Klagelieder 3,22-26.31-32

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Klagelieder 3,22-26.31-32

„Treib aus, o Licht, all Finsternis.“ | Klagelieder 3, 22-26.31-32 | Predigt am Sonntag 19. September 2021 | von Eberhard Busch |

In dem verlesenen Predigttext heißt es klar und gut und ermutigend: „Die Güte des Herrn ist es, dass es mit uns nicht gar aus ist, sondern sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist groß.“ Dem ist das Lied nachgedichtet, das wir gleich auch miteinander singen werden – es stammt von Johannes Zwick, dem Reformator in der Stadt Konstanz: „All morgen ist ganz frisch neu / des Herren Gnad‘ und große Treu. / Sie hat kein End den langen Tag, / drauf jeder sich verlassen mag “

Wer spricht so und wer singt so? Sind das Menschen, die guter Laune sind, weil es ihnen gut geht, Menschen, die wegschauen vom Elend in der Ferne und in der Nähe? Ertönt ihr Gesang auf einer erträumten Insel der Seligen, abseits vom realem Leben? Aber achten wir darauf: diese Worte stehen mitten in dem biblischen Buch, das nicht umsonst den Titel trägt: „Klagelieder,“ Wenn wir vor und nach unseren Predigt-Worten in den Text schauen, hören wir Arges, schwer Erträgliches, Trauriges, Bitteres. Etwa so wie das, was wir aus den Tagesnachrichten kennen: über die bedrängten Frauen in Afghanistan, über die vom Tod bedrohten Flüchtlinge im Mittelmeer, über Corona-Tote in Afrika. Jene Klagelieder tönen so herzergreifend, dass schon manche Komponisten sie in Trauer-Musik gefasst haben.

Die Texte reden derart bewegend im Blick auf die Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Babylonier im Jahr 587 vor Christi Geburt. Bitte, das war nicht irgendein Häuser-Abriss, um einen andren Bau oder einen Parkplatz dahin zu setzen. Im Tempel ist die Gegenwart Gottes unter den Seinen verbürgt. Man weiß: Gott ist nicht irgendwo und nirgendwo. Gott ist hier. „Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht“, wie es in einem Choral heißt. Wenn dieses Gotteshaus Schaden erleidet, dann ist Gottes Nähe in Frage gestellt. Wenn Gottes Gegenwart angefochten wird, dann legt es sich auf unsre Lippen: „Wo ist Gott? Wo bist du?“

Noch heute stehen deshalb Juden an der Klagemauer zu Jerusalem und sprechen voll Trauer die Worte dieser Klagelieder. „Wo ist nun dein Gott?“ (Ps 42,10) Und Christen schließen sich diesen Juden an in der Karwoche vor dem Karfreitag. Angesichts des Kreuze bohrt auch in ihnen die Frage: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2; Mt 27,46) Das sind Worte, die sich noch so manchen in unseren Zeiten nahelegen. Genau so, wie es schon in jenen Klageliedern geseufzt wird: „Gott hat mich geführt in die Finsternis und nicht ins Licht“ (3, 2) „Schaut doch und seht, ob irgendein Schmerz ist wie mein Schmerz, der mich getroffen hat. … Mein Auge fließt von Tränen; denn der Tröster, der meine Seele erquicken sollte, ist ferne von mir“ (1, 12.16). Was wird aus uns, wenn das dahin fällt?

Und nun mittendrin in dem Geseufze stehen wie ein hell strahlender Leuchter die Sätze, die wir schon gehört haben: voller Trost, voller Evangelium. Sätze, die Licht in das Dunkel bringen. Nach dem Dunkel, nach der Nacht ein Morgen, an dem die Sonne aufgeht, ein Licht von besonderer Qualität, eines, das die Nacht vertreibt. Dietrich Bonhoeffer schrieb noch kurz vor seinem Tod: „Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.“ Wir können dieses Tröstliche nicht vernehmen abgelöst von all dem Trostlosen. Ja, aber wir können nicht seufzen und nicht klagen, ohne dass uns das zugesprochen wird: „Die Güte des Herrn ist es, dass es mit uns nicht gar aus ist, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist groß.“ Und gerade heute sind wir eingeladen, vor allem Anderen und unter allem Anderen genau das zu hören, darauf zu achten, uns das hinter die Ohren zu schreiben. Um uns daran zu freuen, uns daran aufzurichten. Wie es in dem in der Schweiz populären „Beresina“-Lied heißt: „Mutig, mutig, liebe Brüder / Gebt die bangen Sorgen auf, / morgen geht die Sonne wieder / freundlich an dem Himmel auf.“

Wundervolles ist uns zugesprochen: Gottlob, auch alles Verkehrte hört einmal auf, denn Gottes Gnad und Treu hört nicht auf. Was auch am heutigen Tag alles geschehen mag, das bewährt sich jedenfalls heute auch und wird nicht außer Kraft gesetzt durch das Dunkle und gilt bei jedem Schritt und jedem Gedanken: Gottes „Treue ist groß“. Auch wenn sich jetzt etwas Überraschendes zuträgt, worauf wir nicht gefasst sind, uns ist zugesagt:„Die Güte des Herrn ist es, dass wir nicht gar aus sind.“ Auch wenn etwas geschieht nach Art des Films „Der längste Tag“, auch wenn Kranken eine längste Nacht widerfährt, so oder so: „die Güte des Herrn ist jeden Morgen neu“. Ja, auch wenn unsre Tage gezählt sind und wenn unsere Kraft am Ende ist, so gilt selbst dann: „seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende“

Bedenken wir diesen köstlichen Zuspruch von verschiedenen Seiten her! Zunächst dies: Gott ist uns nahe auch dann, wenn er uns ferne scheint, auch dann, wenn wir ihn für abwesend halten, wenn wir darum von ihm absehen. Er ist bei uns auch, wenn wir meinen, wir müssten jetzt ohne ihn auskommen, müssten ohne ihn zurechtkommen. Auch dann steht er uns zur Seite. Auch dann sind wir nicht gottvergessen. Mag sein: wir sehen das nicht. Wir bezweifeln es. Wir bilden uns ein, wir sähen bloße Hirngespinste, wenn wir von ihm reden. O nein, es ist auch dann fest wie Granit, wie es im Liede heißt: „Er weiß dein Leid und heimlich Grämen. Auch weiß er Zeit, dir‘s abzunehmen.“ Denn „seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.“ Wir dürfen aufatmen, selbst wenn uns anders zumute ist.

Allerdings, auch das ist wahr: Gott könnte fern von uns sein. Gott könnte einen Strich durch unsere Rechnungen machen. Gott könnte uns sogar uns selbst überlassen. Und das ist sein Gericht, wenn er das tatsächlich tut. Er ist halt keine Puppe, mit der man tun und lassen kann, was einem beliebt. Er handelt nach seinem Wohlgefallen. Wir bestimmen nicht über ihn. Er bestimmt über uns. Gut, wenn uns das eines Tages auch einmal einleuchtet. Doch mögen wir dann auch sehen, was im Grunde sein Wohlgefallen ist: „Wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht.“ Er könnte uns verlassen, wenn einer, dann er. Aber er tut es nicht. Das Wunder aller Wunder, wenn uns trotzdem seine Barmherzigkeit widerfährt. „Sie ist alle morgen neu.“ „All morgen ist ganz frisch und neu / das Herren Gnad‘ und große Treu.“ Seine Gnad und Treu ist uns jedes Mal aufs Neue eine Überraschung. Immer wieder begegnet sie uns in anderer Gestalt und ist doch jedes Mal dieselbe.

Ein Wunder! Gott ist uns nämlich auch dann nahe, näher, als wir uns selbst sind, wenn wir ferne von ihm sind. Das ist nun einmal unsere Unart, dass wir für gewöhnlich unsere Sachen ohne ihn machen. Wir sehen davon ab, dass er doch ein Wörtlein mitzureden hat bei dem, was wir anstellen. Wir nennen uns wohl Christen, wir spannen ihn auch vor den Wagen unsrer Vorhaben, aber ob Gott das will, danach fragen wir selten genug. Wir vergessen tatsächlich bei so vielem seine Wahrheit und seine Güte und seine Treue. Die sind verlässlich, aber können Andere sich auf unsre Wahrheit, auf unsre Güte und Treue verlassen? Ist es nicht so: Sein Licht leuchtet uns, aber wir sind keine Leuchte unter unseren Mitmenschen? Dazu muss Gott Nein sagen, auch wenn uns das schmerzt, auch wenn es uns nicht gelegen kommt. Hören wir, was unser Bibeltext sagt: Unser Gott „betrübt wohl“. Doch sogleich heißt es: „und er erbarmt ich wieder nach seiner großen Güte.“  Gottlob, „seine Treue ist groß.“ Er hört nicht auf, uns Untreuen mit seinem Erbarmen zu leuchten. In seiner Treue hat Gott Geduld mit uns. Und wartet auf uns.

Ja, Gott wartet darauf, dass es eines guten Tages dazu komme, wie unser Bibeltext sagt: “Gott ist freundlich dem, der auf ihn hofft.“ Darauf wartet Gott: dass wir endlich aus unserm Frost auftauen an seinem Licht. Wie lange wartet Gott schon darauf – auf unsere Einwilligung, darauf, dass nicht nur er seine Hand nach uns ausstreckt, sondern dass wir sie auch ergreifen?! Darauf, dass nicht nur er zu uns Ja sagt, sondern dass auch wir ihm unser Jawort geben?! Dann wird sich erfüllen, was Jesus zu den Seinen gesagt hat: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). Ein Licht, das auch denen leuchtet, die im Mittelmeer zu ertrinken drohen. Gott wartet darauf, dass wir Anderen ein Licht sind, Anderen ein-leuchten, Anderen den Weg leuchten.

Schütteln wir dazu den Kopf? Es gibt ein Besseres: Halten wir uns an den Einen, der uns vorangegangen ist und uns immer weiter vorangeht, an den, der als Erster angefangen hat, das von sich selbst zu sagen: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). Folgen wir ihm! Und beten nach jenem Lied des Reformators Johannes Zwick:  „O Gott, du schöner Morgenstern, gib uns, was wir von dir begehr‘n“: „treib aus, o Licht, all Finsternis“, und „zünd deine Lichter in uns an.“

Eberhard Busch

37133 Friedland

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