Matthäus 5,1.22

Matthäus 5,1.22

Gibt es einen Trost für jedes Leid? | 23. Sonntag nach Trinitatis | Predigt zu Matthäus 5,1.22 (Allerheiligen in Dänemark) | verfasst von Jens Torkild Bak |

Neben mir liegt ein alter Ausschnitt aus einer Zeitung. Er stammt als einer kleinen Meditation über den Monat November von dem Literaturkritiker Lars Handsten: „Nicht viel Gutes kann man über den November sagen“, schreibt er, und er fährt fort: Soll man dänischen Dichtern folgen, so besteht kein Grund, sich mit dem November zu beschäftigen. Und die wenigsten haben das getan. Das ist ein Monat, von dem es viel zu viel gibt und der sich am besten dafür eignet, übergangen zu werden, so dass die Tage wieder beginnen können. Wonach er ein Gedicht des Dichters Thorkild Bjørnvig zitiert, ein Gedicht, das man auch im Liederbuch der Volkshochschulen findet. Es besteht nur in einer einzigen Strophe, die mit diesen Worten beginnt: Dunkel ist der November, der Fall des Laubs ist zu Ende, das Wasser beginnt zu frieren, das Licht der Sonne und die Blumen zerbrochen, da muss unser Herz wohl leuchten …

Also da muss sich unser Herz auf die Seite des Lichts stellen als ein Aufstand gegen die zunehmende Finsternis, die es umgibt. So wie sich die Seligpreisungen im heutigen Text auf die Seite der Hoffnung stellen.

In der Kirche beginnt der November mit dem Tag Allerheiligen, dem Sonntag, an dem wir derer gedenken, von denen wir in der Gemeinde und in der Kirche im vergangenen Jahr Abschied genommen haben. Der Herbst der Natur und des Lebens fallen zusammen. Jedes Jahr denke ich, dass dies ein Tag ist, den man nur schwer auf eine bestimmte Formel bringen kann. Obwohl wir alle Teil derselben Wirklichkeit sind und teilhaben an den zugleich wunderbaren und unsicheren Lebensbedingungen, so sind die Gefühle, die sich mit dem Sonntag Allerheiligen verbinden und diesen Tag für uns prägen, genauso verschieden wie die persönlichen Lebensgeschichten, mit denen wir an diesem Tag in die Kirche kommen. Da sind die klaren Erinnerungen, die in erster Linie so viel Gutes und Lebensbejahendes haben, an das man zurückdenkt und für das man vor allem auch dankt, bis hin zu dem Schmerz, der keine Worte finden kann.

Trauer und Verlust können mitten zwischen Tränen eine wahre Erlösung sein aus Freude und Lust am Erzählen. Eine Freude am Erzählen, wo sich das ganze Dasein entfaltet und durchleuchtet wird ausgehend von den Erinnerungen an den Toten. Erinnerungen, die auch eine persönliche Rechenschaft bedeuten, ein Bewusstmachen von etwas, das Sinn machte. Man hatte das Glück daran teilzuhaben, und vielleicht in noch höherem Maße musste man sich daran orientieren, wo man nun selbst eine Lücke ausfüllen und die Verantwortung für das übernehmen musste, das noch immer von Bedeutung war.

In einer Kultur und einem Zeitalter wir dem unsrigen, das als ein festes Element in seinem Selbstbewusstsein die Klage über die Flüchtigkeit und den Mangel an Zeit und Ruhe zur Vertiefung mit sich trägt, ist es – so scheint es – in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, persönliche Erinnerungsspuren zu finden und festzuhalten. Erinnern heißt nämlich nicht nur in der Zeit zurückzugehen, sondern in genauso so hohem Maße einen Weg zu finden, oder sogar zu versuchen, sich selbst neu zu erfinden, wie man dies nach einem großen Verlust tun muss. Erinnern heißt eine Struktur finden in dem, was man ist. Ohne Erinnerung wären wir orientierungslos im Leben, ohne Gewicht. Man denke nur, was wäre, wenn man niemanden oder nichts hätte, woran man sich erinnert. Uns würde ganz schwarz. Deshalb sind Erinnerungen, ganz abgesehen von der wehmütigen Begleitung der Trauer, grundlegend verbunden mit Dankbarkeit und Licht.

Dankbare Erinnerungen lösen die Zunge und erleichtern das Reden. Aber die Wirklichkeit ist uns nicht immer gewogen. Sie entfaltet alle möglichen Schicksale, auch das Unerträgliche kann ein Los sein im Leben. Was tut man in den Fällen, wo die Wunden nicht heilen wollen und wo der Schmerzen einen mehr verstummen lässt als reden? Selig sind die Armen denn das Himmelreich gehört ihnen. Selig sind, die das Leidtragen, denn sie sollen getröstet werden, lesen wir beim Evangelisten Matthäus in den sogenannten „Seligpreisungen“. Aber stimmt das?

Hier soll man mit einer Antwort mehr als vorsichtig sein. Es kann eine schlimme Neigung sein, schnell Zucker über die Dinge zu streuen, sobald man merkt, dass man selbst nicht in dem Schmerz sein kann, in dem sich der andere Mensch – der Freund, der Kollege, der Nachbar – befindet. Man rettet sich in einige glättende Bemerkungen, dass die Zeit alle Wunden heilt, und andere Gleichgültigkeiten. Und ist es nicht auch etwas Unverpflichtendes in dieser Richtung, das in der Pointe der schönen Worte der Seligpreisungen liegt: Selig sind die, die trauern, denn sie sollen getröstet werden?

Nein, ich glaube nicht, dass dies die Pointe der Seligpreisung en ist. Ich glaube, die Seligpreisungen wenden sich an Menschen in Situationen, die so weit, wie das Auge reicht, ohne mildernde Umstände sind. Situationen, vor denen man am liebsten die Augen schließt. Die Botschaft ist deshalb auch nicht die, dass das alles schon wieder gut werden wird, sondern dass Gott selbst dort die Hoffnung und das Licht und die Auferstehung ist, wie niemand anderes das sein kann, so wie Gott auf Golgatha dort ist, wo alles schwarze Nacht ist.

Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa erzählt einmal, dass er in einer, wie er es ausdrückt, „wirklich unchristlichen Familie“ aufwuchs, aber etwas von dem, was ihn als eine paradoxale Glaubenserfahrung beeindruckt, ist dies, dass dort, wo der Grund unter dem Dasein schwankt, wo die Worte nicht mehr wirken, weil es nichts Vernünftiges mehr zu sagen gibt, da kann einem eine tiefere Form von Wirklichkeit begegnen. Eine Wirklichkeit, in der man mit seinem ganzen Verlust sein kann. Besonders das Christentum gibt uns ein Gefühl dafür, dass auf dem Grunde unserer Existenz nicht ein stummes oder feindliches Universum ist, sondern einer, der uns hört und zu uns spricht. So sagt er Die Seligpreisung en reden von dieser tieferen Wirklichkeit.

Der Verlust des Geliebten kann einen Strom von Erzählungen von all dem auslösen, was dem Leben einen Sinn gab. Zugleich erzählt die Erfahrung, dass Worte nicht alles sagen können. Für Worte gilt wie für alles andere in dieser Welt eine Begrenzung. Wenn die Worte all das sagen könnten, was wir fühlen und was wir einander mitteilen möchten, was sollten wir dann mit Küssen und Umarmungen, Blumen, Kunst, Musik, Geschenken, Altar und Ritualen – mit all dem, was darin an Botschaften und Bedeutungen liegt? Oder was sollten wir mit einem Grabe, wenn wir es besuchen und an ihm verweilen? Wenn Worte allein alles sagen könnten, würde niemand auf die Idee kommen, eine Tür zuzuknallen.

Es gibt eine Sprache für jedes Leid. Aber das ist nicht notwendigerweise eine Sprache, die das Wort in ihrer Macht hat. Schweigen kann mehr sagen als viele Worte. Man kann bekanntlich nicht nur stumm sein vor Verwunderung, sondern auch gelähmt vom Leid. In unserer Generation haben wir gelernt, wie wichtig es ist, die Dinge in Worte zu fassen. Dass das wichtig ist, lässt sich auch kaum leugnen. Aber nicht alles Leid lässt sich in Worte fassen. Da wird der Schmerz zu einer Frage, die nur Gott beantworten kann.

Man soll vorsichtig sein mit dem, was man sagt. Worte öffnen für uns eine Welt. Worte können erlösend sein, so wie wenn man lange hat warten müssen, bestimmte Worte zu hören. Aber Worte können auch betrügen, wenn sie in ihrem angeborenen Talent für Erklärungen und Begründungen immer weiter weg von der Wirklichkeit führen, die sich nicht in Worte fassen und erklären lässt. In solch ene Situationen kann man sich in seinem Leid besser aufgehoben und erkannt fühlen in Gesellschaft mit der Natur, mit dem Wald und am Meer, oder auf der Kirchenbank und am Grab des Geliebten, wo es nicht darum geht zu erklären oder gar weg zu erklären, sondern darum, zu sich selbst zu kommen in der Wirklichkeit, die war und vor allem wurde. Im Vertrauen darauf, dass Gott auch da ist, wo Worte nicht hinkommen.

„Nicht viel Gutes kann man über den November sagen“, schrieb Lars Handsten, nein, das ist richtig, aber die Seligpreisungen fanden dann doch das Evangelium, und auch Thorkild Bjørnvig schloss überraschend sein im Übrigen ganz weltliches Gedicht damit, dass er diesen Monat in eine Tonart des Evangeliums verwandelte:

Ob da auch tödlicher Blütenstaub weht, will ich doch lieben – und einen Baum pflanzen; Früchte können ungeahnt kommen.

Einen schönen Allerheiligen Sonntag!

Dompropst Jens Torkild Bak

DK-6760 Ribe

Email: jtb(at)km.dk

 

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