2. Petrus 3,8-13

2. Petrus 3,8-13

Makrothymia – eine Christus-Tür für Jung und Alt | Letzter Sonntag im Kirchenjahr (Ewigkeits-, Totensonntag) | 26.11.23 | 2. Petr 3, 8-13 | Jochen Riepe |

                                                                                  I

Erst einmal durchatmen… aus… ein… Nicht wahr, man muß die Zeit ins Spiel bringen, Langmut einüben. ‚Aus dem Jungen kann etwas werden… das Mädchen wird sich fangen‘. ‚Der Herr… hat Geduld mit euch‘, schreibt der Apostel. ‚Er will nicht, daß jemand verloren geht‘. Denn vor Gott ‚ist ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag‘.

                                                                                  II

Totensonntag. Gedenken an die Verstorbenen. Manche von uns Trauernden haben in den Alltag zurückgefunden und machen wieder Pläne für die Zukunft. Andere sagen: Ich bin auf einem guten Weg. Und dritte schließlich klagen: Hört das denn niemals auf? Diese Lähmung. Dieses dumpfe ‚Auf -der -Stelle -Treten‘.  ‚Ich werde nicht fertig mit dem, was passiert ist. Bin ich ‚trauer-krank‘? Brauche ich gar professionelle Hilfe?‘

Ich habe die Beklemmung meiner Großmutter nie vergessen können. Noch Monate nach dem Tod des Ehemannes blieb er für sie gegenwärtig. Sie hörte abends auf der Treppe seine Schritte. Sie vernahm seine Stimme. Eine Zeitlang halfen ihr wohl diese ‚Halluzinationen‘, aber auf Dauer verstörten sie sie. Kinder und Enkel spielten die Erlebnisse herunter: ‚Das ist normal und geht wieder vorüber‘. Wir lächelten, aber einmal  schreckte auch uns ihr energischer Ruf auf: ‚August, du machst mir Angst. Willst du denn gar nicht gehen…?‘

                                                                                 III

Gott ist ‚langmütig‘, er hat Geduld mit uns, lesen wir im 2. Petrusbrief. Gott läßt dir und mir Zeit, er räumt dieser Welt Zeit ein. Das Schreiben des Apostels bekommt – wie ein Ausleger meint- durch diese Entdeckung einen ‚kreativen Zug‘*. Ich bin doch froh, wenn in einer festgefahrenen Situation, wenn in notvoller Panik und Kurzatmigkeit, mich jemand beruhigt und einen ‚Zeit-Raum‘ eröffnet, der etwas anderes als eine Drohung oder ein Ultimatum ist.

Gerade für uns Alte ist Petrus‘ Lehre von Gottes Lang- und Großmut wichtig. Das griechische Wort dafür lautet, ja ‚läutet‘, wunderbar. Es nimmt uns gleichsam in seinen Klang hinein und umschmeichelt die Ohren: Makrothymia – ein weites, ein ‚wartefähiges‘ Gemüt. Ja, wir brauchen viel Verständnis und sind mitunter gar nicht so klug, wie wir gern wären. Dieses Gefühl: ‚Meine Zeit wird knapp, das Ende rückt näher… der Druck wächst‘. Atemlos. ‚Das will ich noch schaffen. Das muß noch erledigt werden‘. ‚To- Do-Listen‘ sind angesagt und rufen zum Pflichtprogramm jedes Tages. ‚Seid vorsichtig‘, hält der Apostel uns entgegen. ‚Du mußt gar nichts. Du solltest aber jene Tür in deinem Lebens-Raum offen lassen, durch die der Christus eintreten wird‘.

                                                                                 IV

‚Oh weh!‘, werden damals einige Leute gerufen haben, vielleicht besonders jüngere Christen der zweiten oder dritten Generation: ‚Wie könnt ihr diese Lehre noch glaubwürdig vertreten? Eine ‚ausgeklügelte Fabel‘(1,16), Fiktion, ist das doch: Er, der Christus, käme wieder, und unser Leben sollte nach vorn offen sein, ja, eine Art Tür haben, durch die er kommen, zurückkommen wird?‘ ‚Wo bleibt die Verheißung seines Kommens (3,4) denn?‘ Hat sich die Welt geändert, seitdem er bei uns war? Ist irgendetwas besser geworden? Es ist alles so, wie es immer war ‚von Anfang der Schöpfung‘ an.

Das klingt spöttisch, aber gerade wenn junge Leute spotten, spüren wir Alten mehr als Spott, und Petrus hat es wohl auch geahnt: Enttäuschung. Ein Leiden an der Welt, wie sie ist. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und nach dem Ende der Gewalt. Die Ungeduld, endlich etwas zu bewirken und zu verändern. Und wir wissen von uns selbst: Dieses Leiden endet in ohnmächtiger Wut, ja,  neuer Gewalt oder schlägt in Resignation und Unterwerfung um. Die Frage läßt sich ja nicht abtun: Wenn der Christus tatsächlich  wiederkommt, müßte es nicht untrügliche Zeichen dafür geben? Jetzt. Heute. ‚Ein neuer Himmel… eine neue Erde‘- uns würde schon etwas ‚Neues unter der Sonne‘ reichen.

                                                                                       V

Man muß die Zeit ins Spiel bringen, den ‚kreativen Zug‘ des Petrusbriefes nutzen, die Gefühle der Alten und den Spott der Jungen soz. eintauchen, ja, ‚hinein-taufen‘ in Gottes ‚Langmut‘, und sie damit würdigen, aber auch begrenzen. ‚Warte nur, daraus kann doch etwas werden… der Junge wird sich machen… das Mädchen wird sich fangen‘. Jeder Lebenslauf steht in dem Luftzug, der durch die Christus-Tür hineinkommt, und keiner soll ‚verloren gehen‘, ‚bis der Herr kommt‘( 1. Kor. 4,5).

Das ist das herzlich-dringliche Anliegen des Apostels, ja, er spricht von einem ‚Testament‘, denn er selbst muß ‚seineHütte‘(1,14) bald verlassen, und fleht die Gemeinde an, die Botschaft im Gedächtnis zu behalten. Als wolle er diesem Anliegen besonderen Nachdruck verleihen, gebraucht er gewaltige, verstörende  Bilder, die die Befristung der Weltzeit unterstreichen. Wenn das Neue kommt, wird das Alte untergehen: ‚… die Elemente werden vor Hitze schmelzen und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden‘. Was in der Trauer jeder persönlich erlebt, wird hier   kosmisch ausgeweitet.

Gottes Langmut ist nicht endlos oder unendlich; dann würde sie ins Leere laufen und wäre nichts anderes als Gleichgültigkeit. Kreativ  kann sie nur dort wirken, wo  eine Grenze gesetzt ist und mit ihr ein Raum des Lernens, der Verantwortung, der Handlungsfähigkeit entsteht: ‘Ich kann etwas tun‘. ‚Dein Lebens-Zeit-Raum‘. Warten, Erwarten, Blicken auf die Christus-Tür – so wird die Langmut Gottes nicht zur Langeweile, sondern zum Ansporn für ein ‚frommes Leben‘: Jeden Tag die Sonne neu! ‚Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun‘ (Jak 4,15).

                                                                                      VI

‚Hört das denn niemals auf? Bin ich ‚verloren‘?‘ fragen Trauernde und dürfen doch diese Erfahrung vom Stillstand in Gottes Langmut eintauchen und verwandeln lassen. Es ist ein langwieriger Lernprozeß, ‚komplizierte Trauer‘ nennen die Fachleute es**, und es kann sein, daß ich es nicht allein schaffe, sondern Hilfe brauche. Vielleicht kann ich dann mit der Zeit, mit Geduld und Konsequenz, mit den Tränen des Schmerzes und der Freude es annehmen und bejahen: ‚Ja, so wie früher wird es nicht mehr. Aber ich kann das, was ich empfangen habe, in meinen Lebens-Raum mitnehmen und mit ihm in die Zukunft gehen‘. Wir Prediger sagen das oft: ‚Aus dem Schmerz kann Dank werden‘, und nehmen in wohlmeinenden Worten kurzatmig vorweg, was wirklich Zeit, Gespräche, Nachdenken braucht.

Meine Großmutter machte dieses ihr Trauerlernen, ihre Bereitschaft, den Verstorbenen loszulassen und sich zu verabschieden,  ihrer ratlosen Familie eindrücklich vor: Eines Morgens berichtete sie, sie habe dem nächtlich wieder erschienenen Ehemann offen und ehrlich  gesagt: ‚August,  du gehörst zu meinem Leben. Ich bitte dich nun aber, zu gehen. Da ist die Tür. Ich besuche dich auf dem Friedhof, und im Himmel sehen wir uns wieder‘. Gewiß, das war nicht das Ende der Trauer, aber es war das Ende einer lähmenden, unsicheren Zeit, die die alte Frau daran hinderte, doch noch einmal ihren Weg unter Gottes Sonne zu suchen. Auch solch ein Schnitt, ein energischer Ruf zur eigenen Seele, kann zur Trauerarbeit in der Langmut Gottes gehören.

                                                                                 VII

Und die jungen Leute?  Ihr Leiden, ihr Trotz, ihr Spott über eine verschlossene Zukunft? Wie kann ein ‚langmütiges‘ Gespräch zwischen den Generationen denn aussehen?  Wir Alten sollten ihnen mit Petrus ‚in heiligem Wandel‘ ein Vorbild sein- nicht nur an der Fußgängerampel. Ausatmen. Einatmen: Man kann an dieser Welt wahrhaftig leiden, aber man muß nicht an ihr zerbrechen oder sich mit Drogen betäuben. Mag sie ‚alt‘ sein, so bleibt sie doch Gottes Schöpfung.  ‘Abschiedliche Existenz‘ ( V. Kast) ist eine ‚erwartungsvolle‘*** Existenz. Konkret: Sie wartet auf Gott, sie ‚wartet‘, pflegt, sein Werk und pflanzt ‚heute noch‘ einen Baum. Sie kann nehmen und annehmen, sogar genießen. Sie kann lassen und übt sich in Gelassenheit, in klangvoller, lächelnd-schützender Makrothymia.

Es gibt unter uns Alten eine unwürdige Hektik und Unduldsamkeit, eine Angst zu kurz zu kommen, ein ‚Platzkampf‘, der in jedem Gedränge deutlich wird. Als wenn am Buffet oder an der Supermarktkasse das Jüngste Gericht tagte… Wie gut darum, wenn uns im Seniorenkreis  jugendliche Gäste dieses spiegeln, und umgekehrt: Wie gut, wenn wir von unserer  inneren Unruhe, auch von Scham und Stress erzählen, die uns in öffentlichen Situationen überfallen können. Woher sollen die Jungen  denn wissen, wie es ist, plötzlich ohne den Menschen zu sein, der uns immer bei der Hand hielt; wie es ist, wenn sich Ehepaare von Witwen oder Witwern zurückziehen; wie es ist, wenn der Leib schwächer wird, die Hände zittern und die Augen kaum erkennen, was auf dem Kassenbon steht?

                                                                                  VIII

Langmut Gottes. Ein Lebens-, ein Zeitraum in dieser alten Welt – in der Hoffnung  des Neuwerdens aller Dinge. Ein Tag wie tausend Jahre. Tausend Jahre wie ein Tag. Man muß Gottes Zeit ins Spiel bringen… ‚die allerbeste Zeit‘.

 ‚Den Abend lang währet das Weinen, des Morgens ist Freude‘ (Ps 30,6). Wo heute eine Sackgasse ist, kann morgen eine Tür sein. Womöglich gar, er, der Christus, tritt ein.

(Gebet nach der Predigt:)

 Lieber Vater im Himmel, sei du bei uns in unserer Trauer um unsere Lieben. Mache unsere Herzen weit. Sieh uns an: unsere Ängste, unser Grübeln, unsere Tränen. Stärke die Hoffnung, einen neuen Weg zu finden. Gib einen Sinn für das, was für uns an der Zeit ist. Und laß uns teilhaben an deiner Langmut, deiner Geduld, deinem Lebensatem.

Liedvorschläge:  Lasset uns mit Jesus ziehen (eg 384)/ Wer weiß, wie nahe mir mein Ende (eg 530 ) / Wie ein Fest nach langer Trauer (J. Werth, J. Nitsch) / Wir strecken uns nach dir (eg 664)

*R. Popa, Parusieverzögerung und Generationenkonflikt im 2. Petrusbrief, in: ders., Generationen im frühen Christentum, 2022, S. 112 **M. Müller et al., Handbuch Trauerbegleitung, 2017, S. 92ff (R. Rosner, Komplizierte Trauer) ***U. H.J. Körtner, Die letzten Dinge, 2014, S. 264ff: ‚Erwartungsvoll leben‘; s. das Heft ‚Miteinander der Generationen‘, Einblicke, I/ 2008 https://www.ekkw.de/blick-in-die-kirche/download/blick_108.pdf

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