1.Timotheus 2,1-6

1.Timotheus 2,1-6

„‚Gebet und Danksagung für alle Amtsträger‘ – wer braucht das (noch)?“ | Rogate | 14.05.2023 | 1. Tim 2, 1-6 | Thomas Schlag |

Prof. Dr. Thomas Schlag, Theologische Fakultät der Universität Zürich

Liebe Gemeinde,

was liegt eigentlich zwischen Himmel und Erde? Gibt es dort überhaupt etwas? Ganz handfest gefragt: Gibt es einen Raum, eine Sphäre, wo sich Himmel und Erde begegnen und berühren? Und wenn ja: wer kann sich dort eigentlich aufhalten und wie lange?

Durch die Menschheitsgeschichte und Kulturen hindurch haben Könige, Herrscher, weltliche und geistliche Autoritäten gewusst, wie sie diesen Raum zwischen Himmel und Erde sichtbar und möglichst langfristig besetzen müssen:

Und so wurden sie zu Auftraggebern imposanter Herrschaftsgebäude, die ausstrahlen sollten, wie dieser besondere Ort aussehen muss: Königspaläste und Regierungszentren, aber auch Basiliken und Bankentürme symbolisieren architektonisch diesen besonderen Machtraum zwischen Himmel und Erde.

Durch die Zeiten hindurch hat „man“ sich also so weit wie möglich nach oben gereckt und gestreckt, um die Nähe von irdischer und himmlischer Herrschaft zu verkörpern. Vertikal angelegte Raumstrukturen sollten sogleich den Blick der Menschen nach oben ausrichten, um sich so der unbedingten Verfügungsgewalt dieser Autoritäten bewusst zu werden.

Vor diesen Auftraggebern und deren Artefakten zwischen Himmel und Erde sollten Menschen staunen, Erhabenheit verspüren, in Gebet und oft auch schweigsamen Gehorsam verfallen und am besten stumm und ergriffen niederknien – wenn schon nicht äusserlich sichtbar, dann doch wenigstens innerlich.

Ich war nun selbst erst vor wenigen Wochen an einem solchen Platz zwischen Himmel und Erde mit langer, durchaus machtvoller Tradition. Genauer: auf dem Berg Athos, der griechischen Halbinsel, bebaut mit insgesamt zwanzig imposanten Klöster.

Das Kloster, in das ich eingeladen worden war, gibt seine exponierte Position schon im Namen zu erkennen: „Simonos Petras“: Der Felsen des Petrus: mehrere hundert Meter oberhalb des Meeres, ja fast schon über dem Meer.

Ein vielstöckiges, steinernes Gebäude, gegründet im 13. Jahrhundert, mit unüberschaubar vielen Räumen und Türmen: Klosterzellen für Mönche, Pilger und Besucher, und in der zentralen Mitte des Ensembles die orthodoxe Kirche mitsamt ihrer erhöhten Kuppel als Raum des Feierns, Singens und Betens – tatsächlich ein Ort spürbar zwischen Himmel und Erde.

Ja, ich gebe zu: auch mich hat über zwei Tage hinweg die Erhabenheit des Klosterkomplexes ergriffen, das architektonische Ensemble und die ganze Atmosphäre haben mich angerührt – und in gewissem Sinn habe ich ein solches „Zwischen Himmel und Erde-Sein“ auch ganz körperlich gespürt. Beim Betreten der langen hölzernen Balkone mit dem Blick tief hinunter auf das Meer bin ich zugegebenermassen ins Schwanken gekommen.

Nun ruft einen natürlich die eigene protestantische Stimme nicht nur zur inneren Einkehr, sondern auch zur kritischen Prüfung und Selbstbeobachtung. Und dies bezieht sich keineswegs auf die durchaus unrühmliche Tatsache, dass der Zutritt zum Berg Athos nach wie vor nur Männern gewährt ist, was paradoxerweise auch noch theologisch begründet wird. Sondern man mag und muss ja fragen, welche Macht hier eigentlich zugange ist.

Und noch weiter ist zu fragen, ob sich hier nicht eine weltabgewandte Parallelgesellschaft gebildet hat, die sich selbst genug ist, sich sozusagen programmatisch von der Welt verabschiedet hat. Die demzufolge eine Spielart christlicher Existenz verkörpert, die bewusst auf eine öffentliche und gar gesellschaftlich relevante Rolle verzichtet.

Ist das nicht genau das Gegenteil von dem, was wir uns von Kirche in der Gegenwart, ihrem Personal und von unserer eigenen christlichen Praxis erwarten: pastorale Gegenwart auf Augenhöhe, zivilgesellschaftlich-demokratisches Handeln, diakonische Präsenz, Einstehen für die Benachteiligten, sich in die politischen Debatten verwickeln, mitten unter den Menschen sein. Lauter ziemlich irdische Anforderungen an das öffentliche Christsein mitten in der Welt.

Dagegen also diese erhabene Klosteratmosphäre auf dem Berg Athos: Viel mehr Himmel als Erde sozusagen – wie mir auf den ersten Blick erschien und das schiere Gegenteil von Weltverwickelung.

Aber das wollte ich nun doch genauer wissen: Und so habe ich nach allen Regeln der theologischen Kunst mit den Mönchen des Klosters das Gespräch gesucht. Höchst auskunfts- und gesprächs- und auch hörfähig waren der Abt und sein Stellvertreter, der wie aus dem Roman gefallene Verwalter der Klosterbibliothek, die Dienst tuenden Mönche. Getragen von einer, wie es mir schien, besonderen Form der Aufmerksamkeit, ausgestattet mit argumentativer Schärfe und augenzwinkerndem Witz und bei all dem von einer geradezu augenfällig klarsichtigen Demut.

Und mir ist sehr schnell klar geworden, dass diese Selbstpositionierung der Mönche gerade nicht als weltabgewandt verstanden werden will. Nicht nur, dass auf dem Berg Athos längst Formen ökologischer Nachhaltigkeit kultiviert werden, sei es durch eigene Stromerzeugung und Lebensmittelanbau, nicht nur, dass digitale Kommunikationsformen längst auch in diesen Klöstern Einzug gehalten haben.

Nein, die Klöster selbst sind in verschiedener Hinsicht Orte von erheblicher gesellschaftlicher, politischer und auch ökonomischer Macht. Dies mag man schon dadurch belegt finden, dass sie durch die Zeiten hindurch immer wieder auch Unterschlupf für Verfolgte geboten haben. Sie sind zudem wichtige Meinungsbildungsinstanzen in gesellschaftlichen Fragen – nota bene nicht immer zum Guten, aber eben wortmächtig und gestaltungsrelevant.

Und besonders eindrücklich kommt diese Machausübung in der mönchischen Kultur der stundenlangen Liturgie, des tiefen Betens für die Welt vor Augen – zwischen Himmel und Erde ist das tagtägliche, eindringliche Beten angesiedelt.

Diese Eindrücke haben sich in mir mit dem Predigttext für den heutigen Sonntag Rogate verwickelt. Mit den folgenden Worten gibt der Apostel Paulus durch seinen Schüler Timotheus der Gemeinde das Wesentliche mit auf den Weg:

1 Insbesondere bitte ich euch nun, vor Gott einzutreten für alle Menschen in Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung,

2 für die Könige und alle Amtsträger, damit wir ein ruhiges und gelassenes Leben führen können, fromm und von allen geachtet.

3 Das ist schön und gefällt Gott, unserem Retter,

4 der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

5 Einer nämlich ist Gott, einer auch ist Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus,

6 der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle – das Zeugnis zur rechten Zeit.

Die Mönche auf dem Berg des Petrus leben in diesem Zustand zwischen Himmel und Erde. Und sie leben dies unverkennbar durch eine permanent zum Vorschein kommende Lebenskunst des Gebets – nicht nur für die Welt, sondern ganz bewusst auch mit aller mitmenschlichen Aufmerksamkeit in der Welt.

Die Frage über diesem Sonntag „Gebet und Danksagung für alle Amtsträger“ – wer braucht das (noch)?“ wird von den Mönchen ganz selbstverständlich positiv beantwortet.

Aber wie ist das nun mit dem ja durchaus ambivalenten Machtraum, von dem ich anfangs gesprochen habe?

Interessanterweise setzt Paulus an das Ende seines Aufrufs an die christliche Gemeinde nicht den eigenen Machterweis oder die schiere politische Selbstproklamation. Sondern er verweist auf den Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle – das Zeugnis zur rechten Zeit.

Und dies kann man wiederum ins Bild setzen. Denn es zeigt sich an allen Stellen des Klosters ikonographisch, dass alles Beten ohne dieses Angesicht Christi nur steinernes

Gebilde wäre.

Und so ist dieser Ort zwischen Himmel und Erde bildlich, klanglich, durchtränkt und durchfärbt von dem segnenden Christus. Die eigentliche Macht liegt in der Gegenwart Jesu Christi an diesem Ort.

Kann eine solche machtvolle Christuspräsenz ein Vorbild für das heutige Christenleben sein – und auch für die Kirche und ihre Innovationsbestrebungen? Vielleicht ist es genau diese betende Verwicklung, auf die es ankommt –

und dabei machtvoll auszustrahlen, dass die Dinge eben nicht in der eigenen Macht liegen.

Die Verwicklung zwischen Himmel und Erde hat unterschiedliche Aktivitätsformen: Es geht um ein Handeln in der Welt sehr schön findet sich diese Haltung in der Darstellung des Heiligen Georg in der Theologischen Fakultät der Universität Thessaloniki. Interessant ist eben nicht nur die Darstellung des Drachentöters. Sondern die Darstellung im rechten Teil des Bildes zeigt, dass auch die weltlichen Gewalten, offenbar König und König, in ihrem exponierten Turm von dieser heiligen Macht profitieren.

Nun haben wir mindestens in mitteleuropäischen Gefilden seit langer Zeit und aus guten Gründen eine klare Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Macht entwickelt. Und niemand kann sich ernsthaft eine Rückkehr zu einem Gottesstaat welcher Art auch immer wünschen.

Zugleich finden immer wieder intensive Diskussionen darüber statt, welche Ressource der christliche Glaube für den säkularen Staat darstellen kann.

Tatsächlich war schon für die ersten christlichen Gemeinden in der Zeit des Paulus klar, dass man nicht einfach auf das angekündigte himmlische Jerusalem warten konnte, wenn es um die Frage des guten Lebens gehen sollte. Sondern dass man sehr klar entscheiden musste, welches innovative Profil man sich geben sollte. Denn die Gefahr, auf dem Markt der religiösen Konkurrenzen schlichtweg unterzugehen, war weiß Gott auch damals schon gegeben. Paulus spricht es immer wieder an: antik-weisheitliche Gnostik, Mythenerzähler, spekulative Deutung göttlicher Wesen.

Und so galt es schon für die damaligen Gemeinden, sich im Angesicht Christi ganz und gar in die irdischen Verhältnisse zu verwickeln. Und dies zeigte sich bereits darin, dass für die Welt und ihre Amtsträgerinnen und Amtsträger gebetet wird, und ja, auch Dank gesagt wird – zumindest dann, wenn es berechtigt ist.

Das Dankgebet ist ein aufmerksames und kritisches Gebet. Es geht nicht um die gläubige Legitimation vermeintlicher Alternativlosigkeit. Sondern das Gebet macht wach und lässt wach bleiben und lässt wach werden. Das Gebet hat eben auch machtbegrenzende, subtile Funktion – gerade dann, wenn die weltliche Macht meint, Glaube und Kirche für ihre eigenen Interessen gnadenlos funktionalisieren zu können – und dabei immer wahnsinnigere, himmelsstrotzende Machtzentralen erbaut werden.

Für Christenmenschen ist die Welt eben nicht egal. Die Welt ist aber auch nicht genug. Die Welt will und muss gerettet werden. Unsere Entwicklung nach innen und aussen lebt davon, dass Gott die Innovation zugetraut wird. Von ihm her fällt neues Licht auf die Verhältnisse. Sein Sohn Jesus Christus macht den Unterschied.

Unser Beten im Angesicht Jesu Christi ist unser Ort zwischen Himmel und Erde. Dieses kräftige und kritische Beten auch für alle Amtsträgerinnen und Amtsträger ist unser Beitrag zur Verwicklung Gottes in diese Welt. Amen.

Diese Predigt wurde gehalten in der Zürcher Kirche St. Peter am 14. Mai 2023.

de_DEDeutsch