Jesaja 40, 26 – 31

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Jesaja 40, 26 – 31

 


Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern),
7. April 2002
Jesaja 40, 26 – 31, verfaßt von Ulrich Braun


Predigttext: Jesaja 40, 26-31

Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen?
Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen;
seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen
fehlt.
Warum sprichst du denn, Jakob, und du Israel sagst: „Mein Weg ist
dem Herrn verborgen, und mein recht geht vor meinem Gott vorüber“?
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott,
der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt,
sein Verstand ist unausforschlich.
Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.
Männer werden müde und matt, Jünglinge straucheln und fallen;
aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren
mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass
sie wandeln und nicht müde werden.

Liebe Gemeinde!

Ermutigung kann man immer brauchen. Ob man sie auch immer nutzen, also
sie sich zugänglich, nutzbar und nützlich machen kann, ist eine
andere Frage. Der Jesaja-Text will Trost und Ermutigung sein. Zugleich
ruft er die Bilder aus Nablus, Ramallah und Bethlehem auf. Bewaffnete
und Unbewaffnete in der Geburtskirche eingeschlossen und verschanzt, Panzer
in den palästinensischen Autonomiegebieten und immer wieder solche,
die irgendwen mehr hassen, als sie das Leben lieben können. Ganz
von allein stellen sich die Abnutzungs – und Ermüdungseffekte ein,
über die der unbekannte Prophet, den wir als zweiten Jesaja kennen,
doch gerade hinausführen will.

Unser zweiter Jesaja hat gegen die Abnutzungs- und Ermüdungseffekte
seiner Zeit eine eigene Strategie entwickelt. Er erzählt von dem
Schöpfergott, der doch die Enden der Welt geformt, der das Volk Israel
aus Ägypten geführt und überhaupt erst zu einem Volk gemacht,
der dem David ein eigenes Reich gegeben und ihm schließlich verheißen
hat, dass es Bestand haben soll. Dann wartet er gewissermaßen darauf,
welche Effekte die alten Motive und deren neue Kombination in der verfahrenen
Lage nach dem Zusammenbruch und im Exil hervorbringt.

Manchmal sind solche Umwege nötig. Manchmal muss man ein paar Schritte
zurücktreten, um einen neuen Blickwinkel zu gewinnen. 500 Jahre liegt
für Jesaja die Davidzeit zurück, 1000 Jahre und mehr der Auszug
aus Ägypten, nach damaliger Überzeugung etwa 2500 Jahre die
Schöpfung. Das Ergebnis lässt sich sehen. In den großen
Strom von Schöpfung, Geschichte und Heilsgeschichte eingeordnet,
verliert die eigene Situation ihre schiere Ausweglosigkeit. Jesaja lässt
seine Verse in die Verheißung münden, dass dem Müden neue
Kraft und dem Unvermögenden ungeahnte Stärke zuströmen
sollen.

Nur eine Woche nach Ostern ist es allemal den Versuch wert, eigene Haken
durch Geschichte und Heilsgeschichte zu schlagen, um nicht vor den aktuellen
Bildern und Ereignissen einzuknicken.

Ein Blick in den Predigttext belehrt uns über die Wurzel allen Übels:
Es sind die Männer, die jungen zumal. „Männer werden müde
und matt, und Jünglinge straucheln und fallen.“ Ganz ohne Wahrheit
ist diese Analyse ja nicht. Im Nahen Osten ist es die Verbohrtheit alter
Männer, die jeden Lösungsversuch blockiert. Und es ist der blödsinnige
Opfermut und die pubertäre Verführbarkeit der Jünglinge,
die für den notwendigen täglichen Blutzoll sorgen.

Sind die Männer das Problem, und die jungen zumal, dann sind es
im Umkehrschluss die Frauen, auf die Jesaja seine Hoffnungen setzen müsste,
natürlich allen voran die älteren unter ihnen.

Für den Moment also dürfen sich die Damen unter Ihnen etwas
aufrechter setzen. Denn auf Sie liefen so gesehen die Verse zu: Die auf
den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln
wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und
nicht müde werden.

Diese Jesaja-Auslegung balanciert zugegebenermaßen hart auf der
Grenze der Seriosität. Und wenn sie sich wohl auch nicht wird halten
lassen, führt sie doch für’s erste ein, warum ich Ihnen an dieser
Stelle von meiner Tante Lilly erzählen will.

Tante Lilly lebte in Berlin, und ob sie wirklich meine Tante war, könnte
ich nicht beschwören. Wenn, dann war sie auf eine weitverzweigte
und völlig unübersichtliche Weise verwandt. Zu meinen wenigen
Erinnerungen an diese beängstigend hagere Frau gehört ihre Redewendung:
„Is det ulkig!“ Damit hat sie nahzu die gesamte Unterhaltung
bei meiner Konfirmation bestritten.

Tante Lilly lebte in Berlin-Willmersdorf in der Sieglindestraße
in einem typischen Altbau: hohe Räume, hohe Treppen, dunkle schwere
Möbel mitten aus der Kaiserzeit. Irgendwo in dieser Kaiserzeit musste
sie auch geboren worden sein. Als Kind war mir nur soviel klar: es war
in grauer Vorzeit, als die Welt noch schwarz-weiß mit einem deutlichen
Stich ins bräunliche aussah.

Tante Lilly war nie verheiratet, und wenn sie überhaupt Verwandte
hatte, dann waren das wir. Sie hatte das Kaiserreich niedergehen sehen
und erlebt, wie die geschlagenen Soldaten des ersten Weltkriegs wiederkamen.
Sie hatte für sich selber sorgen gelernt und war durch die Weimarer
Republik gekommen. Irgendwie hatte sie in der Zeit der großen Geldentwertung
ihre sieben Sachen beisammen gehalten und wohl schon mit der ihr später
eigenen Distanz die Aufmärsche der Kommunisten und der Nationalsozialisten
beobachtet.

Wenn wild entschlossene Männer durch Sieglindestraße marschierten,
alle mit roten Fahnen, die einen mit, die anderen ohne Hakenkreuz, stand
sie am Fenster und rief den Freundinnen der Teerunde zu: „Kiekt mal,
is det ulkig!“

Det hörte bald auf, ulkig zu sein. Die einen Fahnen wurden verboten,
die anderen musste jeder in der Sieglindestraße haben und zu den
entsprechenden Gelegenheiten aus dem Fenster hängen. Tante Lilly
sah den Reichstag abbrennen, die große Propagandashow der olympischen
Spiele 1936 und trat, als sie aufgefordert wurde, sich nationalsozialistisch
zu engagieren dem deutschen Kraftfahrer-Corps bei. Bis zu ihrem Tod vor
drei Jahren hat sie nie einen Führerschein besessen.

Sie sah, wie für einige Nachbarn Uniformen zur normalen Kleidung
und zum Zeichen politischen Aufstiegs wurden. Dadurch, dass einer von
ihnen breitbeinig vor dem Geschäft an der Ecke aufgebaut stand, erfuhr
sie, dass der Gemüsehändler Jude war. Nach dem Synagogenbrand
verschwand der über Nacht. Wie der Kinderarzt aus dem Nachbarhaus
soll er nach Amerika ausgewandert sein.

Tante Lilly war nicht mehr jung, als sie Nacht für Nacht die Kinder
der Nachbarn in den Keller tragen half. Männer waren selten geworden
in der Nachbarschaft, und wie die anderen Frauen übernahm sie zusätzliche
Aufgaben.

Das Haus in der Sieglindestraße wurde nicht von Fliegerbomben getroffen.
Da aber das Nachbarhaus komplett zerstört wurde, fehlte eine Seitenwand.
Nicht an Tante Lillys Wohnung, sondern an den Wohnungen auf der anderen
Seite. Lampe, Tischchen, Sofa und die Anrichte mit dem Volksempfänger,
alles stand offen da wie bei einem Puppenhaus.

Später erzählte Tante Lilly, es sei irgendwie „ulkig“
gewesen, dass ausgerechnet die Frau, die bei Goebbels berühmt-berüchtigter
Sportpalast-Rede für den „totalen Krieg“ geschrien hatte,
dann bei ihr um Unterschlupf bitten musste. Durch die fehlende Wohnzimmerwand
sei der wohl die Lust auf den totalen Krieg ziemlich abgekühlt. So
zugig habe sie sich die Sache anscheinend nicht vorgestellt.

In der Wohnung, die immer mehr als reichlich gewesen war, wurde es eng.
Mehrere Nachbarfamilien zogen mit ein. Zwei fünfzehnjährige
Jungen stahlen sich in der zweiten Nacht davon. Sie wollten sich freiwillig
für die Verteidigung Berlins melden und dem Russen zeigen, was eine
Harke ist, schrieben sie in ihrem Abschiedsbrief. Irgendwie hat das mit
der Harke nicht so richtig funktioniert. Beide kehrten nicht mehr zurück.

Und dann schlug – wie soll man sagen? – Tante Lillys große Stunde.
Niemand hätte gedacht, dass das etwas sonderbare und inzwischen unbestimmbar
ältliche Fräulein Kunitz überhaupt eine Kittelschürze
besaß. Mit eben dieser und einem Tuch um die Haare machte sie sich
daran, die Aufräumarbeiten in der Sieglindestraße zu koordinieren.
Sie stellte Pläne auf, teilte Dienste ein und bestimmte, wo der gesammelte
Schutt abzuladen sei. Sie organisierte den Abtransport und sorgte für
eine halbwegs gerechte Verteilung der Lebensmittel.

Über etliche Jahre hat sie von morgens bis abends Trümmergrundstücke
geräumt. Der Elan derer, die ein tausendjähriges Reich hatten
bauen wollen, war nach nur für zwölf Jahre erschöpft. Aber
er hatte genügt, die Sieglindestraße und Straßenzug um
Straßenzug, soweit das Auge reichte, in Schutt und Asche zu legen.
Während in den zwölf tausendjährigen Jahren alles und jedes
zur großen Tat am Volkskörper emporgelobt wurde, galt es jetzt
einfach Tag um Tag Eimer und Wannen zu füllen, die brauchbaren Steine
und Ziegel von den zertrümmerten zu trennen und einer zertrümmerten
Welt wieder Lebensmöglichkeiten abzutrotzen.

Diese Trümmerfrauen sehe ich vor mir, wenn ich Jesajas Vers lese
und höre: Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie
auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.

Später dann hat Tante Lilly erst meine Mutter und dann meine Großmutter
aufgenommen, als die über Ostberlin in den Westen kamen. Vielleicht
wird ein Mensch, wenn er so viel Dinge kommen und gehen sieht, so wie
meine Berliner Tante Lilly: „Is det ulkig“, klingt mir immer
im Ohr, wenn ich an sie denke. Und sie meinte damit besonders gern Dinge,
die andere unendlich schwer und wichtig nehmen konnten.

Woher jemand in den entscheidenden Momenten die notwendige Kraft bekommt?
Ich kann es nicht sagen. Es scheint aber hilfreich zu sein, die Kräfte
nicht unnütz zu vergeuden. Wenn man einmal bedenkt, wieviel Energie
es kostet, zu hassen. Das ist ein gewaltiger Aufwand, für jemanden,
den man doch eigentlich gar nicht leiden kann.

Frauen wie Tante Lilly werden die Trümmer aufräumen müssen,
die allenthalben entstehen. Sie werden die Toten bergen, den Schutt sortieren
und einer zertrümmerten Welt wieder Lebensmöglichkeiten abringen.

So wird es sein. Nichts anderes sagt Jesajas Verheißung. So gesehen
ist sogar der kleine Vers schon eine Verheißung: „Männer
werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen.“
Jede Verbohrtheit muss einmal an Erschöpfung zugrunde gehen, jeder
Fanatismus verbraucht einfach zu viel Energie, um ewig währen zu
können.

Um meiner selbst und um einer halbwegs seriösen Auslegung Jesajas
willen soll nun aber Schluss damit sein, die Männer als Wurzel allen
Übels zu beschreiben. Jesaja hatte ja nicht die Trümmerfrauen
im Sinn, die zur Tat schreiten, nachdem die Männer sich ausgetobt
haben. Gerade die Müden sollen neue Kraft finden und die Gestrauchelten
sollen wieder auf die Füße kommen. Und nirgendwo steht geschrieben,
dass erst alles in Schutt und Asche gelegt werden muss, bevor es so weit
sein soll.

Der Gott, der aus dem Chaos eine bewohnbare Welt geschaffen hat, der
wird dem Menschen auch Kräfte zuwachsen lassen, eine aus Hass und
Zerstörung verwüstete Welt wieder bewohnbar zu machen. Aber
es wird Menschen wie meiner Tante Lilly ungleich leichter fallen, Wunden
zu verbinden, Hass zu verwandeln und Trümmer zu beseitigen, je früher
dem Kreislauf von Erniedrigung, Gewalt und Tod Einhalt geboten wird.

Amen

Pastor Ulrich Braun
eMail: Ulrich.F.Braun@t-online.de

 

 

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