Matthäus 25,37-46

Matthäus 25,37-46

Letzter Sonntag des Kirchenjahres | 26.11.23 | Mt 25,37-46 (dänische Perikopenordnung) | Marianne Christiansen |

Barmherzigkeit – der göttliche Sinn des Lebens

Da sind die Richtigen und die Falschen.

Da sind die, für die wir sind, und auf der anderen Seite stehen die anderen, der Feind, die Bösen.

Gott mit uns, Gott gegen die anderen.

Das ist und bleibt unser Weltbild, im persönlichen Bereich wir auch global: Der Drang, die Welt in zwei Gruppen einzuteilen. Vielleicht weil wir die Welt in Gegensätzen verstehen: Rechts und Links, Oben und Unten, Himmel und Hölle.

Gerade jetzt erleben wir das in unserem Teil der Welt besonders stark in der öffentlichen Diskussion zu den Kriegen, die uns berühren und die uns selbst aus der Distanz betreffen: Sind wir für Russland oder die Ukraine, für Israel oder die Palästinenser? Es ist suspekt geworden, „aber“ zu sagen – also Verständnis zu äußern für eine Seite im Konflikt, „aber“ auch für die andere Seite. Auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ist eine oft gebrauchte Wendung auch in der internationalen Politik. Das deutet an, dass die Geschichte zeigen wird, wer von den beiden Seiten Recht hatte, und dass es nun darum geht, sich an die Seite derer zu stellen, die Recht haben oder Recht bekommen.

Die Einleitung der Erzählung Jesu, wie der Menschensohn die Dinge sieht und zwischen Recht und Unrecht richtet, ist uns also nicht fremd: Ein Thron, ein Richter, der die Leute einteilt in zwei Gruppen wie Schafe und Böcke, Rechte und Linke, Erlöste und Verlorene. Das Urteil der Geschichte, das Gericht Gottes. Es geht darum, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Wer ist der Menschensohn? In der christlichen Tradition ist das einer der „Titel“, die wir auf Christus selbst beziehen, weil wir Jesus als den verstehen, der Gott repräsentiert und uns zeigt, wer Gott ist und was der Sinn des Lebens ist – als ein Mensch. Eigentlich bezieht sich das Wort Menschensohn auf einen aramäischen (der Sprache, die unter den Jüngern Jesu gesprochen wurde) oder hebräischen (der Sprache des Alten Testaments) Ausdruck „Sohn des Menschen“, der einfach „Mensch“ bedeutet, der Mensch.

Aber das Bild, das Jesus in dieser Erzählung vom „Menschensohn“ zeichnet, der auf einem Thron sitzt und die Leute zu sich ruft, ist ein Bild, das eine Vision aus dem 7. Buch Daniels wiedergibt. Hier sieht Daniel in einer nächtlichen Vision einen, der „uralt war“, der sich auf den Thron gesetzt hat, um Gericht zu halten:

„Throne wurden aufgestellt,

und einer, der uralt war, setzte sich.

Sein Kleid war weiß wie Schnee

und das Haar auf seinem Haupt wie reine Wolle;

Feuerflammen waren sein Thron

und dessen Räder loderndes Feuer.

Da ergoss sich ein langer feuriger Strom

und brach vor ihm hervor.

Tausendmal Tausende dienten ihm,

und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm.

Das Gericht wurde gehalten

Und die Bücher wurden aufgetan.“ (Daniel 7,9-10)

Und die nächtliche Vision geht weiter und erzählt vom „Menschensohn“:

Es kam einer mit den Wolken des Himmels

wie eines Menschen Sohn

und gelangte zu dem, der uralt war,

und wurde vor ihn gebracht.

Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich,

dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten.

Seine Macht ist ewig

und vergeht nicht,

und sein Reich hat kein Ende“. (Daniel 7,13-14)

Dieses Bild vom Gericht, das gehalten wird, und den Zehntausenden, die vor dem Thron zusammenkommen, findet sich schon im Buch Daniel, das den Zuhörern Jesu bekannt war. Was ist nun das Neue in der Art, wie Jesus das erzählt?

   Das ist, dass nicht mehr ein Mann, der „uralt“ ist, richtet, sondern der Menschensohn, und dass die Bücher nicht geöffnet werden, sondern dass das Gericht darin besteht, in der Versammlung vor dem Thron zu trennen zwischen denen, die gehandelt haben, weil sie von der Not des Mitmenschen ergriffen waren, und denen, die nicht gehandelt haben.

   Im Buch Daniel ist von Reichen und Großmächten die Rede, die gerichtet und vergehen werden. In der Erzählung Jesu geht es um die Taten der Menschen für die Geringsten.

Da steht nichts in unserem Text davon, dass da ein Gericht stattfindet, und doch hat die Erzählung in der christlichen Tradition den Namen „Weltgericht“ erhalten – in einer Anspielung auf das Buch Daniel und vielleicht auch weil der Menschensohn in der Erzählung ein Urteil vollzieht und eine Unterscheidung vornimmt, was richtig und was falsch war. Die neue Unterscheidung, die der Menschensohn vornimmt, ist die zwischen Barmherzigkeit und Gleichgültigkeit.

Wenn wir nun wieder auf das Bild sehen, das Jesus in seiner Erzählung zeichnet, und die Trennung, die sich zwischen der Schar zur Rechten und zur Linken des Throns des Menschensohnes ergibt, so zeigt sich wiederum ein Unterschied: Nicht Menschen einer bestimmten Religion oder Abstammung werden voneinander unterschieden. Es sind nicht Kriminelle und Terroristen auf der einen Seite und Helden oder ordentliche Menschen auf der anderen Seite. Nicht über Mord oder Unzucht oder Untaten wird gerichtet. Vielmehr über Gleichgültigkeit und Mangel an Barmherzigkeit. „Wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?“ Wir sahen es nicht, wir achteten nicht auf dich oder die anderen Geringen. Oder es bedeutete nicht so viel für uns, dass da jemand war, der in Not war, denn das hatte ja nicht direkt etwas mit uns zu tun, und wir konnten ja nicht wissen, dass dies der göttliche Sinn des Daseins war. Siem wirken so gleichgültig, die Geringen.

Die Erzählung ist eine pädagogische biblische Geschichte: Sieh das Bild und verstehe die Moral. Da ist ein Unterschied zwischen Barmherzigkeit und Gleichgültigkeit. Die Barmherzigkeit ist der Wille Gottes im Dasein. Wenn du das versäumst, verfehlst du den Sinn des Lebens. Gleichgültigkeit und Unbarmherzigkeit sind die falsche Seite der Geschichte, Barmherzigkeit ist die richtige Seite.

Wenn wir nun versuchen, uns selbst in das Bild zu versetzen – und das dürfen wir gern, wenn wir auf die Gleichnisse Jesu hören – dann beginnt der Blick von der einen zur anderen Seite zu schwanken: Ja, es war wohl einmal, dass wo ich jemanden besucht habe, der krank war, auch wenn ich keine Lust hatte, und Steuern habe ich auch bezahlt. Aber blitzschnell flackert der Blick hinüber auf die Schar der Verlorenen auf dem Wege zum ewigen Feuer: Meistens bin ich vorbeigegangen, wenn jemand meine Hilfe brauchte, wenn es gerade nicht in meine Pläne passte und es mir zu viel wurde. Da ist ja so viel, was man soll, und die Zeit ist knapp.

Der Blick flackert über den Graben. Auf welcher Seite steht der Mensch, der sein Leben uneigennützig dazu verwandte, Menschen in Not zu helfen, aber seine Kinder vergaß? Auf welcher Seite steht der Ideologe, der gegen die Fremden hetzt, der aber sein Haus öffnet für den, der Hilfe braucht? Auf welcher Seite steht der Verbrecher, der seinem Bruder half, und auf welcher Seite der Heilige, der seine Schwester im Stich ließ?

Die klare Trennung zwischen Menschen wird zu Schwingungen hin und zurück zwischen Gut und Böse, Verdammten und Erlösten. Das Urteil des Menschensohnes löst die Trennungen zwischen Menschen auf und trennt zwischen Gleichgültigkeit und Barmherzigkeit. Die Trennungen, die wir selbst schaffen, sind sinnlos, denn Gleichgültigkeit und Barmherzigkeit kennen keine Grenzen. Die geringsten Kleinen, die Schutz, Essen, Kleider, Fürsorge, ein neues Zuhause brauche, die gibt es in alles Völkern und auf beiden Seiten aller Kriege. Die Grenze geht in den Herzen von uns allen zwischen Gleichgültigkeit und Barmherzigkeit und in unseren Händen zwischen Passivität und Handeln.

Der Erzählung vom Weltgericht ist in vieler Hinsicht eine Illustration der Aussagen Jesu in der Bergpredigt am Beginn des Matthäusevangeliums: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ Das heutige Evangelium ist die goldene Regel, die als eine Erzählung entfaltet wird. Und, sagt die Erzählung vom Weltgericht, ihr sollt das an den geringsten Kleinen tun, die nie etwas dafür wieder geben oder für euch dasselbe tun können. Ihr sollt aus Barmherzigkeit handeln.

Mit diesem Bescheid und diesem offenen Bild vor Augen verlassen wir das alte Kirchenjahr. Ist da Hoffnung in der Erzählung vom Gericht des Menschensohnes? Ja. Denn die Werke der Barmherzigkeit tragen die Ewigkeit in sich. Um sie geht es im Leben. Es sind die geringsten Kleinen, die erlöst, getröstet und gesättigt werden sollen. Und wir, die wir das Glück haben, dass wir von Jesus gehört haben, haben die Gabe bekommen, daran zu glauben, dass die Barmherzigkeit der Sinn des Lebens ist.

Dass wir dem immer wieder nicht gerecht werden und uns schuldig machen und gerichtet sind, damit müssen wir und die anderen leben. Es geht dabei alles nicht um uns. Wir sollen nur unablässig den Ruf zur Barmherzigkeit hören und darauf hoffen, dass er uns erfüllt, so dass wir danach handeln. Und wir haben den Trost, wenn wir selbst die geringsten Kleinen sind, die, die keine andere Hoffnung haben als dass jemand uns erlöst im Leben und im Tode, dass Gottes Barmherzigkeit auch uns gilt. Die Hoffnung haben wir vom Menschensohn. Er kommt, wenn es am finstersten ist, und macht alles neu. Amen.

Bischöfin Marianne Christiansen

Ribe Landevej 37
6100 Haderslev

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