1. Timotheus 4, 4–5

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1. Timotheus 4, 4–5

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


15. Sonntag nach Trinitatis / Erntedank, 1. Oktober
2000

Predigt über 1. Timotheus 4, 4–5,

verfaßt von Hans–Gottlieb Wesenick


Alles,
was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit
Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und
Gebet.

Liebe Gemeinde,

wir feiern heute Erntedankfest. Viele von Ihnen
sind mit dankerfülltem Herzen hierher gekommen. Aber nicht alle sind in
gleichem Maße dankbar gestimmt. Bei manchen stehen unüberhörbar
Fragen nach dem Sinn dessen im Vordergrund, was gerade sie erlebt haben und was
sie bedrückt. Ihnen fällt es schwer, dem standzuhalten, was ihren
Lebensweg verändert hat oder möglicherweise demnächst
verändern könnte. Das kann schmerzhaft sein. Das kann Angst machen.
Aber ausgehaltene Angst und durchlebter Schmerz sind nicht nur Auswege aus
stark empfundener Sinnlosigkeit eines Menschenlebens, sondern sie können
auch zu Meilensteinen auf dem Weg in die Dankbarkeit werden. Danken können
braucht Zeit. Die wollen wir uns gegenseitig einräumen.

Denn – ich spreche es noch einmal deutlich
aus – heute ist Erntedankfest. Wir wollen also versuchen, diesen Tag
anzunehmen und zu bedenken, denn damit sind wir Gott auf der Spur. Ein Theologe
unserer Tage hat das einmal so formuliert: „Auf den Gesang eines Vogels
will ich hören. Auf kleine alltägliche Dinge will ich achten: auf
hungrige Tiere im Winter, auf Pflanzen und auf Blumen, auf die Luft, von der
ich lebe, auf das Wasser, das immer für mich da ist. Ich möchte
bescheidener sein und lernen, mit anderen zu teilen: Brot und Wein, die
Früchte der Erde, mein Leben.“

Zu solch einem Entschluß möchte das
Erntedankfest auch uns führen. Es erinnert uns daran, daß es an
jedem Tag des Jahres immer auf’s neue viele Gründe zum Danken gibt:

  • zum Danken für unser tägliches
    Brot und alles, was damit zusammenhängt – daß wir das alles
    tatsächlich Tag für Tag bekommen und empfangen und genießen
    dürfen;
  • zum Danken für die Menschen, denen wir
    wiederum das tägliche Brot verdanken, von denen wir es empfangen, die es
    durch ihre Arbeit gewonnen, zubereitet, verteilt haben.

Denken wir darüber nur einen kurzen
Augenblick lang nach, dann haben wir diese Menschen sofort vor Augen: die
Landwirte, deren Beruf es ist, zu säen und zu pflanzen, zu pflegen und zu
ernten, was auf den Feldern wachsen kann, die Geflügel, Schweine und
Rinder aufziehen und füttern, von deren Fleisch wir leben. Vor Augen haben
wir auch all die Menschen in den Genossenschaften und Handelsorganisationen,
die für die Sammlung und Verteilung dieser Lebensmittel sorgen, ferner all
die Menschen auf Märkten und in den Geschäften, bei denen wir kaufen,
was wir brauchen. Wir denken an die Schlachter und Bäcker, an die Arbeiter
in den Molkereien und Lebensmittelfabriken, an die Fahrer der Lieferwagen, und
wir denken an unsere Hausfrauen, an unsere Mütter, an die Mitarbeiter in
den Großküchen und Gaststätten, an all die Menschen, die
einkaufen, nach Hause schleppen, zubereiten und austeilen, was wir Tag für
Tag als unser tägliches Brot verzehren. Sie und noch viel mehr Menschen,
die ich hier nicht alle nennen kann, lassen durch ihre Hände die guten
Gaben Gottes gehen, von denen wir Tag für Tag nehmen – ganz
selbstverständlich.

Heute wird hier am Altar – ebenso wie in
vielen anderen Kirchen – in überreicher Fülle beispielhaft
ausgebreitet, was uns an solch täglichem Brot in diesem Jahr wieder
zugewachsen ist. Wenn wir das betrachten und uns daran freuen, dann haben wir
konkret vor Augen, wofür wir Gott unseren Dank sagen wollen und
können. Denn das müssen wir doch alle mit Dankbarkeit feststellen: es
ist, alles in allem, ein gutes Jahr geworden. Gewiß, gegen Ende des
Frühjahrs war es sehr trocken, und in der normalen Erntezeit gab es viele
Regentage. Nicht alles Getreide konnte zu bester Qualität reifen. Einiges
mußte vor der Zeit eingebracht oder aufwendig nachgetrocknet werden. Aber
die Hackfrüchte sind gut, Kartoffeln gibt es reichlich in guter
Qualität. Ihre Preise sind nicht in den Keller gerutscht, und auch die
Schweine bringen wieder Geld. Die Beerenobsternte war vorzüglich, und auch
die Obstbäume hängen voller Früchte. Ja, es ist ein gutes
Erntejahr.

Und ich hoffe, wir begreifen alle, daß
und wie wieder einmal für uns gesorgt ist von dem Schöpfer und Geber
all dieser Gaben und durch ihn von all den Menschen, die mit ihrer Arbeit an
diesem Segen beteiligt sind. Da können wir doch wirklich nichts anderes
tun als Gott mit Herzen, Mund und Händen zu danken – auch und gerade
dann, wenn wir wissen, daß moderne Landwirtschaft keine Idylle ist,
sondern ihre handfesten Probleme hat. Die sollen nicht beiseite geschoben oder
verharmlost werden, nein, gewiß nicht. Aber ich meine, am Erntedankfest
stehen nicht sie im Mittelpunkt, sondern heute ist unser Hauptthema der Dank,
zu dem wir trotzdem allen Anlaß haben.

Freilich ist dies Wörtchen
„Danke!“ auch ein recht schweres Wort. Es geht dabei ja nicht nur um
das „Danke!“–Sagen, sondern auch immer zugleich um das
„Danke!“–Denken und das „Danke!“–Fühlen.
Solche den ganzen Menschen erfüllende Dankbarkeit ist offenbar eine
schwere Kunst geworden, und viele haben sie fast verlernt. Dabei ist es doch
so: wenn wir die Dankbarkeit verlernt haben, dann nehmen wir unserem Leben jede
Freude und Farbe. Es erscheint uns dann nur noch grau in grau, als ewiges
Einerlei, als Schuften und Rackern für nichts und wieder nichts.

Demgegenüber möchte uns das Bibelwort
aus dem 1. Timotheusbrief jedenfalls eine andere Art zeigen, zu leben und zu
danken: „Alles was Gott geschaffen hat ist gut, und nichts ist
verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.“

Fantasie und Liebe, Augen, Ohren und alle Sinne
zu wecken für das scheinbar Selbstverständliche, das so
Alltägliche, das kann unser Leben bunter, schöner, reicher und
glücklicher machen, auch wenn es äußerlich zu den immer
gleichen und zuweilen sogar zu bescheideneren Bedingungen verläuft als
zuvor einmal. Aber wenn wir versuchen, künftig bei dem, wovon wir
täglich leben, bewußt auf das zu achten, was im Grund
großartig und ein unwahrscheinliches Geschenk unseres Gottes an jeden von
uns persönlich ist, dann können wir die Dankbarkeit auch wieder
lernen. An solcher Dankbarkeit nämlich kann unsere Seele aufatmen. Da
können ihr Kräfte zufließen, mit denen sie auch die schweren
und bitteren Tage zu bestehen vermag, jene Tage, die Enttäuschungen und
Fehlschläge bringen und uns deshalb zuweilen Mut und Zuversicht zu rauben
drohen. Nein, wer danken kann, der stöhnt weniger. Wer danken kann, dem
werden Lasten leichter.

„Alles, was Gott geschaffen hat, ist
gut“
– wenn es dankbar empfangen wird. Unsere Bereitschaft zur
Dankbarkeit kann zum Maßstab für unser Leben und seine Qualität
werden:

  • Nicht was wir arbeiten und wie groß
    unsere Erfolge dabei sind, sondern ob wir dankbar für unsere Arbeit und
    unsere Erfolge sind, ist für unser Glück entscheidend.
  • Nicht wie gesund und leistungsfähig wir
    sind und was wir damit zuwege bringen, sondern ob wir dankbar sind für
    unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit, die Gott uns schenkt, ist
    für unser Glück entscheidend.
  • Nicht wie tüchtig unsere Kinder sind,
    welche Zensuren sie nach Hause bringen und wozu, ist entscheidend, sondern
    daß sie unbeschwert leben und lernen können und ob wir Gott
    dafür danken, daß er uns diese Kinder anvertraut hat.
  • Nicht wie groß und wie gut die Ernte
    ist, die wir in diesem Jahr eingebracht haben, sondern wie groß unsere
    Dankbarkeit gegenüber dem Geber dieser guten Gaben ist, hat die
    größte Bedeutung.
  • Nicht was auf dem Tisch steht, an dem wir
    essen und trinken, ist wesentlich, sondern mit welcher Einstellung wir uns
    miteinander zu Tisch setzen: Können wir dankbar sein und uns freuen,
    daß wir wieder einmal satt werden dürfen? Dankbar, daß wir
    beieinander sein können um diesen Tisch herum, miteinander reden, uns
    aussprechen können? Dankbar also auch für die Menschen, die Gott uns
    in Familie und Freundschaft mit auf den Weg geschickt hat? Viele Mitmenschen
    müssen jede Mahlzeit tagaus tagein allein einnehmen, ohne familiäre
    Gemeinschaft, ohne Gesprächspartner.

„Alles, was Gott geschaffen hat, ist
gut. Und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird! Denn es
wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“

„Geheiligt“ – das meint: gut,
wertvoll, Leben schaffend und erhaltend, von Gott gesegnet und darum heilsam,
wohltuend, hilfreich. Mit viel so „Geheiligtem“ beschenkt uns Gott
Tag für Tag. Aber verstehen und genießen können wir’s
erst, wenn wir es als sein gutes Reden und Tun „mit Danksagung“
entdecken und empfangen. Darum ist es wichtig, daß wir die Kunst des
Dankens wieder lernen, diese schwere, manchem peinliche, manchem entbehrliche,
von manchem vergessene Kunst. Stück für Stück müssen wir
sie neu lernen, vielleicht zunächst nur im Stillen, vielleicht eines Tages
doch wieder mit gefalteten Händen, wenn wir uns zu Tisch setzen und
entschlossen wieder mit dem Tischgebet beginnen, das lange Zeit vergessen oder
verdrängt war.

„Auf den Gesang eines Vogels will ich
hören. Auf kleine alltägliche Dinge will ich achten: auf hungrige
Tiere im Winter, auf Pflanzen und Blumen; auf die Luft, von der ich lebe, auf
das Wasser, das immer für mich da ist. Ich möchte bescheidener sein
und lernen, mit anderen zu teilen: Brot und Wein, die Früchte der Erde,
mein Leben.“

„Teilen“, liebe Gemeinde, das ist das
Zweite, wozu uns das Erntedankfest auffordert. „Danken“ und
„Teilen“ gehören zusammen. Beides möchte unser Leben bunter
und reicher machen, Vieles teilen wir ohnehin, auch ohne daran zu denken: die
Luft zum Atmen, die wärmende Sonne, das Wasser, das wir trinken oder mit
dem wir uns erfrischen. Aber es käme wohl darauf an, daß wir
bewußter teilen als bisher: daß wir Verantwortung mit dafür
übernehmen, daß Wasser, Luft, Erde, Pflanzen, Tiere auch
künftig leben und Leben schenken und erhalten können, daß auch
die Generationen nach uns Gottes Schöpfung als „gute
Schöpfung“ erfahren dürfen. Auch mit ihnen nämlich haben
wir zu teilen, wenn wir heute mit gutem Gewissen das Unsere genießen
wollen. Die Welt und all ihre Möglichkeiten, eben Gottes gute
Schöpfung, empfangen wir aus seiner Hand. Wir dürfen sie gestalten
und nutzen, wir dürfen sogar, wie es in der Bibel heißt, über
sie herrschen. Aber sie ist uns nicht ausgeliefert. Sie ist uns anvertraut, um
sie zu bewahren. Darum ist es Gottes Wille, daß wir verantwortlich mit
dem umgehen, was er geschaffen hat, behutsam, partnerschaftlich, ja
brüderlich – nicht als Eroberer und Ausbeuter.

Gott möchte auch, daß wir mit denen
teilen, die als nahe wie als sehr ferne „Nächste“ nicht genug
tägliches Brot haben. Er möchte, daß wir aus einem Teil unseres
Brotes ein Stück Brot für die Welt machen. Denn wer empfangen hat,
kann auch geben, und noch niemand hat sich arm gegeben.

Immer, wenn wir Brot teilen, geraten wir ja in
die Gemeinschaft und den Segen dessen, der selber dieses Brot mit Danksagung
empfangen, gebrochen und mit seinem Segen weitergegeben hat, Jesus Christus.
Von ihm wollen wir lernen, mit ihm wollen wir leben, wenn wir das versuchen:
„Ich möchte bescheidener sein und lerne, mit anderen zu teilen: Brot
und Wein, die Früchte der Erde, mein Leben.“ Dazu wolle Gott uns
seinen Segen geben.

Amen.

Pastor i. R. Hans–Gottlieb
Wesenick
Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen
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e–mail:
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