4. Mose 21,4-9

4. Mose 21,4-9

Die Urszene einer Glaubensheilung | Reminiscere | 25.02.2024 | 4. Mose 21,4-9 | Manfred Mielke |

Warum sind Durststrecken so lang? Werden wir jemals im Gelobten Land ankommen? Wir irren durch Wüsten. Haben wir uns auch in Gott geirrt? Liebe Gemeinde, solche Fragen murrte das Volk der Israeliten auf den letzten Kilometern vor dem Gelobten Land. Dann radikalisierte sich ihre Wut gegen Gott und dennoch rettete er sie in einer spektakulären Aktion. Davon berichtet das 4. Mosebuch im Einzelnen so: Da brach das Volk Israel auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier und uns ekelt vor dieser mageren Speise. Da sandte Jahwe feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider Jahwe und wider dich geredet haben. Bitte unseren Gott, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach Jahwe zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben. (4Mo 21,4-9)

Wir sehen eine Schlange auf einer Stange, vermutlich aus Kupfer; aufgerichtet in den letzten Kilometern der Flucht durch die Wüste. Für die Navigation wäre ein Verkehrsschild praktischer, aber fürs Überleben ist die eherne Schlange die einzige Rettung. Sie steht erhöht und glänzt und ist doch kalt und leblos. Insgesamt strahlt sie eine Stille und Bergung aus, ganz im Kontrast zur lebensfeindlichen Sonne und zum Gift ihrer blitzschnellen Verwandten. Sie mutet an wie eine Installation aus einer anderen Welt, fremd und angstlösend zugleich, faszinierend und ebenso irritierend. Sie ist mehr als ein Relikt aus der Vorzeit, sie verweist auch auf unsere Kämpfe gegen heimtückische Konflikte. Wie können wir angesichts dieser surrealen Skulptur eine reale Zuversicht gewinnen inmitten unserer verschlungenen Bedrohungen?

Dafür lohnt sich ein Blick in die Vorgeschichte. Die Israeliten waren als Hebräer ausgebeutete Sklaven der Ägypter. Deren Pharao lässt sie nur ziehen, weil 10 gewaltige Naturplagen ihn einschüchtern. Jahwe, der Gott der Hebräer, hat sie ihm auf den Hals geschickt. Er ist es auch, der seine Leute durch das Rote Meer und durch die Sinai-Wüste hindurchrettet. Als sie gegen ihren Jahwe-Gott meutern, erneuert er ihnen ihre Hoffnungen. Er orientiert sie durch Wolken- und Feuersäulen und durch die 10 Gebote. Er spendet ihnen Trinkwasser, Manna und Wachteln in guter Dosierung und zuverlässiger Lieferkette.

Das verheißene Land Kanaan ist schon in Reichweite, da stellen sich die Edomiter quer. Sie leiten sich vom Erzvater Esau ab, die Hebräer von dessen Zwillingsbruder Jakob. Sie sind also ein Brudervolk, dennoch verweigern sie den Hebräern die Durchreise. Also müssen sie einen langen Umweg antreten durch ultratrockene Wüstengegenden. Dort geht ihnen die Luft aus, die Seelenkraft und die Gottesbindung. Sie sind niedergeschlagen, nur ihr „Murren“ gegen Gott und Mose lodert auf. Bisher war das tägliche Manna süß und fluffig, doch jetzt klebt die schwabbelige Masse unangenehm am Gaumen. Bisher hatten sie köstliche Wachteln im Überfluss, doch jetzt kauen die sich wie Gummi-Adler. Ein Gott, der in der Wüste nicht mehr weiterweiß, ist ein Gott zuviel.

Beim ersten Mal hatte Gott ihr Murren positiv erhört und ihnen Navigationshilfen gegeben. Beim zweiten Mal lästern sie jedoch über seine Unzuverlässigkeit, und dagegen entscheidet er: Her mit den Schlangen! (1) Derselbe Gott, der sie navigiert und versorgt hatte, entfesselt nach den 10 Plagen gegen Pharao nun die 11. Plage gegen sein eigenes Volk. Vipern, Brandnattern, Spei-Kobras, alles, was zwei spitze Zähne hat für eine tödliche Injektion. Sie kriechen aus ihren Tunnelsystemen hervor; in kurzer Zeit steigt die Zahl ihrer Opfer sprunghaft an. Da geschieht das Wunder des ersten Anfangs. Einige Mutige rennen los, im Slalom durch die am Boden Liegenden. Unterwegs reift in ihnen das Wunder der Ehrlichkeit. Sie gestehen dem Mose: „Wir haben gesündigt, dass wir wider Jahwe und wider dich geredet haben. Bitte unseren Gott, dass er die Schlangen von uns nehme.“ – Und Mose bat für das Volk. Da sprach Jahwe zu Mose: „Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben.“ Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben. Moment, nicht so schnell, sagen wir, es geht ja nicht um einen verhuschten Zaubertrick, sondern um ein Heilungswunder als gemeinsames Umlernen. Weg vom Massensterben hin zu einem Überleben. Zudem ist die Anfertigung einer Metallfigur zeitraubend und aufwändig – und Gottes Änderungen seiner Vorgehensweise sind erheblich. Warum also nicht beide Prozesse parallel bedenken?

Die Hebräer schrieben auf ihre To-Do-Liste: Die Steinmetze müssen aus Sandsteinen eine hohle Gussform lebensecht ausmeißeln. Die Kundschafter müssen Kupfer einkaufen, zB bei den Edomitern, die bei Timna Erzgruben betreiben. Die Ofenbauer müssen Gruben auskleiden, in denen sie das Feuer auf 1000 °C entfachen können. Bis dann das Kupfer oder die Bronze geschmolzen, eingegossen und abgekühlt sein wird, vergehen Stunden und Tage. Die giftigen Schlangen werden dabei nicht andächtig zugeschaut haben wie wir beim Besuch in einer Glockengießerei. Das alles gelang den Israeliten also unter höchster Lebensgefahr, jedoch mit der kühnen Zuversicht, dass Gott schon weiß, worauf er abzielt.

Aber welche innere To-Do-Liste hatte Gott? Zuerst verurteilt er sein Volk zu einem noch schnelleren Tod als das langsame Verdursten und Verhungern. (2) Dann nimmt er das Schuldwort seines Volkes an und rettet möglichst Viele. Dazu zertritt er aber nicht jeder einzelnen Schlange den Kopf entzwei. Vielmehr stärkt er Moses Position und verpflichtet alle zur Arbeit mit Lehm und Sand, Erz und Feuer. Es ist wie bei der Vertreibung aus dem Paradies. Wir Menschen murren gegen Gott, wenn uns der fragliche Wohlstand nicht mehr schmeckt. Doch da er auf einer gedeihlichen Zusammenarbeit besteht, wendet er sich von seinem Zorn ab hin zur Kreativität. Er lässt eine eherne Schlange anfertigen. Damit verändert er alle Schlangen wesenhaft. Er lässt sie zu einer einzigen erstarren, verriegelt ihr Gebiss und stoppt so ihre Tötungsfähigkeit. Er lässt die angefertigte Schlange weithin sichtbar errichten, wie ein Pfeil nach oben. (3) So lenkt er die Blicke derjenigen, die um ihre letzten Atemzüge kämpfen. Gott entzaubert die banalen Wunder, die wir von ihm erwarten. Er lässt uns an unserer Rettung mitarbeiten und errichtet dazu außerhalb seiner selbst ein Symbol, das seine Hilfe vermittelt. Ein nachhaltiges Standbild, das „das Versagen des Volkes nicht vergessen lässt“. (4) Ein Monument, das über sich hinausweist. Ein Hingucker, der unsre Augen öffnet – für mehr.

Hier möchte ich ein Erlebnis einfügen. Wir waren als Studenten in einem Campingbus in Israel unterwegs und badeten an einem abgelegenen Strand des Sees Genezareth. Als wir im Buschland umherstreiften, spürte ich plötzlich einen Stich an meiner rechten Ferse. Ich sah keinerlei Ursache, aber eine rote Linie an meiner Wade, die hoch und höher wuchs. Das klassische Bild einer Blutvergiftung! Angst kroch in mir hoch. Ich bündelte alle meine Kräfte auf die Entzündung, ich sah und spürte nichts anderes mehr. Letztlich stoppte aber nicht mein magischer Blick das Gift, es war wohl meine robuste Resilienz. Die Rötung ging zurück und verblasste, Gott hatte mir offensichtlich geholfen. Ich konnte das Starren auf mein Bein beenden und wurde wieder fit zum Badengehen und für die Weiterreise. (5) – Dieses Wegschauen vom Gift, dieses Aufschauen auf ihn will Gott seinem Volk ermöglichen, damit es die Rettung von ihm annehmen kann. „Denn wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.“ Es ist vordergründig das fast abergläubige Anstarren eines Metall-Reptils, aber innerlich ist es das Hinausschauen darüber hinaus. Auf Gottes Handeln hin, der auch im Chaos, im Kampf und im Surrealismus uns sein Heil vermittelt. Den feurigen Schlangen hatte Gott eine Metamorphose verpasst hin zu einer ehernen Schlange. Er hatte sie gebannt und dingfest machen lassen. Dabei hatte er sich gegen sein Todesurteil entschieden, sich wieder Respekt verschafft und seinem halsstarrigen Volk das Überleben in einem geheilten Glauben geschenkt.

Wie aber ging es weiter mit der Schlange auf der Stange? Vom Goldenen Kalb hören wir, dass Mose es wütend einschmolz, zu Staub zerrieb und ins Wasser streute; es überlebte die Wüste nicht. Ähnlich erging es später der ehernen Schlange. Sie wurde zwar ins Gelobte Land mitgenommen und an einer Pilgerstätte aufgestellt. Jahrhundertelang wurde ihr kultisch „geräuchert“, bis der junge König Hiskia sie dann schredderte, weil er die Übertragung der Majestät Gottes auf eine Statuette als Götzendienst verstand. (Vielleicht auch, weil eine ägyptische Reliquie angesichts der heranstürmenden Babylonier nicht mehr opportun war.) Auch wir müssen prüfen, welche falschen Idole wir ausmustern und wie wir unsern Glauben der neuen Großwetterlage anpassen. Denn ein Kult um Götzen herum behindert guten Pragmatismus, lähmt das spirituelle Empfinden und vergiftet unser Zusammenleben. Auch dafür wird unsere Genesung mit einem Eingeständnis beginnen.

Der Tanz um das Goldene Kalb war die „Urszene des Götzendienstes“, das Aufschauen über die eherne Schlange hinweg wird für uns zur „Urszene einer Glaubensheilung“. Der Evangelist Johannes hat diese Heilung meditativ zusammengeschaut mit Jesu Kreuzigung und Auferweckung. Zum fragenden Nikodemus sagte Jesus: „So wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ Als Kind hörte ich ein Lied, das unsre Glaubensheilung so beschreibt: „Wer Jesus am Kreuze im Glauben erblickt, wird heil zu derselbigen Stund.“ (6) Amen

(1) „Es komme die Schlange, die wegen Nahrung nicht gemurrt hat, und herrsche über das Volk, das wegen seiner Nahrung gemurrt hat.“ nach: Targum Codex Neophyti (2) „Gott ist tödlicher als mein eigener Tod!“ in: Bibelwissenschaft, zur Stelle; (3) Auf dem Misereor-Hungertuch aus Haiti (2007) beginnt die Schlange als Messer eines Mörders, windet sich hinter dem Gekreuzigten hoch und wird zu einem gefiederten Serafen, einem Paradiesvogel. (4) H. Seebass Kommentar S. 327 (5) Das Adventslied „Gott sei Dank durch alle Welt“ (EG 12) hatte die Verse: „Tröste, tröste meinem Sinn, weil ich schwach und blöde bin und des Satans schlaue List sich zu hoch an mir vermisst. Tritt der Schlange Kopf entzwei, daß ich, aller Ängste frei, dir im Glauben um und an selig bleibe zugetan.“ Text: Heinrich Held 1658 (6) Text: Theodor Kübler 1875 Melodie: Edward G. Taylor 1860

Liedvorschläge:

Gott sei Dank durch alle Welt EG 12

Wir haben Gottes Spuren festgestellt

Herr, du hast mich angerührt EG 383

Erschienen ist der herrlich Tag EG 106

When Israel was in Egypts land

Gott, brich unsre Verstocktheit auf (cantate 121)

Als Meditation vor den Fürbitten:

„Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.“ aus: Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, btb Verlag, S. 198; zitiert aus: Fürbitten des Bistums Mainz

Fürbitten:

Gott, über alle Zweifel hinweg bist Du unsre Hoffnung.

Wir gestehen Dir unsre Niedergeschlagenheit

und hoffen auf deine Barmherzigkeit.

In deine Hände legen wir sanft alle Verletzten.
Die, deren Körper Wunden tragen, und die, deren Seelen verletzt sind.

Herr, erbarme dich

In deine Hände legen wir sanft alle Kraftlosen.
Die, die sich alleine fühlen, und die, deren Wege versperrt sind.

Herr, erbarme dich

In deine Hände legen wir sanft alle Migranten.
Die, die entwurzelt sind und die, die neue Wurzeln wagen.

Herr, erbarme dich

In deine Hände legen wir sanft alle Mürrischen.

Die, die dich beschämen, und die, die alles schlechtreden.

Herr, erbarme dich

In deine Hände legen wir sanft alle Übermütigen.

Die, die den Absprung üben, und die, die uns Horizonte öffnen.

Herr, erbarme dich

In deine Hände legen wir sanft alle Draufgänger.

Die, die alles riskieren, und die, die uns mitreißen.

Herr, erbarme dich

Nimm auch uns und deine Menschheit, jetzt und hier

in deine sanften und starken Hände. Amen

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geboren 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und DEKT. Partnerschaftsprojekte in Ungarn (1988- 2011) und Ruanda (2001-2019). Musiker und Arrangeur.

de_DEDeutsch