2. Korinther 6,1-10

2. Korinther 6,1-10

Ein offener Blick | Invokavit | 6.3.2022 |  2. Kor 6,1-10 | Nadja Papis |

Auf dem Pausenplatz fliegen die Fetzen: Emma und Luca streiten sich. Um was, weiss eigentlich niemand mehr, aber alle sind irgendwie beteiligt. Die einen ergreifen Partei und schreien lauthals mit, andere verdrücken sich weit weg und wieder andere beobachten gespannt, was passiert. Irgendwann geht der Lehrer dazwischen: „Was ist eigentlich los?“ Stille kehrt ein, Emma und Luca schauen sich nicht an, keines Blickes würdigen sie sich. Und der Lehrer erhält keine Antwort.

Auch in Korinth haben sie gestritten und wie. Um den richtigen Glauben, um den richtigen Lebenswandel, um den richtigen Apostel. Korinth war damals bekannt als Schmelztiegel der Kulturen und hatte den Ruf eines Ortes voller Laster. Eine grosse antike Stadt mit vielen Menschen und mitten drin die christliche Gemeinde, gegründet von Paulus, auf der Suche danach, was es heisst, Gemeinde zu sein und christlich zu leben. Paulus ist nicht mehr dort, er zog weiter. Aber es scheint, dass er in regem Kontakt blieb mit Menschen der korinthischen Gemeinde. Und so vom grossen Konflikt hörte, der die Gemeinde zu spalten, auseinanderzureissen drohte. Sachlich ging’s um das Benehmen der Gemeindemitglieder. Paulus selber hatte ihre Freiheit verkündet, und die einen nahmen sich diese Freiheit nun wortwörtlich und machten Dinge, die den anderen sauer aufstiessen. So assen sie zum Beispiel das Fleisch, das in den Tempeln anderen Göttern geopfert wurde. Darüber und über anderes Verhalten entbrannte ein heftiger Streit, der immer mehr eskalierte. Auf einmal ging es auch darum, welcher Apostel denn nun ein richtiger Apostel sei, welche Botschaft denn nun die wahre sei etc. Wir können es uns vorstellen, es geht ja auch heute unter uns oft so. Eine scheinbar sachliche Auseinandersetzung führt zu unvereinbaren Positionen und plötzlich wird mit allem verbal um sich geschlagen, was gerade da ist.

Die Antwort von Paulus tönt wie das Machtwort des Lehrers, sie ist meiner Meinung nach eine klassische Krisenintervention.

Predigttext: 2Kor 6,1-10

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch auch: Empfangt die Gnade Gottes nicht vergeblich! Denn es heisst: Zu willkommener Zeit habe ich dich erhört, und am Tag der Rettung habe ich dir geholfen. Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade, jetzt ist er da, der Tag der Rettung.

Mit nichts wollen wir Anstoss erregen, damit der Dienst nicht in Verruf komme. Vielmehr stellen wir uns ganz und gar als Gottes Diener zur Verfügung: mit grosser Ausdauer, in Bedrängnis, in Not und in Ängsten; unter Schlägen, im Gefängnis, in unruhigen Zeiten, in Mühsal, in durchwachten Nächten und beim Fasten; in Reinheit, in Erkenntnis, in Geduld, in Güte, in ungeheuchelter Liebe, im Wort der Wahrheit und in der Kraft Gottes; mit den Waffen der Gerechtigkeit in der Rechten und in der Linken, ob wir anerkannt oder abgelehnt, verleumdet oder gelobt werden! Wie Verführer sind wir und doch wahrhaftig, wie Unbekannte und doch wohlbekannt, wie Sterbende und seht: wir leben, wie Gezüchtigte und doch nicht dem Tod geweiht, wie Trauernde und doch stets voller Freude, wie Bettler, die dennoch viele reich machen, wie Besitzlose, die alles besitzen.

Ein Machtwort… Ein ziemlich heftiges. Paulus hätte es auch einfacher sagen können: Beruhigt euch mal! Und schaut auf das, was euch verbindet und trägt. Ja, denn das ist seine Intention: Die streitenden Parteien auf den gemeinsamen Nenner auszurichten. Geht es nicht in jedem Streit genau darum? Dass Menschen statt auf das Trennende auf das Gemeinsame schauen?

Ich persönlich habe keine Mühe mit Streit. Er gehört zu menschlichen Beziehungen dazu und zwar nicht nur die reif ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten, sondern auch emotionale Vulkanausbrüche und Wutanfälle. Sie sind eine Chance aufzudecken und zu klären, was nie zur Sprache kam. Immer wieder erlebe ich es, dass ein Streit zu mehr Offenheit für die anderen führt – solange wir im Kontakt miteinander bleiben. Schwierig wird es für mich nur, wenn ich mit dem anderen keine tragende Basis habe. Oder wenn nach dem Streit das Trennende noch trennender ist und sicher weiter wirken wird in diese Richtung.

In Korinth scheint dies der Fall gewesen zu sein. Die höheren Eskalationsstufen waren erreicht. Ging es noch um die Sache oder nur noch um die Macht und das Sagen? Hier schreitet Paulus nun ein. Und spricht oder besser gesagt schreibt sein Machtwort. „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade, der Tag der Rettung!“

Jetzt ist sie da: die Zeit der Gnade, der Tag der Rettung!

Das ist euer gemeinsamer Nenner, das ist die Mitte, der Boden.

Alles andere sind Meinungsverschiedenheiten, die geklärt werden können, aber das hier, das ist es: Darum geht es in unserem Leben als Christinnen und Christen.

Ich finde das eine wunderbare Intervention. Sie verleugnet die Verschiedenheit nicht, sie verleugnet auch die verschiedenen Meinungen und Ansichten nicht, sie steigt schon gar nicht ein in den Machtkampf. Mit einem Satz lädt Paulus die Streitparteien in eine Gemeinschaft ein, die ihre menschlichen Zankereien übersteigt: Jetzt ist sie da: die Zeit der Gnade, der Tag der Rettung.

Eindringlich sind seine Worte, ja, sie brauchen eine gewisse Energie und Überzeugungskraft, um zu den Streitenden überhaupt durchzudringen, aber dann stelle ich mir den Tonfall relativ ruhig vor: Denkt daran, wir alle sind im gleichen Boot, wir alle stellen uns in den Dienst derselben Sache und erfahren darin Freud und Leid, Gefahr und Ermutigung. Diese Aufzählung von Nöten und dann die Gegenüberstellungen von Schwierigem und Schönen wirken auf mich irgendwie beruhigend, obwohl die Zeit alles andere als ruhig, friedlich und schön war.

Der Lehrer auf dem Pausenplatz fragte: „Was ist eigentlich los?“ Und damit verhindert er wohl, dass sich die streitenden Kinder anschauen und wieder offen werden füreinander. Paulus fragt nicht: Worum geht’s? Sondern stellt klar und deutlich fest: Jetzt geht es um Gnade.

Gnade – dieses alte Wort, das sich einfach nicht ersetzen lässt, nicht übersetzen lässt in etwas Moderneres. Paulus sagt: Um Gnade geht’s. Gnade ist das, was euch verbindet. Auch wenn ihr verschiedener Meinung seid, auch wenn ihr um die Vorherrschaft in der Gemeinde kämpft, auch wenn ihr scheinbar unvereinbare Vorstellungen habt: Ihr habt einen gemeinsamen Nenner. Und der kommt nicht aus euch, sondern ist euch zugesprochen.

Manchmal fange ich mitten in einer heissen Diskussion oder einem heftigen Streit an zu beten. Einfach für mich. Das Gebet lautet immer gleich: Gott, wir sind alle deine Geschöpfe, ich bin dein Kind, er oder sie ist dein Kind, an dem du Wohlgefallen hast. Es ist genau diese Ausrichtung. Statt eine Gegnerin oder einen Feind zu sehen, wird mein Streit-Gegenüber wieder zum Menschen, bejaht von der göttlichen Lebenskraft, genau wie ich am Atmen, am Leben, am Lieben, am Fühlen, am Sein. Das hilft mir, meinen Blick zu öffnen. Ich kann trotzdem bei meiner Meinung bleiben, aber mein Blick wird offen – offen für andere Meinungen und Ansichten, offen für das, worum es geht. Denn oft geht’s im Streit nicht um die Sache, sondern um Beziehung, Anerkennung, Gefühle.

Gnade – das alte Wort beschreibt für mich diesen offenen Blick. Zuerst kommt er von Gott auf uns zu. Ja, ich werde mit einer unfassbaren, überwältigenden und liebevollen Offenheit angeschaut. Sie lädt mich ein, ebenfalls offen hinzusehen – auf mich, auf dich und auf die Welt.

Dieser offene Blick ist für mich der Kern meines christlichen Glaubens. Und gehört für mich zentral zur Passionszeit, die ja nun begonnen hat. Wir werden in dieser Zeit aufgefordert, hinzuschauen, hinzuhören, uns zu öffnen für andere und für das, was uns verbindet. Paulus ist da deutlich. Ich kann als Christin nicht sagen: Juhui, ich bin gerettet, diese Welt interessiert mich nicht, ich mach, was ich will. Die Freiheit, die wir geschenkt bekommen haben, fordert uns heraus, offenen Blickes durch die Welt zu gehen und solidarisch zu sein mit denen, die sich (noch) nicht so frei fühlen wie wir. Ja, die Zeit der Gnade ist da, aber es ist keine egoistische Gnade, es ist eine verbindende, eine offene, eine solidarische.

Amen

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Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.

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