2. Korinther 6,1-10

2. Korinther 6,1-10

Ein Tanz zur Musik der Zeit | Invokavit | 06.03.22 | 2. Kor 6,1-10 | Ralf Reuter |

Wir lesen deinen Brief sehr emotional, lieber Paulus. Diese Stelle, wo du uns aufforderst, zu leben. „Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit“ schreibst du, und dann „jetzt ist der Tag des Heils.“ Nur, nimm es zur Kenntnis, es ist jetzt kein Heil in der Welt. Gerade überfällt die russische Armee die Ukraine. Hier in Europa ist Krieg! Tausende sind schon gestorben, Hunderttausende auf der Flucht.

Mir ist schon klar, du kommst von der Versöhnung her. Manche sagen, diese Textstelle beginnt schon vorher: „So sind wir nun Botschafter an Christi statt.“ Und mit Jesaja ziehst du uns ins Heilshandeln Gottes. Stellst uns in die Verheißung von Gnade und Heil, um das Volk aufzurichten, um die Gefangenen zu befreien und die Täter aus ihrer Finsternis herauszurufen, das verstehe ich.

Haltung ist gefragt, da sind wir uns schnell einig. Es braucht eine christliche Deutung des Lebens hier auf Erden, zur Orientierung, für das Handeln. Und zugleich die weitergehende Frage nach dem eigentlichen Leben. Wie kommt die göttliche Dimension ins Hier und Jetzt? Der große Horizont von Leiden und Rettung, von Krieg und Frieden, von Tod und Auferstehung, von Zeit und Ewigkeit.

Deine Antwort auf diese Frage hat mich in den letzten Tagen nicht in Ruhe gelassen. Sie hat mich zunehmend fasziniert und mitgenommen. Ich meine darin einen Tanz zu erkennen, einen ständig zu führenden Tanz mit den harten Fakten der Welt und den christlichen Ressourcen der Hoffnung. Es erinnert mich an die zwölf Bände eines englischen Autors. Ein Tanz zur Musik der Zeit, so hat er seinen Roman genannt.

Da stellst du auf die eine Seite deines Dienstes „Bedrängnis, Nöte, Ängste, Schläge, Gefängnis, Aufruhr, Wachen, Fasten“. Wie die harten Tatsachen stehen sie da, und ich erkenne darin die Leiden der Menschheit. Auf die andere Seite stellst du als Diener Gottes „Lauterkeit, Erkenntnis, Langmut, Freundlichkeit, Liebe, Wahrheit, Kraft Gottes, Gerechtigkeit“. Sind dies die weichen Faktoren des Lebens? Können sie gegenhalten?

Zumindest tut es gut, sie zu benennen. Zu wissen, auf was wir uns verlassen können, jetzt, wo wir ohnmächtig sind im Angriff eines Despoten auf das Nachbarland. Eines gekränkten Stolzes ohne jede Liebe. Der wie Kain dem Bruder Abel den Erfolg neidet, die westliche Orientierung, so der Metropolit der orthodoxen Kirche in Kiew. Was haben wir Christen denn sonst zur Verfügung als unsere Gebete, als unseren Glauben?

Und dann beginnt dein Tanz zur Musik der Zeit, Paulus. Atemberaubend beginnst du, nicht zum ersten Mal in deinen Briefen, diesen Tanz von Leiden und Rettung, von gegenwärtigen Widerfahrnissen und göttlichen Stärkungen. Dieser Tanz, wie ich dein Vorgehen deute, ist ein ernsthafter Kampf um die Deutung des Lebens. Dasein ist nicht nur weltliches Schicksal, sondern sinnhaftes Ringen im Horizont Gottes.

Langsam beginnt der Tanz. Der erste Blick auf die Tanzfläche nimmt wahr, wie sich „Ehre und Schande“ gegenüberstehen. Im emotionalen Empfinden von Menschen will niemand unter dem anderen zu stehen kommen, will beschämt werden. Und findet sich doch in dieser Ecke wieder. Muss das verarbeiten. In der Schande auch Ehre erblicken, ohne Überhöhung, geht das in dem Tanz des Daseins?

Als sei es heute, so stellst du, Paulus, weitere Erfahrungen auf die Fläche, und nennst „böse Gerüchte und gute Gerüchte“. Fake News, können wir die Welt jemals so sehen, wie sie wirklich ist? Nie wird mehr gelogen als in Zeiten des Krieges, doch die Corona-Monate habe ich ähnlich erlebt, in den Disputen mit Querdenkern. Jede Aufarbeitung von Leid, politisch wie persönlich, hat mit Gerüchten zu tun und der Suche nach Wahrheit.

Da beginnt wohl schon der Tanz miteinander, das Ringen um Wahrheit in der Bedrängnis. Als „Verführer“ stehen Menschen plötzlich da, und es ist gleichzeitig zu fragen, ob sie nicht „doch wahrhaftig“ sind. Du, Paulus, beziehst das auf dein Wirken, dir ist der Vorwurf gemacht worden, gemeindlich wie wohl auch politisch. Rückwärtig gesehen stehen wir als Europäer, als christlich Geprägte, wohl noch mehr in Frage.

Die Musik wird schneller im Tanz der Zeit. „Als Unbekannte“, so führst du dich und uns in diesen Kampf ein, und zugleich als „doch bekannt“. Kennen wir die handelnden Personen in diesem Krieg? Kennen wir uns, unsere Vorfahren im Umgang mit anderen und der Erde? Die weiterschreitende Zeit spielt uns hier auf. Nicht immer erkennen wir uns wirklich. Kennt Gott uns? Wie kommt seine Deutung, sein Wirken in unser Urteilen, zu uns und anderen?

Jetzt dreht sich menschliche und göttliche Wirklichkeit miteinander, Zeit und Ewigkeit gehen in den Tanz. In Gegensätzen kann Wirklichkeit erfahren werden. In dem Zugleich von beidem deutet sich das Leben. In dem Ankommen dieser göttlichen Rettung und im Bleiben des menschlichen Leidens. In uns Menschen, in dieser Zeit, in der Hoffnung von Zukunft, von ewigem Leben.

„Als die Sterbenden, und siehe, wir leben“. Jetzt stellst du, Paulus, die Säulen des Glaubens auf, errichtest den Lebensraum für Menschen, das Kirchgebäude, den Himmel auf Erden. Und holst uns hinein in Urzustand aller Realität. Sterbende sind wir, Stück für Stück in den Bedrängnissen des Lebens, in Kriegen, in Krankheiten, in Abschieden. Und stellst uns zugleich in das Rettungshandeln Gottes, wir leben. Ja, im Hier und Jetzt. Wir leben von der Hoffnung, vom Glauben, von der Liebe.

Dies gilt es zu aktivieren. Jetzt ist die Zeit der Gnade inmitten unserer Erdentage. Gefüllt mit den Bedrängnissen, den politischen wie den ganz privaten. Aufstehen, auferstehen, von hier speist sich doch das Leben. Krieg ist Wahnsinn, haltet dagegen mit der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit, dem Wort der Wahrheit! Wir sind nicht wehrlos im Tanz zum Rhythmus der Zeit. Wir stehen in der Verheißung Gottes, wir werden leben.

Da bleiben wir „Gezüchtigte“, Geschlagene, wie du die nächste Säule des Lebens nennst, und wir sind „doch nicht getötet“. Verstehen kann ich dies nur mit dem Wort, wie es mir im Gottesdienst begegnet. Glauben nur durch das Erleben von Karfreitag und Ostern. Auf Hoffnung, sie muss immer wieder neu erfahren werden. Mit der Gemeinde, im Klagen und Feiern der Menschen, mit allen Wohlwollenden weltweit. Ja, wir leben.

„Als Sterbende, und siehe, wir leben“, als „die Gezüchtigten, und doch nicht getötet“. Noch hält das Dach mit diesen zwei Säulen nicht. Vielleicht ist es nur ein Zelt, mit dem das Volk Gottes unterwegs ist. Auch heute wieder in der abnehmenden und neu werdenden Kirche der Zukunft. Jetzt stellst du, Paulus, die beiden anderen Stangen des Zeltes auf. „Als die Traurigen, aber allezeit fröhlich“. Und: „Als die Armen, die viele reich machen“.

Ein Tanz im Rhythmus der Zeit, in der ständigen Bewegung des Lebens, es gibt auch so etwas wie ein Ausruhen, ein Innehalten. Es ist dieses Gefühl von Geborgenheit. Dieses Gefühl, das die Menschen in den Fluchtorten des Krieges für Minuten oder Stunden erfahren, in den engen Kellerräumen bei den Bombenangriffen, in der Metro, in Hauseingängen, wo man für kurze Momente sicher ist vor den Kugeln der Gewehre.

Es sind wie in Gottesdiensten diese Augenblicke des Gebetes, des Singens von Liedern, beim Empfang des Abendmahls von Brot und Wein. Innige Momente, in Kriegssituationen ebenso wie auf Krankenstationen, im liturgischen Feiern wie im stillen Abendgebet. Hier ist schon Gottes ganzer Himmel da, hier ist mitten im Tanz des Lebens Frieden eingezogen. So, so wird einst das Leben bei Gott sein, nach unseren Kampfestagen hier auf Erden.

Doch bis dahin tanzen wir zur Musik der Zeit. Werden immer wieder herausgefordert von den Widerfahrnissen der Tage. Müssen mit diesen auf die Tanzflächen der Welt gehen, mitten ins Geschehen. Drehen uns mit ihnen und spüren die Kraft Gottes, knicken nicht ein, bleiben aufrecht. Halten dagegen, werden korrigiert von der Liebe, der Wahrheit, werden auf die Seite Gottes und des Lebens geführt.

Mitgenommen bin ich nun, Paulus, von dem Tanz der Worte, den Deutungen des Lebens. Erfüllt von dem Versuch, in deinen Worten Gottes Botschaft zu erkennen, zu erspüren für mich, für uns, für diese Zeit. Die Gunst der Stunde nutzen, mit Fröhlichkeit durch die finsteren Täler gehen. Den Tanz annehmend, in den ich gezwungen werde. Ihn tanzen mit ganzer Kraft, im Reichtum dessen, was Gott mir schenkt.

Natürlich erkenne ich in Jesus Christus den Ermöglicher, aber auch den Vorgänger. Wie er im Kampf mit dem Teufel immer wieder göttliche Worte fand, um das Böse abzuwenden. Erkenne in den vielen Menschen seiner Nachfolge den Reichtum ihrer Erfahrungen. Da sind nicht nur die drei Bilder von Martin Luther im Sermon von der Bereitung zum Sterben, wo er auf das Bild des Lebens, der Gnade und des Himmels zeigt.

Es ist auch nicht nur Dietrich Bonhoeffer mit seinen guten Mächten in der Todeszelle, so wunderbar uns dieses Wort immer wieder hilft. Es sind die Worte von Frauen und Männern in ihrer Zeit, die uns reich machen. Das sind die, „die nichts haben und doch alles haben“. So auch du, Paulus, der du mich und uns reich gemacht hast. So lass auch uns, Gott, andere reich machen.

Mit den Sonntagen des Kirchenjahres gehen wir jetzt nach Jerusalem. Wir wollen in diesen Tagen des Krieges die Geschichten von Jesus hören. Werden fröhlich die Flüchtenden aufnehmen, und helfen, wo es nur geht. Immer im Wissen um unsere Begrenztheit, unsere Endlichkeit, und doch gestärkt, leidensfähig. Engagiert im Tanz des Lebens, unterwegs mit den Zelten des Glaubens auf dem großen Weg in Gottes Ewigkeit.

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Liedvorschläge: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, Ich sing dir mein Lied, In dir ist Freude (EG 398).

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Pastor Ralf Reuter

Göttingen

E-Mail: Ralf.Reuter@evlka.de

Ralf Reuter, Pastor für Führungskräfte der Wirtschaft in der Hannoverschen Landeskirche und zugleich Pastor der Friedenskirche Göttingen

Literatur, Bezüge und Liedvorschläge:

Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017.

Anthony Powell: Ein Tanz zur Musik der Zeit, Bd I bis XII, aus dem Englischen übersetzt, 2015ff, Originalausgabe 1951ff.

Klaus Berger: Kommentar zum Neuen Testament, 2. Aufl. 2012, S. 648.

Hanna Stettler: Heiligung bei Paulus, 2014, bes. S. 387 u. 430.

Wolfgang Kraus: Inhaltliche Aspekte des paulinischen Selbstverständnisses, in: Friedrich W. Horn (Hg.): Paulus Handbuch, 2013, S. 231 ff.

Ulrich Barth: Symbole des Christentums, Hg von Friedemann Steck, 2021, bes. S. 332 u. 356.

Jörg Lauster: Der Heilige Geist, 2021, bes. S. 172ff.

Mascha Kaléko: In dieser Zeit. In: Dies.: In meinen Träumen läutet es Sturm, 34. Aufl. 2015, S. 60.

Christian Stäblein: Friedensgebet Ukraine, 2022, Quelle: www.ekbo.de

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