Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

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Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


3. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juni 2002
Predigt über Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32, verfaßt von Dorothea
Zager


Und des HERRN Wort geschah zu mir:
Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: Die
Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne
davon stumpf geworden?
So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: dies Sprichwort soll nicht mehr
unter euch umgehen in Israel.
Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören
mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die
er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und
Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben.
Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht
werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen,
die er getan hat.
Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott
der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen
und am Leben bleibt?
Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht
und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am
Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht
gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die
er getan hat, soll er sterben.

I.
„Es war am 11. Mai 1945“ – so erzählt Helmut Gollwitzer,
einer der großen Männer unserer Kirche, „Es war am 11.
Mai 1945. Wir lagen auf einer böhmischen Wiese in der Maisonne, kauten
Grashalme und sprachen über die Zukunft. Die nähere Zukunft,
ob es uns wohl gelingen würde, noch über die Moldau zu kommen
und der Kriegsgefangenschaft zu entgehen, und die weitere Zukunft: was
aus Deutschland werden würde – also aus uns allen. Während wir
so redeten, erhob sich ein Feldwebel, ein großer kräftiger
Mann, der bisher schweigend dabei gesessen hatte, und ging über die
Wiese in den Wald. Gleich darauf hörten wir einen Schuss, und als
wir zu ihm liefen, fanden wir ihn schon nicht mehr lebend vor. Die Kameraden
von seiner Gruppe sagten, er habe bis zuletzt unbeirrt an den Führer
geglaubt und in den Tagen nach Hitlers Selbstmord immer nur gesagt: Lieber
tot, als Sklave. Hinter der Katastrophe gab es nichts mehr, was sich lohnte.“

Da gesteht ein Mensch einen Irrtum ein, ja viel mehr noch, liebe Gemeinde:
eine Lebens-Niederlage. Alles, vorauf er sich verlassen hatte, voran er
glaubt und sich orientiert hatte, bricht zusammen wie ein Kartenhaus.
Zurück bleibt das Wissen: schuldig geworden zu sein. Verwundet und
getötet zu haben auf Befehl eines Größenwahnsinnigen.
Dieser Feldwebel, liebe Gemeinde, konnte nicht anders mit seiner Schuld
umgehen, als den Tod zu suchen als Ende aller Qual und Schulderkenntnis.

II.
„Ich habe keinen Gefallen am Tod des Schuldigen“ spricht Gott,
der Herr, „Darum bekehrt Euch, wo werdet ihr leben.“ Diese Worte
sind nicht nur Kernsatz der Hesekielworte, sondern auch Kernsatz unseres
christlichen Glaubens: Gott will, dass wir umkehren. Er will eben nicht,
dass wir an unserer Schuld zerbrechen und zugrunde gehen.

Die Zeit, in der Hesekiel diese Worte gesagt hat, ist – wie vielleicht
manchen von Ihnen bekannt – die Zeit des babylonischen Exils. Die Menschen
sitzen in Babylonien und haben alles verloren. Heimat und Tempel. Eine
andere Zukunft gibt es für sie dort nicht, als Leben und Sterben
in einem fremden Land. Schon so lange sind sie dort, dass bereits eine
neue Generation herangewachsen ist, die in der Gefangenschaft geboren
wurde.

„Was können wir eigentlich dafür, dass unsere Väter
und Großväter Fehler gemacht haben!?“, klagt diese Generation
jetzt. „Da können wir doch nichts dafür!“ Hier gibt
es keine „Gnade der späten Geburt“ – im Gegenteil! Selbst
die späte Geburt bewahrt sie nicht vor Ungnade! „Die Väter
haben saure Trauben gegessen, aber unseren Kindern sind die Zähne
davon stumpf geworden.“ – das meint dieses Bild: Die Menschen der
zweiten Generation sitzen in Babylonien, klagen und warten auf das Sterben
und fühlen sich – vielleicht sogar zu recht?! – ungerecht behandelt.

In diese Zeit hinein, liebe Freunde, spricht Hesekiel. Und er widerspricht
denen, die klagen und sich selbst bemitleiden. „Gott will nicht,
dass Ihr untergeht. Gott will, dass Ihr lebt. Aber Ihr müsst umkehren.
Ihr müsst Einsicht zeigen. Nur dann werdet Ihr leben!“

Einsicht zeigen? Schuld erkennen? Waren es nicht die Altvorderen, die
gesündigt hatten? Wir? Wir machen doch gar nichts falsch! – So oder
anders werden die Klagenden auf Hesekiels Anspruch reagiert haben. Was
soll denn das heißen: Kehrt um! Sind wir denn überhaupt auf
dem falschen Weg?

Hesekiel meint viel mehr als nur die „Schuld der Väter“.
Schuld heißt: Gottes Willen in dieser Welt zu ignorieren. Und sich
damit vom ihm und vom Mitmenschen zu entfernen.
Und Umkehr heißt: Das Gegenteil zu tun, nämlich Gottes Willen
in dieser Welt zu verwirklichen.

Und das gilt für alle, für die Väter wie für die
Kinder, für die Generation vor dem Exil wie für die in Gefangenschaft
geborenen, für die Juden der damaligen Zeit genauso wie für
uns heute!

III.
Und genau an diesem Punkt, liebe Freunde, wage ich den Sprung in unser
Heute, in unsere eigene Lebenswirklichkeit:
Wissen wir denn eigentlich, was Schuld ist?
Merken wir, wenn wir schuldig werden?
Was ist mir denn überhaupt Richtschnur bei dem, was ich tue?
Was entscheidet darüber, ob mein Handeln gut oder schlecht ist??
Grundsätzlich, liebe Freunde, gibt es ja zwei Möglichkeiten,
Schuld zu erfahren: Entweder, wir machen selbst einen Fehler und tun anderen
damit weh, oder wir erleben es andersherum, dass andere uns wehtun und
an uns schuldig werden. Beides geschieht täglich. Und beides macht
uns zu schaffen.

IIIa.
Beginnen wir mit dem ersten.
Ich selbst bin schuldig geworden.
Ich habe jemandem nicht geholfen, als er mich um Hilfe gebeten hatte.
Ich habe jemanden nicht besucht, obwohl ich wusste, dass er sich einsam
fühlte.
Ich bin meinen Kindern Zuneigung schuldig geblieben, hatte zuwenig Zeit
für sie und zuwenig Interesse an dem, was sie beschäftigte.
Ich habe meinem Partner wehgetan mit Ungeduld oder grundloser Eifersucht,
mit Misstrauen oder mit Gleichgültigkeit.
Ich habe Worte gesagt, die unwahr waren, Urteile gefällt, die bösartig
waren, und die jetzt nicht mehr zurückzuholen sind.

Liebe Freunde, wir tragen oft schwerer an so etwas, als wir zugeben
wollen. Wir liegen wach am Abend im Bett, und es lässt uns keine
Ruhe. Wir können es nicht mehr gut machen. Der Partner ist in beredtes
Schweigen verfallen. Der Freund trägt mir mein Fehlverhalten nach.
Meine Bekannten sprechen über die Sache. Da helfen weder Baldrian
noch Entspannungsbäder – Schuld ist ein raues Ruhekissen. Und dass
dieser Fehler nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, raubt uns den Schlaf.

Jedem, der das kennt, liebe Gemeinde, sei gesagt:
Wer bereut, dem wird verziehen.

Denn Gott hat keinen Gefallen am Untergang des Schuldigen, sondern will,
dass wir leben. Als Christen wissen wir um die Schuldvergebung, wissen
wir von der Liebe Gottes und seiner Gnade, die uns Jesus geschenkt hat.
Und daran sollen wir uns erinnern in solchen Momenten – abends im Bett,
wenn uns die Schuld keine Ruhe lässt:
Ist Gott für uns für uns, wer kann wider uns sein? Der auch
seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns
alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer
will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht
macht.

Liebe Gemeinde, darauf dürfen wir uns berufen, daran dürfen
wir uns ganz festhalten: Gott hat uns vergeben. Gott hat uns freigesprochen.
Was also können mir Menschen tun? Wenn sie auch reden und mich verurteilen:
Ich weiß, dass Gott mich liebt, und ich werde einen neuen Anfang
machen. Diese neue Freiheit eines Christenmenschen, der weiß, dass
ihm seine Schuld vergeben ist, hat nichts zu tun mit Hochmut und Stolz.
Im Gegenteil: diese neue Freiheit, die in der Demut des Bekennens beginnt,
mündet in das Gefühl der Geborgenheit in Gottes Gnade.

IIIb.
Nun gibt es aber noch eine zweite Art, Schuld zu erleben, dann nämlich,
wenn wir selbst die Leidtragenden sind:
Mir selbst ist wehgetan worden.

Wie gehe ich als Christ damit um?

Ein guter Freund, dem ich vertraut hatte, hat mich enttäuscht.
Ich habe jemandem etwas anvertraut unter dem Siegel der Verschwiegenheit,
und höre: Er hat mein Vertrauen missbraucht. Meine Eingeständnisse
kommen mir plötzlich von Dritten zu Ohren.
Ich habe um Hilfe gebeten, aber ich bin allein gelassen worden.
Ich habe meinem Partner mein ganzes Leben gewidmet und viel Kraft und
Liebe in unsere Beziehung investiert – und nun ist er gegangen. Und ich
bin allein.
Über solchen Erfahrungen liegt man zwar keine Nächte wach, aber
– viel schlimmer noch – man trägt sie tagtäglich wie eine stumme,
schwere Last mit sich herum. Ein Schmerz, eine Enttäuschung, der
nicht mehr aufhören will. Und in ganz schwachen Stunden wünscht
man, dem, der uns wehgetan hat, das Schlimmste an den Hals.
„Ich habe kein Gefallen am Untergang des Schuldigen, spricht Gott,
darum bekehrt Euch, so werdet ihr leben.“

Jetzt sind also wir dran, selbst zu Vergebenden zu werden.

Liebe Gemeinde, niemand – auch Gott nicht – erwartet von uns, dass wir
Menschen vergeben, die nicht im Geringsten bereit sind, ihre Fehler einzugestehen.
Christ sein heißt nicht: fünf gerade sein zu lassen und alle
Demütigungen klaglos hinzunehmen. Im Gegenteil: Es ist gerade unsere
Aufgabe als Christen, dass wir uns gegenseitig liebevoll aber auch bestimmt
auf Fehlentscheidungen und schuldiges Verhalten hinweisen.

Wenn aber einer eingesehen und bereut hat, wenn einer zur Umkehr bereit
ist und mit seinem Gott ins Reine gekommen ist, haben wir kein Recht mehr,
ihn weiterhin zu verurteilen.

Wenn Gott Schuld vergibt, dürfen auch wir sie nicht mehr nachtragen.
Auch wir müssen dann zu Vergebenden werden – auch wenn das oft unglaublich
schwer fällt, liebe Gemeinde. Nicht umsonst essen wir beim Abendmahl
von einem Brot und trinken wir aus einem Kelch! Es geht
beim Abendmahl nämlich nicht nur um die Vergebung unserer Schuld
durch Gott, sondern auch um unsere Gemeinschaft – d.h. um unsere Bereitschaft,
uns auch gegenseitig zu verzeihen.

Auch wenn es uns schwer fällt, sollten wir es dennoch versuchen:
– dem Freund, der uns enttäuscht hat, vorsichtig wieder neues Vertrauen
zu schenken,
– dem Menschen, der schlecht über mich gesprochen hat, wieder die
Hand zu reichen,
– dem Nachbarn, der mir nicht geholfen hat, erneut um Hilfe zu bitten,
– dem Partner, der mich allein gelassen hat, ohne Bitterkeit seine Freiheit
zurückzugeben.
Wer weiß, liebe Gemeinde, ob nicht wir es in Kürze selbst sind,
die die Gnade Gottes wieder brauchen und die Vergebung der anderen?

Wohl dem, der dann die 5. Bitte des Vaterunsers mit Überzeugung
und Wahrhaftigkeit aufsprechen kann: „Vergib mir meine Schuld – so
wie ich auch meinen Schuldigern vergeben habe.“

Amen.

Dorothea Zager, Wachenheim
E-Mail: DWZager@t-online.de

Vorschläge zur Liturgie:
WOCHENSPRUCH
Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren
ist. (Lk 19,10)
EINGANGSLIED
EG 409,1-8: Gott liebt diese Welt
EG 274,1-5: Der Herr ist mein getreuer Hirt
EINGANGSWORT
Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht
der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides; daß ich euch
gebe das Ende, des ihr wartet.
Ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch
erhören.
Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen
suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr.
(Jer 29,11-14a)
SCHRIFTLESUNG
Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,1-10)
WOCHENLIED
EG 353,1-4: Jesus nimmt die Sünder an
LIED NACH DER PREDIGT
EG 234: So wahr ich leben, spricht dein Gott
EG 615: Kehret um
EG 612,1-3: Fürchte dich nicht
SCHLUSSLIED
EG 355,1+3+5: Mir ist Erbarmung widerfahren

 

 

 

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