Jes 63,15-64,3 | Genug Tränen

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Jes 63,15-64,3 | Genug Tränen

Genug Tränen – Von der Sehnsucht nach dem abwesenden Vater | Predigt zum 2. Sonntag im Advent am 05.12.2021 | Jesaja 63,15-64,3 | von Oliver Behre |

Predigttext (Jesaja 63,15-64,3):

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!

Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?

Deine große und herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht.

Du Herr bist unser Vater; >Unser Erlöser<, das ist von alters her dein Name.

Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?

Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!

Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.

Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.

Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen.

Auch hat man es von alters her nicht vernommen.

Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.

Liebe Gemeinde,

„Meine Eltern trennten sich, als ich vier Jahre alt war. Sie haben danach gestritten – ums Geld, ums Haus, um Alles. Vor allem aber um mich.

Auf Betreiben meiner Mutter wurde ich von meinem Vater entfremdet. Das weiß ich heute. Als Kind wusste ich, dass mein Vater schlecht war und meine Mutter gut. Ich dachte auch, dass meine Oma väterlicherseits nichts von mir wissen wollte, während die Eltern meiner Mutter mich jedes Wochenende verwöhnt haben.

Meine Mutter, ihre Schwester und ihre Freundinnen haben sich redlich Mühe gegeben, mir ein schönes Leben zu bereiten und mir klarzumachen, dass ich keinen Vater brauche. Ich selbst hätte gerne einen gehabt …

Mein Onkel hat mir dann geholfen, wieder Kontakt zu meinem Vater aufzunehmen. Davor hatte ich immer große Angst. Schließlich meinte ich zu wissen, dass er böse war und mit mir nichts mehr zu tun haben wollte. …

Die Entfremdung von meinem Vater hat mein Leben geprägt und große Teile davon zerstört. Verzeihen kann ich das meiner Mutter nicht. Gegenüber meinem Vater bleibt immer noch das schlechte Gewissen, auch wenn er mich das nie hat spüren lassen. Ich kann nur hoffen, dass meinen Kindern und Enkelkinder dieses Schicksal erspart bleibt!“

(zu finden unter  www.genug-traenen.de)

Diese Worte stammen von Felix. Er ist heute 52 Jahre alt. Seine Erfahrungen hat er der Kampagne >Genug Tränen< zur Verfügung gestellt. Diese Kampagne will, dass Eltern-Kind-Entfremdung ein Ende hat. Kein Elternteil darf den anderen Elternteil schlecht machen und den Kontakt der Kinder zu diesem behindern oder zerstören. Das ist seelische Gewalt, sowohl gegenüber den Kindern wie auch dem anderen Elternteil. Wenn die Beziehung von Kindern zu einem geliebten Elternteil zerstört wird, wenn etwa kein Umgang mehr stattfindet und Kontakte unterbunden werden, ist das in der Regel mit viel unsichtbarem Leid und Not verbunden.

Viele Länder in der Welt haben dies bereits erkannt und strenge Gesetze dagegen erlassen. In Deutschland aber passiert bei Eltern-Kind-Entfremdung wenig bis nichts. Die Gesellschaft, Gerichte, Jugendämter, die Politik – die meisten verschließen die Augen vor dem Problem, wiegeln ab oder bleiben hilflos bis untätig. Es heißt dann einfach: „Das Kind muss zur Ruhe kommen.“ Betroffene erfahren keine Unterstützung. Das Problem wird von der Gesellschaft nicht gesehen und erkannt, wie es vor über 30 Jahren auch beim sexuellen Missbrauch in unserer Gesellschaft zumeist der Fall war.

„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! … Du bist doch unser Vater – du HERR, Gott!“

Die Erfahrung, einen und doch keinen Vater zu haben, ist nicht neu.

Auch der Predigttext für den heutigen 2. Adventssonntag handelt von so einem Vater, der abwesend ist. Abwesend – und gleichzeitig in seiner Abwesenheit doch auch immer anwesend.

Gott, der Vater, hat sich in eine prächtige Wohnung im Himmel zurückgezogen und lässt sich nicht mehr blicken.  Hart treffen ihn die Vorwürfe seiner Kinder: „Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.“

Seiner Verantwortung und seinen Möglichkeiten wird dieser Vater jedenfalls nicht gerecht! Vermutlich zahlt er noch nicht einmal Unterhalt und wenn, dann zu wenig! Der Kontrast zwischen Gottes herrlicher Wohnung dort oben und der elenden Situation seiner Kinder da unten schreit jedenfalls zum Himmel.

Dass der heutige Predigttext von Gott als Vater spricht, ist jedenfalls etwas Besonderes. Im Gegensatz zu Jesus und dem Neuen Testament gibt es im Alten Testament nur ganz wenige Bibelstellen, in denen von Gott als Vater gesprochen wird (vgl. 5.Mose 32,6; 2.Samuel 7,14; Psalm 68,6; 89,27; Jesaja 9,5; Jeremia 3,4; 31,9; Maleachi 1,6;2,10). Darum scheint die Väterlichkeit Gottes hier – bei Jesaja – von einzigartiger Bedeutung zu sein.

Ebenso wie die Mütterlichkeit ist auch die Rede von der Väterlichkeit Gottes in der Bibel durch und durch geprägt von Liebe. Aber diese Liebe hat doch beim Vater eine andere Gestalt. Sie ist fordernd und begrenzt den Willen des Kindes, um es auf rechten Wegen zu halten (vgl. hierzu etwa 5.Mose 32,6 u.a.). Hier im Predigttext bei Jesaja hat sich der väterliche Gott offenbar deswegen in den Himmel zurückgezogen, weil sein Volk Israel aufgehört hatte, seine Liebe zu erwidern und lieber auf Abwegen unterwegs war. Freilich wird ihm auch dafür noch die Schuld angelastet:

Warum lässt du uns HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?

Während die Mütterlichkeit das Kind bedingungslos umsorgt und ihm Geborgenheit vermittelt, zeigt Gottes Väterlichkeit Wege auf, steckt Grenzen ab, damit sich das Leben in einer guten Weise frei entfalten kann. Geht die Beziehung zum Vater verloren, dann fehlt dem Volk Israel eine klare Lebensausrichtung und es beginnt, sich selbst zu schädigen (z.B. Jer.31,9 u.a.). Einen Vater zu haben ist wichtig. Und wo er fehlt, da spricht Psalm 68 davon, dass Gott selbst diese Leerstelle ausfüllt (Psalm 68,6).

Das große Thema, um das es zum heutigen 2. Advent im Allgemeinen geht, ist die Sehnsucht nach Erlösung. Die Sehnsucht nach einem heilen und guten Leben. Solange freilich Gott in seiner Väterlichkeit abwesend ist, kann es dazu nicht kommen. Kann es kein heiles und gutes Leben geben. Darum folgt auf die Anklage Gottes eine erstaunliche Wendung: Nun wird Gott angefleht, sich als Vater doch wieder neu seinem Volk zuzuwenden:

Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr um … Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab …

Gott soll all seine väterliche Macht aufbieten und sich so neue Geltung verschaffen! Damit das Leben wieder ins Lot kommt. Und sich Freude und Glück einstellen kann. Denn Gott als Vater tut wohl denen, die auf ihn harren.

Vielen Vätern – und manchmal auch entfremdeten Müttern – geht es heute anders. Sie bleiben hilflos und ohne Kontakt zu ihren Kindern. Ihnen fehlt die Macht, das Geld, die Möglichkeit, für ihre Kinder da sein zu dürfen. Das ist die große Not, wenn es um Eltern-Kind-Entfremdung geht: Dass da Väter und Mütter sind, die sich um ihre Kinder kümmern möchten, aber unsere deutsche Gesellschaft bleibt gleichgültig, wenn die Eltern-Kind-Beziehung zerstört wird, und duldet seelischen Missbrauch. Und staatliche Institution greifen kaum ein. Die psychischen Folgen, die sich aus zerstörten Eltern-Kind-Beziehungen ergeben, werden seit einiger Zeit in vielen Ländern wissenschaftlich untersucht. Kinder, die solches erleiden, tragen hohe gesundheitliche Risiken mit sich, angefangen von Depressionen bis zum Suchtverhalten oder Bindungs- und anderen Störungen. Eine dazu 2016 in Auftrag gegebene deutsche Studie wird jedoch seit Jahren vom Bundesfamilienministerium nicht veröffentlicht. Man fürchtet wohl, unliebsame politische Konsequenzen ziehen zu müssen. (vgl. https://vaeteraufbruch.de/petra)

Wo Eltern ihren Kindern keine Freude und kein Glück schenken können, weil ihre Beziehung mit den Kindern zerstört wird, da müssen sich Kinder später oft das fehlende Lebensglück hart erarbeiten.

Wir feiern den 2. Advent. Die Adventszeit ist eine Zeit der Verheißung. Die Sehnsucht, die Menschen in dieser Welt umtreibt, soll bei Gott erfüllt werden. So leben wir auf Weihnachten hin, dem Fest, wo Gott Mensch wird und damit seinen Frieden auf die Erde bringt.

Mit der Geburt von Jesus beginnt im christlichen Verständnis eine neue Zeit. Jesus zeigt uns etwas von der Herrlichkeit Gottes. Er tut es unter anderem auch dadurch, dass er von Gott als dem Vater redet. Einem Vater, der ganz liebevoll und zugewandt für seine Kinder da ist.

Offenbar hatte Jesus den Eindruck, dass genau diese Botschaft der Welt am meisten fehlt. Dass Gott nicht nur mütterlich für uns da ist, sondern dass es auch den väterlichen Gott braucht, damit die Welt wieder ganz und heil werden kann.

Im Gebet des „Vaterunsers“ hat er dieser Botschaft ein für alle Zeit Geltung verschafft und ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Vater, von dem in diesem Gebet die Rede ist, kümmert sich umfassend um sein Kind. Aber er erwartet eben auch Respekt und Vertrauen. Wo dies geschieht, da ist der Weg geebnet, dass Gottes Reich und sein Friede kommen kann.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Amen.

Pfr. Oliver Behre, Zörbig

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