1. Timotheus 3,16

1. Timotheus 3,16

 


Christvesper, 24. Dezember
2001
Predigt über 1. Timotheus 3,16, verfaßt von Dorothea Zager

Hilfen zum Text und zur Predigt

„Groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des
Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen
den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in
die Herrlichkeit.“

I. Das Geheimnis
Es wird uns immer ein Geheimnis bleiben, was in jener Nacht geschah, liebe
Gemeinde. Wer kam da zu uns, in dieser Nacht, die wir Weihnachten nennen?
Wer war er, dieses Kind im Stall? Wer war er dieser Wanderprediger aus
Galiläa? War er ein Mensch? War er Gott selbst? Wir wissen es nicht
wirklich.

Es wird uns immer ein Geheimnis bleiben, warum dieser Jesus dieses Leben
so und nicht anders gelebt hat. Warum diese Demut? Warum diese Dürftigkeit
der Geburt? Warum die Qual seines Leidens? Warum dieser Tod? Wir wissen
es nicht wirklich.

Es wird uns immer ein Geheimnis bleiben, was am Ostermorgen geschah und
warum noch immer – selbst nach 2001 Jahren – Menschen an ihn glauben,
zu ihm beten, ihr Leben nach ihm ausrichten. Wir wissen es nicht wirklich.

Und es wird uns immer ein Geheimnis bleiben, was es mit dieser merkwürdigen
Wiederkunft auf sich hat, auf die wir hoffen – oder die wir vielleicht
fürchten.

Volltönend beginnt der Lobgesang auf Christus im 1. Timotheusbrief
mit dem Jubel: „Jedermann muss es bekennen: Es ist ein großes
Geheimnis des Glaubens.“ Wir würden es heute vielleicht ein
wenig anders sagen, den Mund vielleicht nicht ganz so voll nehmen: Wir
müssen es bekennen, ja zugeben und anerkennen: Es ist wahrlich ein
großes Geheimnis um diesen Jesus! Viele Fragen um diesen Mann von
Nazareth. Und vieles verstehen wir nicht.

Einzig den Grund, warum dies alles geschah, den können wir
erkennen: Der Grund für all dieses Handeln Gottes ist die Liebe.

Christus kam, weil Gott es nicht mehr ertragen konnte, ja weil Gott
es auch nicht mehr dulden wollte, dass die Menschen sich so weit von Gott
und voneinander entfernt hatten. Da war Unglaube, der die Menschen von
Gott trennte. Da war Schuld, die die Menschen untereinander entzweite.
Da war Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, die die Menschen
stolz und zugleich einsam machte. Die Menschen glaubten, Gott nicht mehr
zu brauchen.

Und die wenigen, die diese Kluft zwischen Leben und Glauben, zwischen
Menschen und Gott erkannten und als schmerzlich empfanden, taten genau
das Falsche: Sie fingen an, sich zum Gottgehorsam zu zwingen. Sie erhoben
das Gesetz über die Menschlichkeit und das Recht über die Liebe.
Und so hofften sie, eine Brücke erzwingen zu können zu Gott,
durch Glaubensleistungen und unerbittlichen Rechtsspruch. Es ist ihnen
nicht gelungen, wie wir später aus so vielen Streitgesprächen
Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten entnehmen können.
Die Gesetzestreuen blieben Gott genauso fern wie die Gottlosen.

Da machte sich Gott selbst auf den Weg. Der Brückenschlag, der den
Menschen nicht gelingen wollte, ging jetzt von Gott aus. Gott kam zu den
Menschen. Wie es geschah, wird uns immer ein Geheimnis bleiben,
aber warum es geschah, das sagt uns das Neue Testament in jeder
seiner Zeilen. Es geschah aus Liebe: Also hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen eigenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren
werden, sondern das ewige Leben haben (Joh 3,16).

Liebe Gemeinde am Christfest, genauso geht es doch auch uns!
Es gibt ein Meer von Menschen, denen Gott und seine Kirche egal sind –
selbst an einem Abend wir heute. Da ist Unglaube und Desinteresse, die
viele Menschen unserer Zeit von Gott trennt. Da ist Schuld, die uns Menschen
untereinander entzweit. Da ist Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit,
die uns Menschen stolz und zugleich sehr einsam macht. Viele Menschen
glauben, Gott nicht mehr zu brauchen, mehr sogar als damals zur Zeit Jesu.

Und wir, die diese Kluft als schmerzlich empfinden? Tun wir das Richtige?
Sind wir werbende, freundliche, herzenswarme Christen, die wir durch unser
Handeln und durch unser Reden ein glaubhaftes Zeugnis ablegen von unserer
Liebe zu Gott? Das darf bezweifelt werden, Ihr Lieben. Es gelingt uns
nicht immer, gute Zeugen zu sein, und Brücken zu bauen zu denen,
die wir erreichen wollen!

Also auch uns – und das ist das Wunderbare und das Tröstliche an
der weihnachtlichen Botschaft – also auch uns gilt diese Entscheidung
Gottes: Wenn es uns Menschen es nicht gelingt, zu Gott zu kommen, dann
kommt Gott eben zu uns.

II. Die Menschwerdung
Es wird uns ein Geheimnis bleiben, wie es zugegangen ist, das Gott uns
in Jesus begegnet ist. Die einen mögen an eine Jungfrauengeburt glauben,
andere daran, Jesus sei sozusagen von Gott adoptiert worden in der Taufe;
es mögen noch so viele Menschen den Versuch unternehmen, das „Wie“
des Kommens Gottes in Christus zu erklären. Es wird uns immer unerklärlich
bleiben. Die Frage nach dem „Warum“ aber, die können wir
beantworten: Es ist die Liebe Gottes zu uns. Darum wendet er sich uns
zu. Damals in der Geburt Jesu, heute mit jedem Mal, wo uns dieses Kommen
verkündigt und gepredigt wird. Die Liebe Gottes kommt. Auch zu uns.
Auch zu mir. Auch zu einem jedem von Ihnen.

III. Die Rechtfertigung
Genauso wird es uns ein Geheimnis bleiben, wie es zugegangen ist, dass
dieser eine Mensch Jesus die Sündenvergebung hat Wahrheit werden
lassen. Wir wissen es: Durch seine Predigt, durch sein Handeln und durch
seinen Tod am Kreuz hat er Vergebung in die Tat umgesetzt und Menschen
bis auf den heutigen Tag von der Last der Gesetzlichkeit befreit. Jesus
sprach nicht nur von der Liebe zum Feind, und von der Seligkeit derer,
die barmherzig und friedfertig sind, sondern er setzte sie auch in die
Tat um: Er setzte sich auch tatsächlich mit denen an einen Tisch,
die wegen ihrer Fehler von anderen gemieden wurde. Er bewahrte die Frau
vor dem Tod durch Steinigung, die in den Augen der Gerechten des Todes
schuldig war. Er ließ Gelähmte vor Freude tanzen und Trauernde
wieder lachen. Er machte selbst am Sabbat Kranke gesund, obwohl man es
ihm verbieten wollte. Und er ließ Menschlichkeit vor Recht ergehen.
Bis auf den heutigen Tag vertrauen Menschen diesem Jesus ihre Schuld und
ihr Unvermögen an und wissen: Schuld ist vor Gott vergeben, Unvermögen
wandelt er in Kraft. „Wie“ ihm dies gelungen ist, wird uns immer
unerklärlich bleiben. Die Frage nach dem „Warum“ aber,
die können wir beantworten: Es ist die Liebe Gottes zu uns, die die
Befreiung von unserer Schuld möglich macht. Darum wendet er sich
uns zu. Damals in der Predigt und in den Taten Christi, heute mit jedem
Mal, wo wir von ihm in der Bibel lesen, in der Predigt von ihm hören,
im Abendmahl mit ihm Gemeinschaft haben. Die Vergebung der Schuld wird
wahr. Auch für uns. Auch für mich. Auch für jeden von Ihnen.

IV. Der Glaube
Es wird uns letztlich auch immer ein Geheimnis bleiben, wie es geschehen
konnte, dass die Predigt des zunächst so unscheinbaren Wanderpredigers
aus Nazareth um die Welt ging und seine Botschaft die Menschenherzen erreichte
von einem Ende der Erde bis zum anderen. Wie konnte es geschehen, dass
so viele Menschen an Jesus glaubten? Als einen Esel am Kreuz – so hatten
römische Steinzeichner Jesus in Karikaturen verhöhnt. Wie konnte
man nur an einen solchen schwachen Menschen glauben, der sich hinrichten
lässt und sich nicht wehrt?

Wir wissen nicht, wie es geschah, dass die Begeisterung für Jesu
Mission die Enttäuschung über seinen Tod überdauerte. Wir
wissen nicht, wie es möglich war, dass die Jünger ihre anfängliche
Furcht besiegten und wieder hinausgingen unter die Menschen, predigten,
bezeugten, Worte und Taten der Liebe vollbrachten. Wir wissen nicht, woher
auch später all die Menschen über Jahrhunderte hinweg die Kraft
hergenommen haben, für ihren Glauben einzustehen, für ihren
Glauben großartige Liebeswerke zu gründen, für ihren Glauben
notfalls in den Tod zu gehen. Auch hier ist die Frage nach dem „Wie“
nicht zu beantworten. Die Kraft und der Geist und die Unerschütterlichkeit
vieler, vieler mutiger und glaubwürdiger Christen bleibt uns unerklärlich.
Die Frage nach dem „Warum“ aber, die können wir beantworten:
Es ist wiederum die Liebe Gottes zu uns, die uns die Herzen öffnet
und uns glauben lässt. Uns. Mich. Jeden von Ihnen.

V. Die Vollendung
Letztendlich geht es uns genauso mit der Frage nach Jesu Wiederkunft und
den Fragen nach dem Weltende. Es wird uns immer ein Geheimnis bleiben,
wo Jesus jetzt eigentlich ist – ob der nach seiner Himmelfahrt den Engeln
erschienen ist, wie es der 1. Timotheusbrief vermutet, ob er irgendwo
in der Herrlichkeit Gottes auf seine Wiederkunft wartet. Wie und wann
er wiederkommt – alles das wird uns unerklärlich und unbeantwortet
bleiben. Die Frage nach dem „Warum“ aber, die können wir
beantworten: Gottes Liebe wird es nicht zulassen, dass unsere Welt und
unsere Menschheit untergeht, die von Jahr zu Jahr bedrohlicher am Abgrund
von Gewalt, Krieg und Terror entlang taumelt. Er, der diese Welt in Liebe
erschaffen hat, der den Regenbogen als Zeichen seiner Treue in die Wolken
gesetzt hat, der in seinem Sohn Jesus Christus mitten unter uns Menschen
gekommen ist, der wird – dessen bin ich mir ganz sicher! – unserer Erde
auch ein gutes Ende verleihen. Liebe Gemeinde, Jesu Liebe liegt tief in
unseren Herzen. Und wirkt dort, so wie sie schon seit 2000 Jahren in Menschenherzen
gewirkt hat und sie zu unzähligen kleinen und großen Taten
der Liebe angetrieben hat. Wohl den Menschen, der diese Liebe in sich
wach hält bis zum Ende.

VI. Das Geschenk Gottes
So ist es eigentlich – bei allen Geheimnissen, die Jesu Geburt, Jesu Lehren
und Wirken, seinen Tod und seine Auferstehung umgeben – bei all diesen
Geheimnissen eigentlich ganz einfach, ihm zu begegnen:

Wenn wir von seiner Liebe hören in einer Predigt,
wenn wir von seinen Liebesworten und seinen Liebestaten in der Bibel lesen,
oder wenn wir seine Liebe spüren in der Gemeinschaft mit anderen
Christen; dann begegnen wir ihm.
Wenn wir seine Liebe weitergeben, und im Schenken, im Lieben und im Verzeihen
selbst reich und glücklich werden, dann begegnen wir ihm.
Wenn wir lieben, wird unser Licht leuchten unter den Menschen, so wie
die hellen Kirchenfenster heute Abend tröstlich hinausleuchten in
unser Dorf (in unsere Stadt). Und man wird erkennen – ob man der Kirche
nun nahe steht oder nicht: Es wird immer ein Geheimnis bleiben, welchen
Weg und wohin unsere Kirche und unsere Welt noch gehen wird, was aber
diese große Christengemeinde zusammenhält seit so vielen Jahren
und auch heute am Vorabend des Christfestes 2001, das wird zu spüren
sein, überall, wo heute unsere Lieder klingen und unsere Glocken
zu hören sind: Gottes Liebe wird uns wieder neu geschenkt – heute
Abend und an jedem neuen Tag, der kommen wird.

Amen.

Lieder, die dem Christus-Hymnus inhaltlich entsprechen:
EG 3: Gott, heilger Schöpfer aller Stern
EG 5: Gottes Sohn ist kommen
EG 27: Lobt Gott, ihr Christen alle gleich
EG 36: Fröhlich soll mein Herze springen
EG 42: Dies ist der Tag, den Gott gemacht
EG 56: Weil Gott in tiefster Nacht erschienen

Verstehenshilfen zum Text
Der Christushymnus Tim 3,16 besteht aus sechs parallel gebauten Zeilen,
deren jede mit einem (im griechischen gleich auslautenden) Passiv beginnt,
das ein Handeln Gottes beschreibt. Je zwei Zeilen bilden ein Gegensatzpaar:
Fleisch – Geist; Engelmächte – Völker; Welt – Lichtglanz. Jedes
der drei Gegensatzpaare stellt Irdisches und Himmlisches einander gegenüber
und zwar in chiastischer Reihenfolge (Irdisches – Himmlisches; Himmlisches
– Irdisches; Irdisches – Himmlisches) Dadurch werden drei zeitlich aufeinanderfolgende
Vorgänge der Offenbarung Gottes in Jesus Christus in hymnischer Form
verherrlicht – entsprechend dem altorientalischen Zeremoniell bei der
Thronbesteigung des Königs: 1. der neue König erhält in
feierlicher Sinnbildhandlung göttliche Eigenschaft (Erhöhung);
2. der nunmehr vergottete König wird dem Kreis der Götter vorgestellt
(Präsentation); 3. danach erst wird ihm die Herrschaft übertragen
(Inthronisation).

Diesem Schema eines altorientalischen Thronbesteigungszeremoniells folgt
auch der Hymnus 1. Tim 3,16:
1. Die Erhöhung: Die Gemeinde bekennt sich zu Jesus Christus als
dem, der „im Fleisch offenbart“ und „im Geist gerechtfertigt“
wurde.
2. Die Präsentation vor der himmlischen und irdischen Welt: Die Engel
beten den zum Himmel auffahrenden an, was seine Entsprechung auf der Erde
findet in der Verkündigung des Evangeliums unter den Völkern.
3. Die Thronbesteigung: Die Thronbesteigung Christi umfasst Himmel und
Erde: Auf der Erde ergreifen die Menschen Christus im Glauben; im Himmel
wird Christus in die Herrlichkeit aufgenommen.
(vgl. JOACHIM JEREMIAS, Die Briefe Timotheus und Titus (NTD 4), Göttingen
1976, S. 27-29.)

Verstehenshilfen zum Aufbau der vorliegenden Predigt
Die inhaltliche Gliederung des Christushymnus‘ in 1. Tim. kann nicht ohne
Not streng homiletisch auf die Predigt übertragen werden. Darum habe
ich das erste Themenpaar „Menschwerdung“ und „Rechtfertigung“
auseinandergenommen und getrennt voneinander meditiert. Im Gegensatz dazu
habe ich die Erscheinung vor den Engeln, die Predigt und den Glauben gemeinsam
verhandelt und das letzte, eschatologische Thema für sich genommen.
M.E. kann nur auf diesem Wege dieser schwierige und gehaltvolle Hymnus
den Hörern/innen in der kurzen Zeitspanne einer Predigt nahegebracht
werden.

I. Das Geheimnis
Auslegung von „Groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis
des Glaubens.“
II. Die Menschwerdung
Auslegung von „Er ist offenbart im Fleisch“
III. Die Rechtfertigung
Auslegung von „gerechtfertigt im Geist“
IV. Der Glaube
Auslegung von „erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt
in der Welt“
V. Die Vollendung
Auslegung von „aufgenommen in die Herrlichkeit.“
VI. Das Geschenk Gottes
Bündelung der Gedanken

Dorothea Zager, Wachenheim
E-Mail: DWZager@t-online.de

 

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