Jesaja 63,15-64-3 | Gibt es…

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Jesaja 63,15-64-3 | Gibt es…

Gibt es noch Hoffnung? | Advent, 5. Dezember 2021 | Predigt zu Jesaja 63,15-64,3 | von Katharina Wiefel-Jenner |

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.

Gibt es noch Hoffnung? So wie es ist?

Es ist, als ob Gott nicht existiere.

Wir weinen. Wir tragen 100.000 zu Grabe, ohne von ihnen Abschied zu nehmen. Das Sterben will kein Ende nehmen. Uns geht der Atem aus. Wir streiten und trauern, sind müde und wütend. Wir warten, dass irgendjemand Verantwortung übernimmt. Wir ringen darum, dass irgendjemand etwas tut. Wir können unsere Kinder nicht beschützen. Hilflos hören wir zu, wie unverständliche Zahlen jeden Tag neues Dunkel verkünden. Ratlos schauen wir, wie das Leben verrinnt und niemand hilft. Die Bitternis greift um sich. Müdigkeit lähmt schon am Morgen die Seelen. Es ist düster.

Als ob es keinen Gott gäbe.

Hoffnung wäre schön.

Gibt es überhaupt Hoffnung? So, wie es ist?

Ja, die Alten – die hatten noch Hoffnung. Die Alten hatten auch noch Gott. Die haben sich nicht in die absolute Trostlosigkeit drängen lassen. Sie hatten es auch schwer. Auch sie haben sich geweigert, ihr Verhalten zu ändern. Die Propheten haben mit ihnen gerungen. Gott hätte sich an ihnen erfreut, hätten sie den Propheten zugehört. Vernünftiger wäre es gewesen, hätten sie die Warnungen der Propheten nicht in den Wind geschlagen. Sie hätten klug sein können. Sie hätten tun können, was um Gottes Willen das Richtige gewesen wäre. Es war ihnen bewusst. Sie taten das Falsche. Sie hielten es lieber mit denen, die ihnen keine schweren Entscheidungen abverlangten. Eine Kursänderung schien ihnen nicht durchsetzbar. Sie liefen mit Ansage in die Katastrophe. Dann blieb ihnen nur ihre Hoffnung auf Gott.

Hatten sie überhaupt Hoffnung? So, wie ihre Lage war?

Sie weinten um ihre Heimat. Sie weinten vor Sehnsucht nach ihrem Zuhause. Sie weinten um den schönen Tempel, in dem Gott gewohnt hatte. Sie saßen im Exil und weinten. Was ihr Leben schön gemacht hatte, war verloren. Die schönen Feste, die sie einst gefeiert hatten, waren nun bedrückend und ohne helle Lieder. Die leuchtenden Kinderaugen gehörten zur Vergangenheit. Sie saßen im Elend. Gott hatte den Krieg verloren.

Es war, als ob Gott nicht existiere.

Gab es überhaupt noch Hoffnung?

Sie waren sehenden Auges in die Katastrophe gegangen. Gottes schöner Tempel war zerstört und nun endlich hörten sie den Propheten zu. Nicht Gott hatte den Krieg verloren. Nicht Gott war besiegt. Sie waren besiegt. Die Alten hörten, wovon sie zuvor kaum eine Ahnung hatten. Sie verstanden, was sie zuvor nicht interessiert hatte. Sie waren aus ihrem alten Leben herauskatapultiert worden und lernten neue Worte. Sie entdeckten, dass Gott den Himmel und die Erde geschaffen hatte. Da war die Hoffnung. Gott war nicht nur im Tempel zu Jerusalem zu finden. Gott ist in allen Himmeln zuhause. Da ist die Hoffnung. Die Unbarmherzigkeit der Feinde konnte ihnen Leid zufügen, aber kein Feind ist fähig, die Barmherzigkeit Gottes zu zerstören, denn Gott ist unzerstörbar. Die Geschichtsvergessenheit der eigenen Anführer konnte ihre Erinnerung an Abraham und Jakob verdunkeln, aber Jakobs Erbe konnten sie nicht auslöschen, denn Gott hütet die Erinnerung. Gab es Hoffnung? Ja, bei Gott war die Hoffnung, denn Gott war immer noch da. Gott im Himmel und sie auf der Erde. Und wenn der Tempel tausende Kilometer entfernt und zerstört ist. Der Himmel ist über ihnen. Gott ist über ihnen.

Ja, es gab Hoffnung. Das hatten sie nun verstanden. Sie hörten den Propheten zu. Sie glaubten den Propheten. Endlich! Und dann begannen sie damit, Gott in den Ohren zu liegen.

„Was nützt es uns, wenn du, Gott, nicht nur in deinem Tempel wohnst, sondern auch im Himmel bist? Was sollen unsere Kinder glauben, Gott, wenn du dich nicht in Erinnerung bringst? Was tröstet es uns in unserer Traurigkeit, wenn es sich so anfühlt, als ob du gar nicht da bist, Gott? Reiß den Himmel auf, mach etwas, damit das Elend endlich aufhört. Komm aus deinem Himmel, Gott, du Trost der ganzen Welt. Zeig dich, damit es ein Ende hat mit der Finsternis.“

Ja, die Alten – die hatten noch Hoffnung. Die Alten hatten Gott und klagten und weinten.

Hoffnung wäre schön. Wie bei den Alten! Aber wir haben doch auch Gott! Es ist ja nicht so, als dass Gott nicht existierte. Auch über uns ist der Name Gottes genannt. Schon vor langer Zeit ist Gottes Name in unserer Mitte ausgerufen worden.

Würden wir hier zusammenkommen, gäbe es Gott nicht? Ohne Gott wäre das zweite Licht am Adventskranz sinnlos. Ohne Gott müssten wir irre werden. Diese anhaltende Ungerechtigkeit ist sogar mit dem Wissen um Gottes Existenz kaum auszuhalten. Wie hoffnungslos wäre die dauernde Verachtung der Schwachen, gäbe es Gott nicht. Wie unerträglich wäre dieser ungebrochene Hochmut der Mächtigen, wäre Gott nicht da. Wir tödlich wäre der Hass, wäre Gott nicht schon längst gekommen. Wäre Gott nicht in diesem Kind aus Bethlehem längst in unserer Mitte geboren, bliebe es für alle Ewigkeiten finster. Aber Gott ist da. Wir können Gott in den Ohren liegen. Wir können Gott daran erinnern, dass es Zeit ist, den Himmel aufzureißen. Wir haben alles Recht der Welt, Gott unsere Tränen hinzuhalten und über unsere Toten zu klagen. Vor wem sonst sollten wir unsere Ratlosigkeit ausschütten? Wem sonst können wir ohne Scham unsere abgearbeiteten Hände und wunden Seelen zeigen? Niemand anderes kann unsere Verbitterung ertragen. Wir müssen Gott einfach daran erinnern, dass wir immer noch warten. Wir warten auf den Frieden. Wir warten darauf, dass niemand mehr flüchten muss. Wir haben es satt mit den zahllosen ungerechten Machthabern. Jeden Tag sind die Besten von uns am Ende mit ihrer Verzweiflung. Wir sehnen uns so sehr, dass Gott endlich alle Tränen abwischen wird.

Die Alten klagten und weinten. Und sie wurden getröstet. Sie kehrten nach Jerusalem zurück. Sie bauten Gott einen neuen Tempel und als ein neuer Gewaltherrscher in ihm sein Unwesen trieb, waren sie mutig. Noch heute erinnert sich Israel mit Lichtern daran, dass sie sich in ihrer Hoffnung nicht getäuscht haben und feiern Chanukka. Heute Abend wird deswegen auf der ganzen Welt das achte Chanukka-Licht angezündet – hier in Hamburg, da, wo einst die Bornplatzsynagoge stand.

Gibt es noch Hoffnung? Die Alten sangen: „Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“ Sie zündeten Lichter an und mit jedem Licht wurde es heller – sie haben sich in Gott nicht getäuscht.

Gibt es noch Hoffnung für uns? Die Alten rufen es uns zu: Gott ist da. Nicht nur im Himmel, sondern mitten unter uns. Wir heißen nach seinem Namen. Hören wir auf die Alten. Seht, die zweite Kerze brennt. Mit jedem Licht wird es heller. Gott wird uns nicht enttäuschen. Amen.

Dr. Katharina Wiefel-Jenner

Berlin

wiefel_jenner@hotmail.com

Katharina Wiefel-Jenner, geb.1958, Pfarrerin i.R., bildet als Dozentin für Liturgik und Homiletik Ehrenamtliche für den Verkündigungsdienst aus.

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