Jesaja 63,15–64,3

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Jesaja 63,15–64,3

Wann reißt der Himmel auf? | 2. Advent | 05.12.2021 | Predigt zu Jes 63,15–64,3 | verfasst von Christoph Kock |

I. Wenn der Himmel aufreißt

Grau lastet der Himmel über ihm. Heute wird es gar nicht richtig hell. So ganz ohne Blätter wirken die Bäume trostlos und irgendwie verloren. Dezember-Tristesse. Er schaut auf die Uhr. Noch eine Stunde, dann ist es dunkel. Unwillkürlich geht er einen Schritt schneller. Doch dann bekommt die Wolkendecke über ihm einen hellen Fleck. Ein Sonnenstrahl bricht hindurch. Erstaunt bleibt er stehen. So viel Licht. Die Erde sieht anders aus. So ist das, wenn der Himmel aufreißt.

Wenn sie merkt, wie viel sie vergessen hat, versinkt sie in Traurigkeit. Wozu noch leben, geht es ihr durch den Kopf. So viel hat sie schon verloren. Ihren Mann. Und jetzt verabschiedet sich ihr Gedächtnis. Langsam, aber sicher. Sie kann nichts dagegen tun. Niemand kann ihr helfen. Grau lastet der Himmel über ihr. Abends bekommt sie Besuch. Ihre Tochter hat Musik mitgebracht. Adventliche Klänge füllen das Zimmer. Sie kennt die Lieder auswendig und singt mit. Für einen Moment ist sie Zuhause. So ist das, wenn der Himmel aufreißt.

Als er aus einem der Isolierzimmer kommt, ist es gewohnt hektisch. Die Überwachungsgeräte piepsen im Hintergrund. Im Moment legt sich kein Alarmsignal darüber. Nur ein Telefon klingelt, die Kollegin bekommt Informationen über eine neue Patientin. Auf dem Tresen liegt eine Karte, „Danke“ steht drauf. Er schlägt sie auf, sieht das Gesicht von Herrn M. und erinnert sich. Beinahe wäre Herr M. gestorben, hat es dann aber doch geschafft. In diesem Moment weiß er, warum er hier arbeitet.

So ist das, wenn der Himmel aufreißt.

II. Gott ins Gebet genommen

Wann reißt der Himmel auf? Für das Volk Israel eine Frage nach Gott. Verborgen in der Katastrophe. Der Tempel zerstört. Jerusalem in Schutt und Asche. So viele tot. So viele deportiert. Verbannt in die Fremde. Aus und vorbei. Alles kaputt. Von Heimat lässt sich nur noch in der Vergangenheit reden. Glaube auf verlorenem Posten. Und doch. Ein Prophet steht auf und redet von Gott. Nein, mit Gott redet er und wir hören zu.

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!

Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?

Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts,

und Israel kennt uns nicht.

Du, HERR, bist unser Vater; „Unser Erlöser“, das ist von alters her dein Name.

Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen

und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?

Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!

Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben,

unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.

Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest,

wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab,

dass die Berge vor dir zerflössen,

wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht,

dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden

und die Völker vor dir zittern müssten,

wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten,

und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!

Auch hat man es von alters her nicht vernommen.

Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir,

der so wohltut denen, die auf ihn harren.

Einer nimmt Gott ins Gebet und sagt:

Gott, du bist uns abhandengekommen.

Was wir erlebt haben, spricht gegen dich.

Gottlos sind wir geworden, o Gott.

Das musst du ändern.

Das kannst nur du ändern.

Es wird höchste Zeit.

Reiß den Himmel auf! Über uns, hier und jetzt!

Vater unser im Himmel, zeig dich endlich auf Erden.

Niemand soll dich übersehen.

Mach heil, was zerbrochen ist.

Wende zum Guten das Schicksal derer,

die mit dir rechnen.

„Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab.“

III. Der Heiland reißt den Himmel auf

Wann reißt der Himmel auf?

Bald richtet sich der Blick auf das Kind in der Krippe:

Der Heiland, der Retter wird geboren,

große Freude für alles Volk.

Himmlische Boten kommen ins Singen.

Hohe Erwartungen verbindet Gott mit einem Kind.

Das gute Ende mit einem Anfang.

Der Vater schickt den Sohn.

Weil Gott die Welt liebt.

Der Himmelsöffner kommt.

Und dann:

Jesus geht an Grenzen.

Er verbindet diejenigen, die ihm nachfolgen.

Was sie unterscheidet –

Herkunft, Sprache, Kultur –

all das verliert seine trennende Kraft.

Gottes Liebe verbindet.

Der Heiland reißt den Himmel auf.

Jesus geht an Grenzen.

„Wer ist denn mein Nächster?“,

will einer wissen.

Wann ist genug getan?

Überraschend die Antwort,

die Jesus gibt.

Erzählt von einem Fremden,

der stehen bleibt und hilft.

Zum Nächsten kann man werden.

Gottes Liebe zieht Kreise.

Der Heiland reißt den Himmel auf.

Jesus geht an Grenzen.

Er wurde gekreuzigt.

„Aber in seinem Tod

hat Gott die Macht des Bösen gebrochen

und uns zur Liebe befreit.“ (EG.RWL 816)

Gottes Liebe macht lebendig.

Der Heiland reißt den Himmel auf.

Hohe Erwartungen verbindet Gott mit einem Kind.

Dass es endlich geschieht:

Der Himmel öffnet sich.

Licht fällt auf graues Land.

IV. Es bleibt grau

Das Loch in der Wolkendecke schließt sich, der Wind wird stärker. Das Licht verschwindet, die Landschaft wirkt wie in Grau getaucht. Regen setzt ein. Ihn fröstelt. Er zieht sich die Mütze tiefer ins Gesicht und geht weiter. Es liegt noch ein weiter Weg vor ihm.

Die letzten Töne sind verklungen. „Wo bin ich hier?“, will die Mutter wissen. „In deinem Zimmer“, sagt die Tochter. „Schau, dort stehen doch deine Bilder“. Die Mutter betrachtet die Fotos. Sie ahnt, dass sie jemanden erkennen sollte. Eben in den Liedern war sie noch Zuhause, jetzt tastet sie sich durch eine fremde Welt.

Eine Kollegin spricht ihn an. „Zimmer 3“. Er hört den Alarm, nickt und ist schon unterwegs. Keine Zeit für eine Karte. An diesem Tag werden zwei Patienten sterben. Nach der Schicht wird er frustriert und erschöpft sein. „Du tust alles, was in deiner Macht steht – aber es ist nicht genug.“ Ein Scheißgefühl. Als es in den letzten Nachrichten um die Impfquote geht, steigt die blanke Wut in ihm hoch.

V. Sehnsucht bleibt

Der Himmel reißt auf.

Alles wird gut?

Schön wär’s.

Wenn sich der Himmel öffnet,

dann nur einen Moment lang.

Ein Augenblick der Gewissheit im Meer des Zweifels.

Ein Vorgeschmack auf die Ewigkeit mitten in der Zeit.

So sehr sich der Himmelsöffner ins Zeug legt.

Es wird wieder dunkel.

Der Mensch wieder hilflos.

Der Alltag wieder grau.

Es ist zum Verrücktwerden.

Wo es doch anders sein könnte,

anders sein müsste.

Wer jedoch das Licht gesehen hat,

findet sich in der Dunkelheit nicht mehr zurecht.

Wer anderen zum Nächsten geworden ist,

kann Liebe nicht mehr begrenzen.

Wer von Gottes Zukunft gekostet hat,

wird hier und jetzt nicht mehr satt.

„Ach dass du den Himmel zerrissest!“

Sehnsucht bleibt:

Dass es endlich anders werde.

Genährt vom Glauben,

dass es anders sein könnte.

Wo Gott die Ärmel hochkrempelt

und den Himmel zerreißt.

Wo Jesus ins Niemandsland marschiert

und Grenzen überwindet.

Wo Menschen ihre Mitmenschen schützen

wie sich selbst.

Sehnsucht bleibt.

Und das Beten:

„Ach dass du den Himmel zerrissest!“

Und das Tun:

Einander verbunden bleiben,

auch über Welten hinweg.

Ändern, was sich ändern lässt.

Einfach impfen gehen.

Und das Singen:

„O Heiland, reiß die Himmel auf,

herab, herab vom Himmel lauf,

reiß ab vom Himmel Tor und Tür,

reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“

Egal, wie Beten, Tun und Singen zusammenhängen.

Hauptsache, es geschieht.

Amen.


Lieder:

O Heiland, reiß die Himmel auf (EG 7)

Durch das Dunkel hindurch (EG 19)


Sündenbekenntnis:

Barmherziger Gott,

unbegreiflich wie du bist

kommst du in die Nähe.

Groß wie du bist

verbirgst du dich im Kleinen.

Dein Bild der Liebe,

in jedem Menschen.

Immer wieder fängst du an.

Kommst in die Welt.

Vor Augen bist du,

doch wir sehen weg.

Darin sind wir gut.

So schwindet uns der Mut,

die Kraft

und die Zärtlichkeit.

Hilf uns, Gott.

Erbarme dich.

Gnadenzusage: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ (Lk 21,28)


Tagesgebet:

Ja, Gott, erscheine!

Wo du erscheinst,

sind wir befreit.

Wo du uns berührst,

leuchtet dein Licht

in unseren Herzen auf.

Wo du auch nur ein Wort sprichst,

wird unsere Seele gesund.

Ja, Gott, erscheine!

„Unser Erlöser“,

das ist von alters her dein Name.

Amen.


Glaubenskenntnis:

Wir glauben an Gott,

den Ursprung von allem,

was geschaffen ist,

die Quelle des Lebens,

aus der alles fließt,

das Ziel der Schöpfung,

die auf Erlösung hofft.

Wir glauben an Jesus Christus,

den Gesandten der Liebe Gottes,

von Maria geboren.

Ein Mensch, der Kinder segnete,

Frauen und Männer bewegte,

Leben heilte und Grenzen überwand.

Er wurde gekreuzigt.

In seinem Tod

hat Gott die Macht des Bösen gebrochen

und uns zur Liebe befreit.

Mitten unter uns ist er gegenwärtig

und ruft uns auf seinen Weg.

Wir glauben an Gottes Geist,

Weisheit von Gott,

die wirkt, wo sie will.

Sie gibt Kraft zur Versöhnung

und schenkt Hoffnung,

die auch der Tod nicht zerstört.

In der Gemeinschaft der Glaubenden

werden wir zu Schwestern und Brüdern,

die nach Gerechtigkeit suchen.

Wir erwarten Gottes Reich.

(EG.RWL 816)

Pfarrer Dr. Christoph Kock

Wesel

E-Mail: christoph.kock@ekir.de

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.

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