Psalm 85,9-14

Psalm 85,9-14

Unsere Sehnsucht und Gottes Hilfe | Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres | 7.November 2021 | Predigt über Psalm 85,9-14 | verfasst von Ulrich Wiesjahn |

Liebe Gemeinde!

Das vielumstrittene Verhältnis von Judentum zum Christentum vergleiche ich jetzt einmal mit dem von Mutter und Tochter. Und da ahnt jeder, dass das gar nicht so eindeutig sein kann. Das sind und bleiben zwei ganz verschiedene Personen, gewiss mit vielen Übereinstimmungen, aber auch mit ebenso vielen Unterschieden. Zu den religiösen Unterschieden zähle ich die biologische Zugehörigkeit bei den Juden und deren wurzeltiefe Verbindlichkeit der fast unüberschaubaren Gesetzesfülle. Zur wunderbaren Gemeinsamkeit aber zähle ich die Liebe beider Religionen zu den Psalmen, diesen eindrucksvollen Lieder und Gebeten aus dem Alten Testament. Auch wenn die junge Christenheit nicht alle Worte, Gedanken und Empfindungen nachvollziehen konnte, sang und betete sie mit Inbrunst diese alten Lieder und Herzensseufzer, als wären sie direkt auf sie zugeschnitten. Und wenn wir etwa den 23.Psalm „Der Herr ist mein Hirte“ nachsprechen, ja, dann spricht er auch uns unmittelbar aus der Seele. Und wenn wir heute den 2.Teil des Psalms 85 bedenken und innerlich nachfühlen, dann klingt dort vieles aus unserer eigenen Sehnsucht auf. Doch wie verbinden sich unsere Sehnsucht und der Beistand Gottes? Das ist dann die entscheidende Frage.

Bevor wir die Verse hören, möchte ich schon einmal drei Grundvoraussetzungen zum richtigen Verstehen nennen. Erstens: Gott ist nahe, er ist da, er ist anwesend – aber erst einmal unerkennbar. Zweitens: Der Mensch ist Gottes Gesprächspartner. Und drittens: Eine Lebensgestaltung gelingt nur gemeinsam mit diesem anwesend-unerkennbaren Gott. – Und nun hören wir die Verse 9-14 aus Psalm 85 (evtl. von einem anderen vorgelesen):

„Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten. Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserem Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; dass uns auch der Herr Gutes tue und unserem Land seine Frucht gebe; dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.“

Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer!

Worauf haben Sie eben besonders aufgemerkt? Nun, ich vermute auf die Worte Ihrer eigenen Sehnsucht. Und die lauten: Gerechtigkeit und Friede, Güte und Treue, Frucht und Gutes. Das sind Urworte unserer Sehnsucht. Und die haben wir gerade in dem hinter uns liegenden Wahlkampf dann auch immer wieder gehört.

Doch zugleich hören wir ja auch unsere Herzensfragen: Warum gibt es denn keinen Frieden? Warum geht es in der Welt ungerecht zu? Warum fehlt es überall an Güte und Treue, während Raffgier, Egoismus und Gemeinheit überall zu sehen sind?

Und schon sind wir mitten im Streit der Gefühle, Gedanken, des Verhaltens. Und deshalb soll uns jetzt das vielleicht Überhörte zum Nachdenken bringen. „Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet!“ Damit beginnt es, aber was heißt es? Vielleicht dieses: Mach nicht den zweiten Schritt vor dem ersten! Du willst am liebsten loslegen mit Tun und Handeln und schnellen Ergebnissen. Oder du glaubst, dass Sehnsucht und Träumen schon ausreichen, um gute Verhältnisse zu schaffen. Mach doch den ersten Schritt zuerst und der heißt: Höre! Höre zu! Lausche auf Gott! Lausche auf die Substanz von Frieden, Gerechtigkeit, Güte und Treue! Lausche zuerst auf Gott! Lass ihn zu dir kommen! Deine Sehnsucht ist ja nur ein Hinweis, hat aber selbst keine eigene Kraft.

Wie ist das zu verstehen? Da habe ich bei Jesus nachgefragt, dessen gesamtes Wirken auf Frieden Gerechtigkeit, Güte und Treue hinauslief. Oder noch kürzer gesagt: Er heilte, was krank war. Und da gab es nun eine Situation (Matthäus 17,18-21), wo die Jünger das auch wollten, nämlich heilen und Dämonen austreiben, aber es gelang ihnen nicht. Das Kranke blieb krank. Als sie Jesus fragten, warum sie keine Heilkraft hätten, sagte er: Wegen eures Kleinglaubens. Doch wer Glauben hat wie ein Senfkörnlein, der kann Berge versetzen. An anderer Stelle spricht er vom Fasten und Beten, die Heilkraft vermitteln.

Ja, liebe Gemeinde, auch wir sind zum Frieden berufen, zur Gerechtigkeit, zur Güte und Treue. Und unsere Sehnsucht danach ist ein starker Hinweis und Wurzelboden. Doch wir müssen zuerst das Glaubenskörnlein säen, um dann Glaubensfrüchte zu ernten. Solch ein Glaube bedeutet Kraft, bedeutet Vollmacht, bedeutet Dienen und nicht Herrschen. Und dann wird es uns mit Gottes Hilfe gelingen, denn dann wachsen uns die Kräfte der Geduld, der Liebe und der Hoffnung zu. Dann bleiben wir keine Träumer und Sehnsüchtige mehr, sondern erstarken zu Gottes Mitarbeitern.

Und nun hören wir zum Abschluss noch einmal die Psalmverse, freuen uns über ihre Poesie und Musikalität und singen sie als Gottes Mitarbeiter beim Säen und Ernten des Friedens, der Gerechtigkeit, der Treue und der Güte.

Lesung Psalm 85,9-14 (Text siehe oben)

A m e n.

Pfr.i.R.Ulrich Wiesjahn

E-Mail: ulrich.wiesjahn@web.de

Langjähriger Pfarrdienst in Berlin und Goslar, dazu lange zuständig für ein Alten- und Pflegeheim. Autor verschiedener theologischer und schöngeistiger Werke und Verfasser des Blogs „kritischfromm.wordpress.com“ (auch: Der christliche Blogger) zu Fragen des Christentums in der Gegenwart.

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