Menschen sorgt, begegnet in der Bibel im Alten
Testament mehrfach: Der Hirt schläft nicht, er weiß den Hunger der
Herde zu stillen; er schützt sie vor Angreifern. Dieses Bild des Hirten
wird dann auch auf den jeweiligen König in Israel übertragen. Von dem
König heißt es dann, daß er seine Herde ernährt,
schützt und tröstet. Alles das findet sich nicht nur in Texten des
Alten Testaments, sondern auch Texte aus Ägypten oder aus Mesepotamien
reden von dem König im Bild des Hirten.

Das Alte Testament weiß aber nicht nur von
dem idyllischen, positiv geprägten Bild des Hirten, der unermüdlich
für seine Herde wirkt. Im Buch Hesekiel ist die Rede von den Hirten
Israels, die sich selber weiden, aber nicht die Herde: „Das Schwache
stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete bindet
ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr
nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt“.

Immer wieder begegnen wir dem Bild des Hirten, wie
es auf die Wahrnehmung von Funktionen und die Sinnhaftigkeit von Istitutionen
bezogen wird, auch im Neuen Testament, im ersten Petrusbrief, unserem
Predigttext: „Weidet die Herde Gottes, die Euch anbefohlen ist: Achtet auf sie,
nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt: Nicht um
schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als Herrn der
Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde“. Später wird der lateinische
Begriff für Hirt – Pastor – zu einer Amtsbezeichnung. In der
Reformationszeit werden in der antirömischen Polemik Papst und Kleriker
mit den falschen Hirten gleichgesetzt, die nur sich selber weiden. Ihnen wird
der „gute Hirte“ Christus mit den Christen gegenübergestellt.

Spätestens in unserer Gegenwart scheint die
Rede von Hirt und Herde in unserer alltäglichen Umwelt ganz und gar
unangemessen zu sein. Zu nahe liegt die Vermutung mit dem Bild des Hirten
angemaßte und verletzende Autorität zu verbinden, mit dem Bild der
Herde aufgezwungene Abhängigkeit und bewußt intendierte Regression.
Das Modell von Hirt und Herde mit dieser kritischen Rückbindung
könnte aber durchaus versuchsweise herangezogen werden im Blick auf
sozialpsychologische Konstellationen in unserer Umgebung. Poilitiker und
Wähler, LehrerInnen und SchülerInnen, Eltern und Kinder, Ärzte
und Patienten, Professoren und Studierende, Pfarrerinnen und Gemeindeglieder…
Vielleicht ist dieses Bild von Hirt und Herde doch weniger abständig als
vermutet. Die Werbung wenigstens spielt mit diesem Bild, wenn damit in unseren
Tagen für eine große Tageszeitung geworben wird.

Die Motive des Hirten und des Schafes seiner Herde
lassen sich nicht nur mit Beispielen aus der gegenwärtigen Umwelt aktuell
füllen. Die Motive des Hirten und des Schafes einer Herde sind ebenso, so
darf man vermuten, Teilaspekte unserer Person. Der Wunsch Hirt zu sein, der
Wunsch den rechten Weg weisen zu können, der Wunsch zu erfahren, daß
andere Vertrauen fassen, sich einlassen, daß meine Worte gehört
werden – und auch die Hoffnung trösten zu können, Unheil abwehren zu
vermögen. Hirte sein können – der Wunsch und die damit verbundenen
Hoffnungen gehören wohl doch zum Leben dazu. Aber es gehört dann auch
diese andere Erfahrung dazu, die Erfahrung des hilflosen Hirten: Die Zweifel um
den richtigen Weg, das Gefühl, die Verantwortung für andere nicht
länger tragen zu können, der gebannte Blick auf das eigene
Unvermögen.

Der anderen Hälfte dieses Bildes in uns
selber sind ebenso anziehende wie auch ambivalente Züge eigen: Das Schaf,
das sich vertrauensvoll auf die Sorge des Hirten verläßt, ein Leben,
das aus solch tief gegründetem Vertrauen Kraft und Motivation für
angstfreies Eintreten gewinnt, ein Leben also, das sich im Tiefsten geborgen
weiß. Aber auch hier ist die andere Erfahrung ganz nahe: Nicht nur der
Wunsch nach deutlich sichtbarer Selbstverantwortung, vor allem aber die Ahnung
darum, daß die schwersten Wege im Leben allein gegangen werden, ja allein
gegangen werden müssen.

Die Psalmworte „Der Herr ist mein Hirte“ und:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“, finden sich beide nahe
beieinander. Sie schließen einander nicht aus. Im Gegenteil. Sie
bezeichnen die Pole, zwischen denen menschliches Leben seinen Ort hat.
Können wir Menschen Hirten sein, einander Hüter sein? Können wir
das sein angesichts der angesprochenen Grenzen und Abgründe?

Der Abschnitt aus dem 1. Petrusbrief kann uns
darauf aufmerksam machen, daß wir uns immer wieder in solchen Situationen
schon vorfinden und das nicht nur innerhalb kirchlicher Strukturen. Es wird
immer wieder darum gehen, Verantwortung zu übernehmen für andere
Menschen. Es wird darum gehen zu fragen, wie Menschen geholfen werden kannen.
Oft genug erfahren Helfer in solchen Situationen wo ihre Grenzen sind.
Solidarität und Hilfe für den Augenblick – das ist manchmal
möglich, das kann glücklicherweise immer wieder erfahren werden. Die
Einsicht in die Grenzen der Hilfe dagegen bleibt schmerzhaft, ja, man
möchte daran verzweifeln. Es gehört zu der Weisheit des
Predigttextes, daß solche Begrenzung angesprochen ist: Von dem Achten auf
die Herde ist die Rede – und das in Freiwilligkeit, aus Herzensgrund und das
gemeinsam mit den Betroffenen. Daneben ist auch das andere Extrem im Blick: Die
Anmaßung, sich zum Hirten für andere aufzuschwingen und dabei die
eigene Angst und Hilflosigkeit zu übertönen und so um eines Gewinnes
Willen – und sei er psychischer Art – zu handeln und über andere zu
herrschen.

Miserikordias Domini – das herzliche Erbarmen des
Herrn – so lautet der Name dieses Sonntags und weist damit auf etwas ganz
Entscheidendes hin: Es geht um das Hirte-Sein Gottes. Davon spricht die Bibel
immer wieder und bis heute, daß Gott die Menschen sucht, einem Hirten
gleich. Die Bibel kennt durchaus auch andere Bilder davon, wie Gott sich
hilfreich und bergend Menschen zuwendet: Er tröstet, wie eine Mutter
tröstet; er ist Hilfe und Schild.

Das Bild des Hirten ist nur eines unter mehreren.
Es muß nicht begründet werden ob dieses Bild des Hirten wirksamer
ist als andere. Der heutige Sonntag ist heilsame Erinnerung daran, daß
unsere Hoffnung sich mit diesem Bild verbinden und darin gründen kann: Der
Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Prof. Dr. Franz-Heinrich Beyer,
Ruhr-Universität Bochum
E-Mail:
ev.Relpaed@ruhr-uni-bochum.de

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