Liedpredigt zu EG 395

Home / Kasus / 16. So. n. Trinitatis / Liedpredigt zu EG 395
Liedpredigt zu EG 395

„Vertraut den neuen Wegen“ | 16. Sonntag nach Trinitatis (19. 9.) 2021 St. Marien, Göttingen Liedpredigt zu EG 395 | Verfasst von Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Gegenstand der Predigt ist heute ein bekanntes Lied: „Vertraut den neuen Wegen“. Es gehört für mich zu den schönsten Liedern im Gesangbuch, und es passt auch zum Thema des Sonntags, wie es der Wochenspruch und die Schriftlesungen vorgeben. Ich bitte Sie jetzt, es aufzuschlagen. Sie finden es unter der Nummer 395.

Der Dichter des Liedes ist Klaus Peter Hertzsch, Professor für Praktische Theologie in Jena, 2015 gestorben. Hertzsch hat sich in der DDR in vielfältiger Weise für die Kirche engagiert, weit über sein akademisches Amt hinaus. Unser Lied aber hat er für einen privaten Anlass verfasst. Es wurde ziemlich rasch an einem Abend in einem Hotelzimmer niedergeschrieben. Es war betimmt für die Trauung seiner Patentochter am 4. August 1989. Hertzsch hat das Lied deshalb selbst bescheiden als Gelegenheitspoesie bezeichnet. Aber die große Wirkung, die es seitdem gehabt hat, zeigt, dass es doch mehr ist als das, was die meisten von uns bei so einer privaten Gelegenheit zustande bringen.

Ein Hochzeitslied also, geschrieben kurz vor dem Fall der Berliner Mauer 1989. Beide Zeitangaben sind für das Verständnis wichtig. Eine Hochzeit ist im Leben eines Menschen ein besonderes Ereignis. Mit ihr beginnt ein ganz neuer Lebensabschnitt. Die vor dem jungen Paar liegende Zukunft ist natürlich ein ihm noch ganz unbekanntes Land. Aber die herzliche Liebe überwiegt alle möglichen Befürchtungen, und das Fest ist gekennzeichnet durch die große Vorfreude auf ein hoffentlich langes gemeinsames Leben. – Zugleich war das Jahr 1989 die Zeit eines – im August noch bevorstehenden – tiefen politischen Umbruchs. Noch war freilich ganz ungewiss, was aus der wachsenden Unruhe im Land werden würde. Noch musste man damit rechnen, dass ein möglicher Aufstand brutal niedergeknüppelt würde, so wie schon früher in Prag oder auch in Berlin und Budapest. Und doch war die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage und mit der Bespitzelung durch die Stasi so groß, dass das zarte Pflänzchen der Hoffnung auf Befreiung nicht mehr totzutreten war.

Diese Situation müssen wir vor Augen haben, wenn wir unser Lied verstehen wollen: die Hoffnungen des Hochzeitspaares und die vagen politischen Erwartungen in der DDR vor über 30 Jahren. Seine religiösen Sätze hängen nicht in der Luft, sondern sind fest verwurzelt in der privaten und der öffentlichen Wirklichkeit. Zugleich aber weist das Lied mit jeder Zeile über diese Gegebenheiten hinaus auf das, was der christliche Glaube zu unseren menschlichen Hoffnungen und Befürchtungen zu sagen hat. Darum haben seine Worte auch heute noch Bestand, und wir können die Linien von damals ausziehen auf das hin, was uns heute bewegt.

Nun lassen Sie uns das Lied genauer ansehen.

„Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt, sich regen, weil Leben wandern heißt.“

Vertrauen heißt, sein Herz über die Grenze werfen in die Zukunft hinein. Der Weg in die Zukunft ist immer neu und unbekannt. Am Beginn einer Ehe wissen die beiden jungen Menschen noch nichts von den Proben, auf die ihre Liebe in den kommenden Jahren gestellt werden wird. Und so wenig man in der DDR im August 1989 wissen konnte, wie es politisch weitergehen würde, so wenig wissen wir heute, wie die politische Landschaft nach der Bundestagswahl am nächsten Sonntag aussehen wird. Aber die Entscheidung für den Ehepartner oder für das Kreuzchen auf dem Wahlzettel endlos hinauszuschieben oder gar sich ganz davor zu drücken ist keine Option. Leben heißt Neues gestalten. Das gilt auch für uns Christen. Auch uns ist unbekannt, was uns auf neuen Wegen alles begegnen wird. Aber wir sind ein wanderndes Gottesvolk, sagt die Bibel, nicht träge Zuschauer, die sich darauf beschränken, die aktiven Wanderer zu beklatschen. Gott weist uns auf den Weg, dass wir ihn erkunden und dann auch entschlossen gehen.

 „Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand, sind Menschen ausgezogen, in das gelobte Land.“

Das ist eine Erinnerung an die Geschichte vom Ende der Sintflut: Dort erschien ein Regenbogen am Himmel, um anzukündigen, dass Gott die Menschheit nicht noch einmal vernichten will. Das „gelobte Land“ dagegen erinnert an die Ankunft des Volkes Israel in Palästina, nach dem mühsamen und verlustreichen Auszug aus Ägypten. Mit diesen beiden Erinnerungen an biblische Geschichten sagt uns Hertzsch: Den neuen Wegen Gottes zu vertrauen heißt nicht, die Augen vor den Gefahren zu verschließen, die uns unterwegs bedrohen werden. Ja, das gelobte Land ungetrübter Harmonie, vollkommener Gerechtigkeit und ewigen Friedens wird in der menschlichen Geschichte niemals wirklich erreicht werden. Das hat ja gerade das Volk Israel besonders schmerzlich erfahren. Die „neuen Wege“ ins „gelobte Land“ enden erst in Gottes Ewigkeit. Wir bleiben unterwegs. Aber wir haben dabei die feste Zusage Gottes im Rücken, dass er uns nicht im Stich lassen wird.

(Gemeinde singt die erste Strophe)

***

Vers 2: „Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit! Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.“

Jetzt nimmt der Dichter den Faden wieder auf. Das gelobte Land, die ewige Seligkeit bei Gott, mag erst jenseits der Geschichte wirklich werden. Aber das erlaubt uns nicht, aus der Zeit auszuwandern und griesgrämig die Hände in den Schoß zu legen. Nein, wandert mutig in die Zeit hinein! Tut etwas, damit sich unerträglich gewordene Zustände verändern, übernehmt Verantwortung! Lasst nicht zu, dass Gottes schöne Erde vor die Hunde geht! Ihr sollt ein Segen für diese Erde sein. Daran hat Hertzsch auch selbst gehalten. Er hat sich nicht auf seine Universitätsinsel zurückgezogen, sondern klar und öffentlich Stellung bezogen. So z. B. in einer Rede im September 1989, als die politische Lage schon hoffnungsvoller erschien als zu der Zeit, wo das Lied entstand. Klipp und klar nannte er vier Punkte, auf die es ihm ankam: 1. Die Führung der SED muss verschwinden, aber sie darf nicht zum neuen Feindbild werden. 2. Die Wirtschaft in der DDR muss umgekrempelt werden, aber die Herrschaft der Funktionäre darf nicht durch die Herrschaft der Millionäre ersetzt werden. 3. Das materielle Leben muss besser werden, aber zuvor muss den viel Ärmeren in der Dritten Welt geholfen werden. 4. Das Schwierigste: Die Erde muss für kommende Generationen bewohnbar bleiben. Lauter Forderungen, die noch nicht das gelobte Land Gottes hervorbringen, aber im Blick darauf entworfen sind.

Hertzsch hat in einem Interview 20 Jahre nach seiner Rede aus seiner Enttäuschung kein Hehl gemacht, dass alle vier Forderungen teils gar nicht, teils ganz unzureichend erfüllt worden sind. Aber er hat nicht aufgegeben. Dass wir ein Segen für die Erde und für die Menschen um uns herum sein sollen, das bleibt unsere Aufgabe, lebenslang.

„Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht, der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.“

Gott wird uns leiten. Wir brauchen also nicht umständliche Nachforschungen anzustellen, um herauszufinden, wo und womit wir denn vielleicht, unter Umständen, ein Segen für andere Menschen werden könnten. Gott stößt uns mit der Nase auf solche Stellen: wo in unserer Familien oder Nachbarschaft jemand ist, der sich als schwarzes Schaf fühlt, wo an der Arbeitsstelle jemand gemobbt wird, wo jemand gegen Ausländer hetzt. Und wir werden alle gebraucht. Als einst der spätere Prophet Jeremia sich weigerte, eine sehr unpopuläre Botschaft Gottes an sein Volk öffentlich zu verkünden, weil er für so etwas zu jung sei, hat Gott ihn mit dieser Entschuldigung nicht durchkommen lassen. Zu jung zu sein, darauf können sich die meisten von uns heute morgen nicht herausreden. Eher könnte einem von uns einfallen zu sagen: Ich bin seit 20 Jahren im Ruhestand und zu alt, um von Gott noch gebraucht zu werden. Doch, Gott braucht auch uns Alte. Weil wir mehr Zeit haben als die Jüngeren, braucht er uns dazu, dass wir anderen geduldig zuhören, die sich von ihren Sorgen erdrückt fühlen. Und es kann doch sein, dass er uns einen Einfall schenkt, der weiterhilft. (Gemeinde singt die zweite Strophe)

***

Schließlich werden wir zum dritten Mal aufgerufen:

„Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt! Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land.“

Hier musste ich besonders an uns als christliche Kirche denken. Wir brauchen ja, um Klarheit über unseren Glauben zu bekommen, immer die Bibel, also ein ganz altes Buch. Es scheint also, dass unser Glaube uns bei der großen Vergangenheit festhält und gerade nicht in die Zukunft weist. So kommt es, dass wir so sehr dazu neigen, uns auf Traditionspflege zu konzentrieren und möglichst alles so zu lassen, wie es immer gewesen ist. Aber das ist ein fatales Missverständnis. Die Bibel ist zwar sicher aus ihrer Zeit zu verstehen. Aber sie ist zugleich ein Echo von Gottes Ruf, unsere Welt nach seinem Willen immer wieder neu zu gestalten. Auf heute bezogen: Was wollen wir als Gemeinde aus der großen Chance machen, die uns das neue Diakonische Zentrum gleich nebenan in absehbarer Zeit bieten wird? Darüber müssen wir doch alle nachdenken, nicht nur der Pastor.

„Wer aufbricht, der kann hoffen, in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“

Die zeitliche Zukunft erscheint uns manchmal eher dunkel. Wie soll das nur weitergehen in all den Ländern, in denen grausame Tyrannen herrschen, mit all den politischen Extremisten in Deutschland und mit den Verschwörungstheorien, denen so viele Leute aufsitzen, mit der zunehmenden Gewalt gegen Polizei und Rettungskräfte, sagen die einen. Und was für eine Zukunft soll das denn sein mit meiner wackligen Gesundheit, mit dem immer wieder aufflammenden Streit in der Familie, mit der drohenden Entlassung auf der Arbeit, sagen die anderen. Lauter begründete Sorgen. Und doch lässt Gott immer wieder das Licht seiner Ewigkeit in unsere Zeit hineinscheinen. Dann öffnet sich ganz unerwartet das Tor dorthin, wo es hell und weit ist. Hindurchgehen müssen wir dann schon selber.

Amen.

(Gemeinde singt die letzte Strophe)

Dietz Lange, geb. 1933, Professor für Systematische Theologie 1977–1998, ehrenamtlicher Prediger an St. Marien in Göttingen seit 1988.

de_DEDeutsch