Allein aus Gnade

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Allein aus Gnade

Gottesdienst in St. Laurenzen | am Sonntag, 28. Januar 2018 | „Allein aus Gnade.“ | Frank Jehle, Pfr. Dr. theol. |

 

Musik

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn und Bruder Jesus Christus.

Der Apostel spricht: „Aus Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin.“ Amen

Mit diesem Wort des Apostels Paulus begrüsse ich alle herzlich. Ich wünsche uns einen schönen Sonntag und einen guten Gottesdienst. „Aus Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin.“ Mit diesem Satz habe ich unser heutiges Thema bereits eingeleitet. Und zwar verhält es sich so: In meinem Kalender habe ich nachgeschaut: In der ersten Hälfte des Jahres 2018 werde ich hier in St. Laurenzen viermal predigen. Viermal eine Predigt! Die Zahl vier hat mich dazu angeregt, die berühmten Grundsätze der Reformation als Thema zu nehmen: „Allein die Gnade“, „Allein die Schrift“, „Allein Jesus Christus“ und „Allein der Glaube“. Und heute fange ich also mit „Allein die Gnade“ an, „sola gratia“ auf Lateinisch.

Doch lasst und vorerst singen und beten und auf Worte aus der Bibel hören.

Lied 557,1 und 4–6: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und grosse Treu.“

Lasst uns aufstehen und beten.

Wir beten mit Worten des Mönchs Serapion, der im 4. Jahrhundert als Einsiedler in der ägyptischen Wüste lebte, später Bischof in Unterägypten wurde.

Vater Jesu Christi,

Herrscher über das All,

Schöpfer allen Lebens und aller Dinge,

wir beten dich an.

Nach dir strecken wir unsere Hände aus,

zu dir erheben wir unseren Geist und bitten dich:

Erbarme dich unser, schenke uns Vergebung,

sei uns gnädig und führe uns zur Umkehr.

Lass uns wachsen in den Tugenden,

im Glauben und in der Erkenntnis.

Schau auf uns, Herr:

Unsere Schwachheit tragen wir vor dich;

sei uns gnädig und erbarme dich unser aller,

die wir in Gemeinschaft vor dir stehen.

Erbarme dich unseres Volkes,

segne es, mache es friedfertig,

lass es leben in Mässigung und Lauterkeit.

Wir bitten ich: Sende deinen heiligen Geist,

um unsern Verstand zu erleuchten;

hilf uns, das Wort Gottes zu verstehen

und es in Ehrfurcht und Klarheit auszulegen,

damit es allen hier Versammelten zu gute komme.

In der Stille legen wir unsere persönlichen Anliegen vor ich hin: …

Vater Jesu Christi,

Herrscher über das All,

Schöpfer allen Lebens und aller Dinge,

wir rufen dich an

durch deinen Sohn Jesus Christus

und in der Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist,

durch den dir die Kraft und die Herrlichkeit gebührt,

jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.

Lesung von 1. Kor. 15,1–11:

1 Ich tue euch, liebe Brüder und Schwestern, das Evangelium kund, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht,

2 durch das ihr auch gerettet werdet, wenn ihr es genau so festhaltet, wie ich es euch verkündigt habe – wenn nicht, wärt ihr umsonst zum Glauben gekommen.

3 Denn ich habe euch vor allen Dingen weitergegeben, was auch ich empfangen habe:

dass Christus gestorben ist für unsere Sünden gemäss den Schriften,

4 dass er begraben wurde,

dass er am dritten Tage auferweckt worden ist gemäss den Schriften

5 und dass er Kefas [d. h. Petrus] erschien und dann den Zwölfen.

6 Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch leben, einige aber entschlafen sind.

7 Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln.

8 Zuallerletzt aber ist er auch mir erschienen, mir, der Missgeburt.

9 Ich bin nämlich der geringste unter den Aposteln, der es nicht wert ist, Apostel genannt zu werden, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe.

10 Durch Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben; nein, mehr als sie alle habe ich gearbeitet, doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir ist.

11 Ob nun ich oder jene: So verkündigen wir, und so seid ihr zum Glauben gekommen.

 

So weit unsere Lesung. Selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren. Amen.

Lied 237,1–5: „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit.“

Liebe Gemeinde!

„Allein die Gnade“, „sola gratia“. „Durch Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin.“ Den Bibeltext, dem ich das Eingangswort entnommen habe, haben wir gehört. Bevor ich darauf eingehe, etwas anderes: In diesem Jahr feiert die ganze protestantische Welt zwölf Monate lang das Reformationsjubiläum, daher Predigten über die vier Grundsätze: „Allein die Gnade“, „Allein die Schrift“, „Allein Jesus Christus“ und „Allein der Glaube“. Ich halte es für richtig, dieses Jubiläum zu begehen. Es leitet uns dazu an, uns über das Grundsätzliche und Bleibende unseres Glaubens zu besinnen. Was ich gelegentlich über das Reformationsjubiläum lese oder höre, macht mir aber auch Stirnrunzeln. Manchmal – wenn glücklicherweise auch nicht immer – schwingt protestantische Selbstgerechtigkeit mit. „Gott sei Dank, dass wir nicht katholisch sind!“ So geht es selbstverständlich nicht. Es gibt genug beeindruckende Christinnen und Christen in der römisch-katholischen Kirche. Und in unserer eigenen gibt es ja auch deutliche und weniger deutliche Schwachstellen, über ich heute allerdings schweigen will.

Behaltenswertes habe ich in Predigten des jungen Karl Barth gefunden, der ab 1911 Pfarrer in Safenwil im Kanton Aargau war. Am Reformationssonntag 1911 – kaum war er als blutjunger Pfarrer (25jährig) eingesetzt worden –, sagte er in seiner Predigt zum Reformationssonntag:

„Nicht darauf können wir es bei dieser Gedächtnisfeier abgesehen haben, in unseren Gedanken und Worten Krieg zu führen gegen Andersdenkende, gegen unsere Mitchristen von der römisch-katholischen Kirche.“

 

Die Glocken in einem katholischen Nachbardorf seien „uns übers Tal und die Grenze hinüber“ ein Zeichen dafür, dass „auch dort Gott gesucht und gefunden“ werde.[1] Und in einer Predigt nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 lobte er den Aufruf von Papst Pius X. zum Gebet für den Weltfrieden als einen „Lichtblick“, wörtlich:

„[Es] war die Stimme eines Kindes im Gewitter, so macht- und erfolglos, und doch leider der einzige Lichtpunkt: doch eine Stimme wenigstens, die nicht die Stimme eines Kämpfers war, die von einem Standort über den Parteien auf etwas Höheres hinwies.“[2]

Dazu muss man wissen, dass besonders in Deutschland einige protestantische Kirchenführer – und in Frankreich der Erzbischof von Paris – sich für den Krieg ausgesprochen hatten.

Zurück zum Thema „Allein die Gnade“, „sola gratia“. In meinen Predigten zu den drei anderen der vier Grundsätze der Reformation „Allein die Schrift“, „Allein Jesus Christus“ und „allein der Glaube“ werde ich teilweise etwas anderes sagen müssen. Bei „Allein die Gnade“ darf ich aber sagen, dass dieser Grundsatz genau genommen zwischen den Konfessionen nicht kontrovers ist. Auch die beiden bedeutendsten lateinisch schreibenden Theologen der römisch-katholischen Kirche, Augustinus und Thomas von Aquin, haben das Gleiche gesagt. Und lassen Sie mich – es ist dies der Schwerpunkt der heutigen Predigt – von Katharina von Siena erzählen, einer der grössten Frauen des Spätmittelalters. In Rom wurde sie heilig gesprochen, also offiziell anerkannt. Seit 1866 gilt sie innerhalb der katholischen Kirche als die Schutzpatronin Roms, seit 1933 als die Patronin von ganz Italien. Im Jahr 1971 hat Papst Paul VI. sie zusammen mit Therese von Avila sogar zur Kirchenlehrerin ernannt – ein Ehrentitel, der vorher ausschliesslich für Männer verwendet worden war.

Ich muss mich natürlich kurz fassen. Katharina lebte 1347–1380. Sie war Mitglied des dritten Ordens des heiligen Dominikus. Berühmt ist sie unter anderem darum, weil sie es sogar wagte, Päpste zur Ordnung zu rufen. Dem damals in Avignon residierenden Papst schrieb sie:

„Ich, an Eurer Stelle, befürchtete, dass das göttliche Gericht über mich käme. Und darum bitte ich Euch flehentlich im Namen Christi des Gekreuzigten, dem Willen Gottes gehorsam zu sein. Handelt so, dass ich nicht bei Christus dem Gekreuzigten Beschwerde gegen Euch einlegen muss.“[3]

 

Als sie persönlich vor diesem Papst stand, sagte sie:

„Ich bekenne furchtlos, da es um die Ehre des allmächtigen Gottes geht, dass die Sünden des Päpstlichen Hofes [von Avignon] bis nach Siena stinken, von wo ich herkomme, und mir noch dort mehr Ekel einjagen als den Leuten hier, die sich mit ihnen besudelt haben […].“[4] „Einen anderen Wunsch kenne ich in diesem Leben nicht, als die Ehre Gottes, Euren [des Papstes] Frieden und die Erneuerung der heiligen Kirche zu erleben.“[5]

 

Es war dies eine Art Reformation vor der Reformation. Doch zurück zu „allein die Gnade“: Katharina, deren Lebensgeschichte ich jetzt nicht ausbreiten kann, wirkte auch als Krankenpflegerin und Seelsorgerin. Sie war visionär veranlagt, und in einer Christusvision sagte ihr dieser, es sei falsch, sich ganz von der Welt zurückzuziehen und nur dem Gebet zu leben.

„Du sollst nicht nur dir selber nützlich sein, nein, auch den anderen, auch dafür gebe ich dir ja meine Gnade. Ich will dich doch nicht von mir wegschicken; im Gegenteil, die Liebe für die Menschen wird dich noch fester an mich binden! Dies ist meine Absicht: du weisst, ich habe zwei Gebote der Liebe gegeben, ihr müsst mich und eu­ren Nächsten lieben. […] Ich will, dass du die Gerechtigkeit beider Gebote erfüllst. Du sollst nicht auf einem Fuss daherhinken, du sollst mit beiden Füssen ausschreiten.“[6]

 

Ein rasanter Text! Als Seelsorgerin begleitete sie einen zum Tod verurteilten Verbrecher zum Schafott. Und nach dessen Hinrichtung sah sie in einer Vision Christus selbst, wie er den Verstorbenen bei sich aufnimmt:

„Darauf erschien der Gottmensch wie die helllichte Sonne. Er öffnete seine [Seitenwunde] und nahm [das Blut des Hingerichteten] zu seinem Blut: den Funken, den er aus Gnade in seine Seele gegeben und dort verborgen hatte, nahm er in das Feuer der Gottesliebe auf. Und wie er dessen Blut und Verlangen aufnahm, so nahm er auch seine Seele und schloss sie in die offene Kammer seiner Seite, voll von Barmherzigkeit. So offenbarte er die Grundwahrheit: dass er ihn allein aus Gnade und Barmherzigkeit empfing und nicht ob irgendeines anderen Werkes. O, wie süss und unaussprechlich war es, die Güte Gottes wahrzunehmen, die mit so grosser Zuneigung und Liebe der aus dem Leibe geschiedenen Seele harrte und das Auge der Barmherzigkeit ihr zuwandte […].“[7]

 

Die Stelle zeigt, dass man sich den Gegensatz zwischen Rom und den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen oft zu unversöhnlich vorstellt. „Allein aus Gnade“ ist nicht nur lutherisch (und reformiert), sondern auch, wenn man so sagen will, „gut katholisch“.

Martin Luther schrieb an einen seiner Mitbrüder:

„[…] lerne Christus kennen, und zwar den Gekreuzigten. Lerne, ihm zu lobsingen und – mitten aus der Verzweiflung über Dich selbst heraus – zu ihm zu sprechen: ‚Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde; du hast das Meine angenommen und mir das Deine geschenkt […].’“[8]

 

Katharina sieht, wie der von ihr zur Hinrichtung Begleitete in die Seitenwunde Christi aufgenommen wird und braucht die von Luther oft gebrauchte Wendung „allein aus Gnade“. In einer andern Vision hörte sie die „ewige Wahrheit“ (d. h. Gott) zu ihr sagen:

„Blicke auf jene, die über die Brücke des gekreuzigten Christus gehen.“[9]

 

Diese werden erlöst! Das Wesentliche des christlichen Glaubens – der gekreuzigte Christus selbst – ist bei Katharina und Luther derselbe.

Zu einer weiteren – für heute letzten – Christusvision Katharinas: In ihren Anfangsjahren war sie noch eine Befürwortern des Kreuzzugsgedankens. Sie meinte, es sei nötig, mit kriegerischen Mitteln das Heilige Grab in Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. In ihrer reifen Zeit sah sie dies neu und anders. In einer Vision erblickte sie, wie „das christliche Volk und das ungläubige [gemeinsam] in die Seite des gekreuzigten Christus“[10] eingingen. Ihr ursprüngliches Eintreten für einen Kreuzzug nahm sie mit dieser Vision zurück. Ihr sehnlichster Wunsch war, dass sie „in jeder vernunftbegabten Kreatur das Leben der Gnade“[11] finde. Es sollte niemand verloren gehen, sondern alle die Erlösung erlangen, die in Jesus Christus begründet ist. Katharina hat die sogenannte „Allversöhnung“ (d. h., alle Menschen werden erlöst) zwar nicht gelehrt, wohl aber darauf gehofft, weil sie zutiefst von der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit geprägt war. Bildhaft formuliert: Sie hoffte und träumte davon, dass die „Hölle“ leer sei.

Liebe Gemeinde! Für heute komme ich zum Schluss meiner Predigt. „Aus Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin.“ Mit diesem Satz des Apostels Paulus habe ich den Gottesdienst zum Thema „Allein die Gnade“, „sola gratia“ angefangen, und in der Schriftlesung hörten wir den biblischen Zusammenhang, aus dem er stammt, 1. Kor. 15, wo Paulus von seiner Bekehrung erzählt, aus einem Christenverfolger wurde ein Apostel Jesu Christi. Im Mittelpunkt der Predigt stand die katholische Heilige Katharina von Siena, an der wir uns das Wichtige bewusst machen können: Die Schnittmenge zwischen der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen ist genau genommen viel grösser, als man häufig annimmt. Wir begehen das Reformationsjubiläum nur dann angemessen, wenn wir es nicht in einer antikatholischen Haltung feiern. Amen.

Musik

Unser Vater im Himmel!

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen.

Lied 704 (3x): „O ma joie et mon espérance.“

Mitteilungen

Lied 329: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus.“

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Gott segne euch und behüte euch. Gott lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Gott wende euch sein Antlitz zu gebe euch und auch mir Frieden. Amen.

Musik

[1] Karl Barth: Predigten 1911. Zürich, 2015, S. 361,

[2] Karl Barth: Predigten 1914. Zürich, 1974, S. 436 f.

[3] Nach: Frank Jehle: Grosse Frauen der Christenheit. Freiburg (Schweiz), 1998, S. 58.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda.

[6] Nach: A. a. O., S. 71 f.

[7] Nach: A. a. O., S. 69 f. (Hervorhebung von F. J.)

[8] Nach: Heinrich Fausel, D. Martin Luther. Leben und Werk 1483 bis 1521. München / Hamburg 1966. S. 68.

[9] Nach: A. a. O., S. 70.

[10] Nach: A. a. O., S. 73.

[11] Ebenda.

 

Hinweis: Voraussichtlich im Frühjahr 2021 erscheint unter dem Titel „Verkündigung ist kein Monolog: Kunst- und Themapredigten für heute“ ein Predigtband mit Kunstpredigten von Frank Jehle beim TVZ.

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